Welche sicherheitspolitisch und menschenrechtlich relevanten internationalen Verträge wurden auf dem europäischen Kontinent seit Ende des Kalten Krieges gebrochen? Und von wem? Welche Zusagen machten die westlichen Staaten gegenüber Russland mit Blick auf eine Osterweiterung der Nato?
Der Streit um all diese Fragen spielte schon im letzten Vierteljahrhundert vor Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine Ende Februar immer wieder eine Rolle. Streitgegenstand sind sowohl die Uno-Charta von 1945 und andere global gültige Verträge als auch Abkommen zwischen Staaten auf dem europäischen Kontinent seit der 1975 vereinbarten KSZE-Schlussakte von Helsinki.
Die für alle 193 Uno-Mitgliedstaaten völkerrechtlich verbindliche Gründungscharta von 1945 legt die «souveräne Gleichheit» aller Staaten, ihre «territoriale Unverletzlichkeit» sowie das Verbot der «Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten» als Grundprinzipien für die Völkerrechtsordnung fest.
Die Charta bestimmt zudem, wer unter welchen Bedingungen militärische Gewalt anwenden darf (Recht zum Krieg, jus ad bellum). Mit Artikel 2,4 der Charta wurde erstmals in der Geschichte die zwischenstaatliche «Androhung und Anwendung von Gewalt» verboten.
Russland hat mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine eindeutig gegen alle diese Bestimmungen verstossen und damit das Völkerrecht gebrochen. Die Regierung Putin bezeichnet und verharmlost diesen Krieg als «spezielle militärische Operation» oder gar als «Friedensmission». Er rechtfertigte den Krieg mit den Propagandabehauptungen, seine Streitkräfte müssten einen «Völkermord» der ukrainischen Armee an der russisch-stämmigen Bevölkerung im Donbass verhindern und «ein Naziregime von der Macht in Kiew» entfernen, das «den Besitz von Atomwaffen» anstrebe.
Die Blockade im Uno-Sicherheitsrat
Doch das alles ist für die völkerrechtliche Beurteilung irrelevant. Selbst wenn eine oder gar alle drei dieser Behauptungen Putins zuträfen, dürfte Russland nicht militärisch eingreifen ohne ausdrückliche Ermächtigungsresolution durch den Uno-Sicherheitsrat. Er trägt laut Uno-Charta die «Hauptverantwortung», die «Bedrohung oder den Bruch des Friedens und der internationalen Sicherheit» durch ein Mitgliedsland festzustellen und dann Massnahmen zur Beendigung dieses Völkerrechtsverstosses zu ergreifen, bis hin zu politischen, wirtschaftlichen oder gar militärischen Sanktionen.
Ein Resolutionsentwurf mit der Feststellung und Verurteilung des russischen Völkerrechtsbruchs erhielt am 24. Februar im Uno- Sicherheitsrat mit 11 Ja-Stimmen und 3 Enthaltungen zwar die für eine Annahme erforderliche Mehrheit von mindestens 9 der 15 Ratsmitglieder. Er scheiterte aber am Nein der ständigen Vetomacht Russland.
Wegen dieser Blockade des Sicherheitsrates verurteilte die Uno-Generalversammlung am 1. März in einer Resolution die «Aggression gegen die Ukraine» mit einer knappen Dreiviertelmehrheit von 141 ihrer Mitglieder bei 5 Gegenstimmen und 35 Enthaltungen.
Im März 2014 hatte die Uno- Generalversammlung mit 100 gegen 11 Stimmen bei 58 Enthaltungen auch Russlands Annexion der Krim als Verstoss gegen die Prinzipien der Uno- Charta eingestuft und das Referendum vom 16. März 2014 über eine Abspaltung der Krim von der Ukraine für «ungültig» erklärt.
Völkerrechtswidriger Krieg gegen Serbien
Falsch ist die von den Regierungen der 33 Mitgliedstaaten von Nato und EU verbreitete Behauptung, der russische Krieg gegen die Ukraine sei «der erste Verstoss gegen die Uno-Charta» seit Ende des Kalten Krieges und «der erste Versuch zur gewaltsamen Veränderung der Grenzen souveräner Staaten». Diese Pandorabüchse hatte die Nato bereits 1999 geöffnet mit ihrem ebenfalls völkerrechtswidrigen Luftkrieg gegen Serbien und Montenegro und der damit erzwungenen Abspaltung des Kosovo von Serbien.
Damals gab es im Unterschied zum aktuellen Ukrainekrieg im Sicherheitsrat nicht einmal den Versuch einer Resolution. Denn bei der damaligen Zusammensetzung schien die zur Annahme mindestens erforderliche Mehrheit von 9 Ja-Stimmen aussichtslos. Zudem drohte ein sicheres Veto der drei Nato-Staaten USA, Frankreich und Grossbritannien. Daher fand in der Generalversammlung keine Debatte statt. Bis heute haben nur 115 der 193 Uno-Staaten den Kosovo als Staat anerkannt. Er ist damit kein Mitglied der Weltorganisation.
Die Nato-Staaten bezeichnen bis heute ihren damaligen Krieg als angeblich auch ohne Mandat des Sicherheitsrates gerechtfertigte «humanitäre Intervention», um einen «Völkermord» der Serben an den Albanern im Kosovo zu beenden.
Diese Rechtfertigung ist völkerrechtlich unhaltbar. Es gab 1998/99 zwar schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen der Serben gegenüber den Albanern im Kosovo, aber ein Völkermord gemäss Uno-Konvention fand nicht statt. Weder im Kosovo noch im Donbass wurden «Handlungen begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören».
Völkermord in Srebrenica – Akten unter Verschluss
Das war allerdings vier Jahre zuvor im bosnischen Srebrenica der Fall. Im Juli 1995 eroberten nationalistische bosnisch-serbische Milizen unter der Führung von General Ratko Mladic sowie mit militärischer Unterstützung der serbischen Regierung die Uno-Schutzzone Srebrenica und ermordeten in der Folge rund 8000 muslimische Einwohner der Stadt. Das war der grösste Völkermord auf europäischem Boden seit dem Holocaust.
Die Frage, warum die Nato- Luftstreitkräfte damals nicht eingriffen zur Abwehr der Angriffe auf die Uno-Schutzzone, wird bis heute von den Regierungen in Washington und anderen Nato- Hauptstädten nicht beantwortet – obwohl die Spitzen von Uno und Nato bereits im Februar 1993 in Genf ein Beistandsverfahren vereinbart hatten.
Geheimdiensterkenntnisse und Regierungsdokumente, die hier Aufschluss geben könnten, unterliegen bis heute der Geheimhaltung. Die nach dem Völkermord von Srebrenica geäusserte Befürchtung, im Kosovo drohe den Albanern ebenfalls ein Völkermord, war völkerrechtlich keine akzeptable Rechtfertigung für den Luftkrieg der Nato gegen Serbien und Montenegro im Frühjahr 1999.
Die Menschenrechtsverletzungen der Serben an den Albanern hätten sich auch durch einen vom Uno-Sicherheitsrat mandatierten Einsatz von Blauhelmtruppen der Uno beenden lassen. Doch ein entsprechender Vorschlag des Nato- Botschafters der USA, Alexander Verschbow, vom Oktober 1998 an seine Regierung in Washington landete dort im Papierkorb des Aussenministeriums.
Die Definition von Völkermord umfasst alle Handlungen, die in der Absicht begangen werden, «eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören». Diese Definition stammt aus der «Konvention zum Verbot und der Bestrafung des Genozids», welche die Uno-Mitgliedstaaten 1948 unter dem Eindruck der Vernichtung von über sechs Millionen Juden durch Nazi-Deutschland vereinbarten.
Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht
Im Unterschied zur Uno-Charta enthält das «humanitäre Völkerrecht» oder «Kriegsvölkerrecht» auch Regeln für das Verhalten im Krieg (jus in bellum). Die wichtigsten Bestimmungen stehen in den vier Genfer Konventionen von 1949 – darunter vor allem das ausdrückliche Verbot, im Krieg gegen Zivilisten und gegen zivile Ziele vorzugehen. Gegen diese Bestimmungen verstösst Russland im Krieg gegen die Ukraine in grossem Umfang. Das Gleiche trifft – wenn auch in geringerem Ausmass – auf die Nato im Kosovo-Krieg zu.
Zum Abschluss einer «Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa» (KSZE), die 1975 auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges in Helsinki stattfand, bekräftigten die 35 Teilnehmerstaaten in einer «Schlussakte» die Grundprinzipien der Uno-Charta und bekannten sich ausdrücklich zum «Gewaltverzicht» und zur «friedlichen Beilegung» von Konflikten auf dem europäischen Kontinent. Konferenzteilnehmer waren die damals 16 Nato-Mitglieder, die 7 Mitglieder der von der Sowjetunion angeführten «Warschauer Vertragsorganisation» sowie 12 neutrale Staaten, darunter die Schweiz.
Erneut bekräftigt wurden diese Prinzipien in der «Pariser Charta für ein neues Europa», welche die Staats-und Regierungschefs der 35 KSZE-Staaten im November 1990 – ein Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer – auf einem Gipfeltreffen in der französischen Hauptstadt verabschiedeten. In ihren Referaten versprachen alle 35 Teilnehmer des Pariser Gipfeltreffens, die KSZE gemäss der Vorstellung des damaligen sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow vom «Gemeinsamen Haus Europa» zu einem kollektiven Sicherheitssystem mit Russland als gleichberechtigtem Partner auszubauen und sie dafür entsprechend politisch, finanziell, personell und logistisch zu stärken. Die KSZE müsse «zum Herzstück der europäischen Architektur werden», erklärte der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl.
Die Zahl der KSZE-Mitgliedstaaten erhöhte sich seither auf 57 – infolge des Endes der Sowjetunion im Dezember 1991, der Aufteilung der Tschechoslowakei in zwei Staaten und des Zerfalls Jugoslawiens. Bereits vor dem Pariser Gipfel vom November 1990, mit dem das Ende des über vier Jahrzehnte währenden Kalten Krieges besiegelt werden sollte, wurden die in der Uno-Charta und in der KSZE-Schlussakte verankerten Prinzipien auch in den «2+4-Vertrag zur Wiedervereinigung Deutschlands» aufgenommen, den im September 1990 die BRD und die DDR mit ihren vier Ex-Besatzungsmächten und Siegerstaaten des Zweiten Weltkriegs USA, Sowjetunion, Frankreich und Grossbritannien mit völkerrechtlicher Gültigkeit abschlossen.
Auch gegen diesen Vertrag sowie gegen die KSZE-Schlussakte und die Pariser Charta haben sowohl Russland mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine und der Annexion der Krim als auch die Nato-Staaten mit dem Kosovo- Krieg von 1999 verstossen. Beide Seiten halten sich das bis heute gegenseitig vor, erkennen die eigenen Verstösse aber nicht an.
Nato-Erweiterung statt kollektive Partnerschaft
Die KSZE erhielt nach dem Pariser Gipfel zwar einige ständige Institutionen und operative Kompetenzen und wurde 1994 umbenannt in «Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa» (OSZE).
Doch der in Paris versprochene Ausbau zu einem kollektiven Sicherheitssystem mit Russland als gleichberechtigtem Partner fand nicht statt. Im Gegenteil: Die 16 Nato-Staaten nahmen ab 1999 in fünf Erweiterungsrunden bis zum Jahr 2020 insgesamt 14 osteuropäische Staaten als neue Mitglieder auf – darunter die 3 ehemaligen baltischen Republiken der früheren Sowjetunion. 2008 beschloss der Nato-Gipfel in Bukarest auf Drängen der USA zudem, «dass die Ukraine und Georgien Mitglied der Nato werden».
Russland kritisiert diese Nato- Erweiterung als Bruch von Zusagen, die der sowjetischen Führung um Präsident Gorbatschow im Frühjahr von westlicher Seite gemacht wurden im Gegenzug für deren Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung.
Westliche Politiker, Diplomaten und Medien – insbesondere in Deutschland – bestreiten derartige Zusagen. Oder es wird behauptet, die Zusage, die Nato nicht nach Osten zu erweitern, habe sich nur auf das Territorium der damaligen DDR bezogen, nicht aber auf Polen und andere Ex-Verbündete der Sowjetunion. Im Übrigen habe Moskau der Nato-Osterweiterung 1990 im 2+4-Vertrag und in der Pariser Charta sowie in der 1997 vereinbarten Nato-Russland-Grundakte «ausdrücklich zugestimmt».
Diese westlichen Dementis und Behauptungen sind nachweislich falsch. Der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl und sein Aussenminister Hans Dietrich Genscher sowie dessen US-Amtskollege James Baker haben in ihren Moskauer Gesprächen mit Gorbatschow und dessen Aussenminister Eduard Schewardnadse vom 8. bis 10. Februar 1990 eindeutig die von Russland reklamierten Zusagen gemacht. Das belegen zahlreiche Dokumente, Geprächsprotokolle und Aktennotizen aus dem Nationalen Sicherheitsarchiv in Washington sowie dem deutschen Aussenministerium, die seit 2015 von der Geheimhaltung befreit wurden.
Am Tag seiner Rückkehr von Moskau flog Aussenminister Genscher zusammen mit dem Autor dieses Artikels und zwei weiteren Journalisten von Bonn zu einer KSZE-Konferenz im kanadischen Ottawa. Auf diesem Flug berichtete Genscher im Detail über die Gespräche in Moskau und erwähnte ausdrücklich die von ihm, Kohl und Baker gemachte Zusage, die Nato «keinen Fussbreit» nach Osten auszudehnen.
US-Regierungen täuschten Boris Jelzin
Die Dokumente aus den Archiven in Washington belegen zudem, dass die Administrationen der US-Präsidenten George Bush und Bill Clinton den russischen Präsidenten Boris Jelzin in den Jahren 1991 bis 1999 darüber täuschten, dass sie über die damals von der Nato initiierten «Partnerschafts-Beziehungen» mit den Staaten Osteuropas hinaus die formale Vollmitgliedschaft dieser Länder in der bis dato rein westlichen Militärallianz anstrebten.
Am 5. Februar 1997 warnte der US-Diplomat und Historiker George Kennan, Begründer der US-Doktrin der «Eindämmung» gegen die kommunistische Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Artikel der «New York Times», «eine Erweiterung der Nato wäre der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Ära nach dem Kalten Krieg». Kennan schrieb: «(Es ist) zu erwarten, dass eine solche Entscheidung die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der russischen Meinung anheizen wird; dass sie negative Auswirkungen auf die Entwicklung der russischen Demokratie haben wird; und dass sie die Atmosphäre des Kalten Krieges in die Ost-West-Beziehungen zurückbringen und die russische Aussenpolitik in Richtungen treiben wird, die uns entschieden missfallen werden.»
Diese 25 Jahre alten Warnungen und Prophezeiungen hat Putin mit seinem verheerenden Krieg gegen die Ukraine auf brutale Weise bestätigt.