Die einen sprachen von einem «starken politischen Zeichen», die anderen von einem Rütteln an der Gewaltentrennung: Anfang Juni verabschiedete der Ständerat eine Erklärung zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall der Klimaseniorinnen. In dieser forderte er den Bundesrat auf, das Ministerkomitee des Europarats darüber zu informieren, dass die Schweiz keinen Anlass sehe, dem Urteil «weitere Folge zu geben».
Der Nationalrat zog eine Woche später nach. Der emeritierte Staatsrechtsprofessor René Rhinow bezeichnete die Erklärung des Ständerats gegenüber den CH-Media-Zeitungen als «rechtsstaatlich problematisch, aussenpolitisch dumm und inhaltlich auf wackeligen Beinen».
In seinem Urteil im Fall Klimaseniorinnen hielt der EGMR am 9. April fest, dass es die Schweizer Behörden bis anhin versäumt hätten, wirksame Massnahmen gegen den Klimawandel zu ergreifen. Weder hätten sie festgelegt, wie viel CO2 die Schweiz verbrauchen dürfe, um die Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaschutzabkommen zu erfüllen. Noch habe die Schweiz ihre selbst gesetzten Ziele zur Verringerung der Treibhausgasemissionen erreicht.
Die Schweiz habe damit das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäss Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt. Weiter habe die Schweiz gegen Artikel 6 der Konvention verstossen, weil sie sich unzureichend mit dem Vorbringen des Vereins Klimaseniorinnen auseinandergesetzt habe und so in dessen Recht auf Zugang zu einem Gericht eingriff.
Der Fall wurde vor der Grossen Kammer des EGMR verhandelt, der 17 Richter angehören. Die Verletzung von Artikel 8 EMRK stellte die Grosse Kammer mit 16 zu 1 Stimmen fest, bei der Frage der Verletzung von Artikel 6 EMRK herrschte Einstimmigkeit.
Das EGMR-Urteil wurde von rechtsbürgerlicher Seite heftig kritisiert, aber nicht nur: Im Ständerat gehörte der Zürcher Strafrechtsprofessor Daniel Jositsch (SP) zu den glühendsten Befürwortern der Erklärung. Und in einem Interview mit der «Sonntagszeitung» übte auch die frühere Bundesrichterin Brigitte Pfiffner Kritik. Pfiffner gehörte einst den Demokratischen Juristen an und ist immer noch Mitglied der Grünen – «aus Überzeugung», wie sie sagt.
Einen der Hauptkritikpunkte Pfiffners betrifft die Frage der Beschwerdelegitimation: Der EGMR hatte vier Mitgliedern des Vereins den erforderlichen Opferstatus gemäss Artikel 34 der Menschenrechtskonvention abgesprochen. Sie seien nicht in der erforderlichen hohen Intensität von den nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels betroffen, und es fehle an der Notwendigkeit, ihren individuellen Schutz sicherzustellen. Dem Verein Klimaseniorinnen hat der EGMR die Beschwerdebefugnis hingegen zuerkannt.
«Urteil vom Ergebnis her gedacht»
«Diese Logik erschliesst sich mir nicht: Eine Legitimation des Vereins wird bejaht, obwohl die einzelnen Mitglieder nicht betroffen sind», sagt Pfiffner. Diese Argumentation zeige, dass der EGMR sein Urteil vom Ergebnis her gedacht habe. «Das widerspricht meiner richterlichen Ethik.»
Der Zürcher Rechtsanwalt Viktor Györffy, der einige Fälle vor dem EGMR führt, räumt ein, dass der Gerichtshof in der Frage der Beschwerdelegitimation einen «speziellen Weg» gegangen sei. Die Schlussfolgerung des Menschenrechtsgerichtshofs bezeichnet er als «pragmatisch»: «Der EGMR wollte verhindern, dass er künftig mit Klimaklagen von Einzelpersonen überschwemmt wird. Zugleich wollte er in Klimafragen das Recht auf eine wirksame Beschwerde laut Menschenrechtskonvention gewährleisten.»
Rechtsanwältin Cordelia Bähr vertrat die Klimaseniorinnen vor dem EGMR. Sie hätte ihnen als Einzelklägerinnen mehr Erfolgschancen attestiert als dem Verein, sagt sie gegenüber plädoyer. So seien die älteren Frauen im Verfahren aufgetreten, weil sie bei Hitzewellen gemäss Studien ein deutlich höheres Sterberisiko hätten als Jüngere. Und weil sie unter konkreten, negativen gesundheitlichen Auswirkungen litten und diese mit Arztzeugnissen belegen konnten. Der EGMR habe in seinem Urteil den Einzelklägerinnen auch eine besondere Anfälligkeit attestiert. Dies habe aber nicht ausgereicht, um die neuen, strengen Voraussetzungen für die Beschwerdelegitimation zu erfüllen.
Neuer Weg im Umgang mit Verbandsbeschwerde
Helen Keller, Völkerrechtsprofessorin an der Universität Zürich und einst EGMR-Richterin, bezeichnet den Entscheid gerade im Zusammenhang mit der Beschwerdelegitimation als «bahnbrechend und auch sehr mutig». Er sprenge das schweizerische Verständnis des Verbandsbeschwerderechts: In der Schweiz kenne man nur das Konzept einer egoistischen und einer ideellen Verbandsbeschwerde.
Bei der egoistischen Verbandsbeschwerde klagt ein Verband stellvertretend für seine Mitglieder, wobei jedes Verbandsmitglied oder zumindest eine grosse Zahl theoretisch selbst zur Beschwerde legitimiert sein muss. Bei der ideellen Verbandsbeschwerde ist dies nicht Voraussetzung, jedoch muss die Beschwerdelegitimation der Verbände gesetzlich geregelt sein, etwa im Umweltschutzgesetz.
Der Menschenrechtsgerichtshof habe mit dem Klimaseniorinnen-Urteil nun eine dritte Art der Verbandsbeschwerde hinzugefügt. Unter anderem ist diese zulässig, wenn Vereinigungen eines der zugänglichen Mittel oder gar das einzige Mittel sind, um Betroffenen in komplexen Sachverhalten bei der Verteidigung ihrer Interessen zu helfen. Oder wenn kollektives Handeln durch Vereinigungen das einzige Mittel sein kann, um künftigen Generationen Gehör zu verschaffen.
«Der EGMR anerkennt, dass Nichtregierungsorganisationen beim Menschenrechtsschutz eine immer wichtigere Rolle zukommt, gerade wenn es um Klimafragen geht», sagt Keller. Die EGMR-Argumentation zur Beschwerdelegitimation sei strategisch: Der Gerichtshof habe im Klimabereich sehr strenge Anforderungen an die Beschwerdemöglichkeit für Einzelpersonen und damit eine Art Rechtsschutzlücke geschaffen.
Gesetzesartikel wird «konturlos und ausufernd»
«Die neue Art des Verbandsbeschwerderechts kompensiert die strengen Anforderungen bei den Einzelpersonen ein Stück weit.» Dass dieser Kunstgriff Kritik auslöse, kann Keller nachvollziehen, doch dürfe man nicht einfach vom schweizerischen Verständnis des Verbandsbeschwerderechts ausgehen. «Der EGMR muss tragfähige Lösungen für alle 46 Mitgliedstaaten finden», sagt sie.
Ein weiterer Kritikpunkt betraf die Tatsache, dass der EGMR im Klimaseniorinnen-Urteil das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäss Artikel 8 EMRK durch den Klimawandel bedroht sah. Der Bestimmung zufolge hat «jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz». Anlässlich der Debatte im Ständerat von Anfang Juni sagte Daniel Jositsch, dass die ständerätliche Kommission für Rechtsfragen nicht anerkenne, dass unter den Artikel auch Massnahmen gegen die Klimakrise subsumiert werden können.
Auch Brigitte Pfiffner findet es «abenteuerlich», dass der Gerichtshof durch den Klimawandel das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt sieht. «Wenn man auf diese Weise argumentiert, kann unter diese Bestimmung so gut wie alles subsumiert werden. Artikel 8 EMRK wird so konturlos und ausufernd.» Die Urteile des EGMR böten damit keine Orientierung mehr – und dies, so Pfiffner, widerspreche einem Zweck der Rechtsprechung.
Der EGMR baut seine Begründung auf der Schutzpflicht der Staaten in Umweltangelegenheiten auf. Dass es eine solche gibt, hat der EGMR in ständiger Rechtsprechung anerkannt – etwa bei Schlammlawinen oder Erdbeben. In seinem Urteil vom 9. April hält der Gerichtshof nun fest, dass es auch im Zusammenhang mit dem Klimawandel eine solche Schutzpflicht gebe. Dies weil zwischen den nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels und der Achtung von Menschenrechten ein Zusammenhang bestehe.
Ein wirksamer Schutz enthalte die Pflicht, die Erderwärmung auf maximal 1,5 Grad Celsius zu begrenzen – in Übereinstimmung mit Verpflichtungen wie dem Pariser Klimaabkommen und wissenschaftlichen Erkenntnissen, vor allem des Uno-Weltklimarats. Dazu habe jeder Staat einen gerechten Anteil zu leisten. Was dieses Ziel betrifft, so sei der Ermessensspielraum gering. In der Wahl der konkreten Mittel hätten die Staaten derweil einen weiten Ermessensspielraum.
Rechtsanwältin Bähr ergänzt, die Seniorinnen hätten vom Gericht «spezifische Vorgaben» verlangt. «Sie forderten, dass der Gerichtshof der Schweiz konkrete Emissionsreduktionsvorgaben machen soll. Dem ist er nicht gefolgt.»
Ein Weckruf für das Bundesgericht
Pfiffner kritisiert am Strassburger Urteil auch, dass es sich auf «soft law» wie das Pariser Klimaabkommen stütze. Für Keller ist dieses Abkommen aber nicht einfach «soft law». «Es ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der die Staaten dazu verpflichtet, ihre CO2-Reduktionsziele festzulegen. Sobald sie das getan haben, sind diese verbindlich.»
Keller findet nicht, dass der EGMR das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ausufernd interpretiert hat: «Der EGMR führt seine Rechtsprechung kohärent weiter.» Zudem hätten die höchsten nationalen Gerichte vieler Länder wie Deutschland, Frankreich, Belgien oder der Niederlande eine Schutzpflicht im Zusammenhang mit der Klimaerwärmung längst bejaht.
Das Strassburger Urteil ist für Keller ein Weckruf für alle höchsten Gerichte, die den Entscheid über Klimafragen mit Hinweis auf «Unzuständigkeit» einfach abgeschmettert hätten – und damit auch für das Bundesgericht.