Die Situation für die über 50-jährigen Arbeitnehmer verschärft sich zunehmend. Dies ist auf zwei Faktoren zurückzuführen: einerseits auf die demografische Entwicklung und auf den mit der Globalisierung einhergehenden steigenden Wettbewerbs- und Kostendruck der Unternehmen – was in der Regel zu einem Personalabbau und zur Verlagerung der Arbeitsplätze ins billigere Ausland führt. Andererseits aber auch auf die Zuwanderung billiger und jüngerer Arbeitskräfte aus dem Ausland infolge der Personenfreizügigkeit.
Seit dem Jahr 2000 ist eine markante Zunahme der über 50-jährigen Erwerbslosen (Arbeitslose und Ausgesteuerte) festzustellen. So waren gemäss Erwerbslosenstatistik des Bundesamts für Statistik im Jahr 2000 nur rund 20 000 über 50-Jährige erwerbslos. Bis Ende 2017 stieg diese Zahl bereits auf über 56 000 an (Quellenangaben im PDF). Das entspricht einer Zunahme von 37 000 Personen – also in etwa der Einwohnerzahl der Stadt Schaffhausen oder Chur. Mit einem weiteren Anstieg ist zu rechnen, zumal die sogenannten Baby-Boomer (1955–1969) immer älter werden. Im Jahr 2020 wird es mehr Menschen im Alter von 45 bis 64 (2 064 000) als von 25 bis 44 (1 981 000) geben.
Bezüglich der Langzeitarbeitslosigkeit (Arbeitslosigkeit von über einem Jahr) ist bei der Generation 50+ im Vergleich zum Jahr 2008 eine Zunahme um 3808 Langzeitarbeitslose zu verzeichnen (2008: 6491; 2017: 10 299), was rund 37 Prozent entspricht. Bei dieser Altersklasse beträgt der Anteil der Langzeitarbeitslosen bereits rund 44 Prozent. Das Seco weist zu Recht darauf hin, dass die Folgen für die Langzeitarbeitslosen gravierend sind. Sie manifestieren sich durch sinkende Erwerbschancen, Lohneinbussen bei einer neuen Stelle und teilweise auch durch gesundheitliche und soziale Probleme. Nach Ansicht vieler Arbeitgeber gelten ältere Angestellte infolge der höheren Lohnkosten, der Arbeitgeber-Pensionskassenbeiträge (Beitragssätze bis zum Alter 34 = 3,5 Prozent; bis 44 = 5 Prozent; bis 54 = 7,5 Prozent, ab 55 = 9 Prozent) sowie der höheren Anzahl Ferienwochen als zu teuer. Ferner hält sich hartnäckig das Vorurteil, sie seien weniger leistungsfähig und motiviert sowie zu schwerfällig und zu wenig «weitergebildet». Der Arbeitsplatzverlust trifft die über 55-Jährigen besonders hart. Erfahrungsberichte zeigen, dass die Art und Weise, wie gekündigt wird, einen entscheidenden Einfluss auf die Bewältigung der Kündigungssituation und damit auch auf den Verlauf der Neuorientierung hat. Oft wird die Kündigung in diesem Alter als besonders demütigend empfunden. Sie nagt am Selbstbewusstsein und fördert bei den entlassenen älteren Arbeitnehmern die Selbstzweifel.
In der schweizerischen Rechtsordnung bestehen sehr wenige Schutznormen zugunsten älterer Arbeitnehmer – hauptsächlich im Arbeitslosenversicherungsrecht. Arbeitslose mit einem Alter von mindestens 55 Jahren erhalten mit 520 Taggeldern eine höhere Arbeitslosenunterstützung im Vergleich zu den jüngeren Arbeitslosen mit nur 400 bzw. 260 Taggeldern. Männliche Arbeitslose ab dem 61. und weibliche Arbeitslose ab dem 60. Altersjahr erhalten sodann durch die Gewährung von zusätzlichen 120 Taggeldern eine nochmalige Privilegierung. Ferner sieht die Arbeitslosenversicherung vor, Beiträge an die Einarbeitung von Arbeitslosen in neue Betriebsfelder auszurichten und mittels Reduktion der Lohnkosten (sogenannte Einarbeitungszuschüsse) die Arbeitgeber zur Beschäftigung von älteren Arbeitskräften zu motivieren. Unter diese Kategorie fallen insbesondere versicherte Personen von über 50 Jahren.
Die Abgangsentschädigungsnorm von Art. 339b Abs. 1 OR, die den Arbeitgeber verpflichtet, über 50-jährigen Angestellten nach zwanzig Dienstjahren eine Abgangsentschädigung von mindestens zwei Monatslöhnen auszurichten, hat seit dem Inkrafttreten des Obligatoriums mit dem Gesetz über die berufliche Vorsorge (BVG) stark an Bedeutung verloren. Sodann besteht bei Arbeitgebern und Angestellten eine erhebliche Rechtsunsicherheit darüber, was bei der Entlassung älterer Mitarbeiter zu beachten ist. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass das Bundesgericht in einem wegweisenden Urteil aus dem Jahr 2014 zahlreiche Fragen ungeklärt liess. Gemäss diesem Urteil gilt für diese Kategorie von Arbeitnehmenden eine erhöhte Fürsorgepflicht (vgl. hierzu nachstehend).
Aufgrund der geschilderten Ausgangslage und der zurzeit geführten politischen Diskussion über eine Erhöhung des Rentenalters ist es offenkundig, dass ein dringender Handlungsbedarf besteht, ältere Arbeitnehmer vermehrt zu schützen. Nachstehend wird aufgezeigt, dass ein solcher Schutz auf verschiedene Weise erreichbar ist. Einerseits durch Massnahmen, die darauf abzielen, die Arbeitgeber zur Anstellung von über 55-Jährigen zu motivieren, andererseits durch solche, mit denen Kündigungen vermieden oder deren Folgen gemildert werden.
Vorschlag 1: Steuerbonus für Arbeitgeber bei Anstellung von Erwerbslosen über 55 Gemäss den Steuergesetzen haben Unternehmen die Möglichkeit, geschäftsmässig begründeten Aufwand vom Ertrag abzuziehen und damit die Gewinnsteuern zu reduzieren. Da die juristischen Personen und namentlich die KMUs – die immerhin 99 Prozent aller in der Schweiz tätigen Betriebe ausmachen und zwei Drittel der Arbeitsplätze stellen – ein grosses Interesse an tiefen Steuern haben, plädiere ich für die Einführung eines Anreizes im Sinne einer steuerlichen Entlastung der Arbeitgeber mittels Vornahme eines sogenannten «Altersabzugs» bei der Neuanstellung eines über 55-jährigen Erwerbslosen (Arbeitslose/Ausgesteuerte).
Unternehmen sollten die Möglichkeit haben, in ihren Steuererklärungen im Falle einer Anstellung von über 55-jährigen Erwerbslosen als geschäftsmässig begründeten Aufwand einen «Altersabzug» in der Höhe von beispielsweise 20 000 Franken vorzunehmen. Das hätte eine Steuerersparnis von rund 5000 Franken zur Folge. Dies für die Dauer der dem Einstellungsjahr folgenden zwei Jahre. Dieser steuerliche Anreiz stellt eine Massnahme dar, die Unternehmen motivieren soll, über 55-Jährige anzustellen und zu beschäftigen. Der positive Nebeneffekt besteht darin, dass hierdurch einerseits die Arbeitslosenkassen bzw. die Sozialbehörden (bei den Ausgesteuerten) finanziell entlastet würden. Andererseits sind die Neueingestellten sozialabgabepflichtig und leisten ihren entsprechenden finanziellen Beitrag an die Sozialwerke.
Vorschlag 2: Zuschuss aus Arbeitslosenversicherung für über 55-Jährige
Als weiterer Anreiz für Arbeitgeber, über 55-Jährige anzustellen, käme die Einführung sogenannter «Anstellungszuschüsse» im Arbeitslosenversicherungsgesetz (AVIG) in Betracht. Diese könnten wie folgt ausgestaltet werden: Die Arbeitslosenversicherung übernimmt ab der Neuanstellung eines über 55-Jährigen für den Zeitraum von höchstens 12 Monaten 40 Prozent des Lohns. Wobei der Lohn nach oben zu begrenzen ist und dem maximalen versicherten Verdienst gemäss Art. 23 AVIG i.V.m. Art. 22 UVG entsprechen sollte (derzeit 12 350 Franken – 40 Prozent davon). Um den missbräuchlichen Bezug von Anstellungszuschüssen zu vermeiden, wäre als Voraussetzung eine minimale Dauer des Arbeitsverhältnisses von drei Monaten (entsprechend der Probezeitdauer gemäss Art. 335b Abs. 2 OR) vorzusehen.
Der postulierte Anstellungszuschuss lehnt sich an den bereits im heutigen Arbeitslosenversicherungsrecht vorgesehenen sogenannten «Einarbeitungszuschuss» an. Letzterer wird nur für die Einarbeitung eines branchenfremden Erwerbslosen gewährt. So haben die Arbeitgeber die Möglichkeit, Einarbeitungszuschüsse bei den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) für über 50-Jährige und damit für «Versicherte, deren Vermittlung erschwert ist», zu beantragen (Art. 65 und 66 AVIG; Art. 90 Abs. 1 lit. a AVIV: «in fortgeschrittenem Alter steht»). Die Arbeitslosenversicherung übernimmt hierbei in den ersten sechs Monaten 60 Prozent des Lohnes und vom 7. bis zum 12. Monat 40 Prozent. Diese Einarbeitungszuschüsse sollen Arbeitgeber dazu motivieren, insbesondere ältere Arbeitnehmer zu beschäftigen mit dem Zweck, eine dauerhafte Eingliederung anzustreben. Angesichts der Tatsache, dass die durch die Einarbeitungszuschüsse wieder eingegliederten Arbeitslosen in 90 Prozent der Fälle definitiv angestellt werden, ist davon auszugehen, dass die Erfolgsquote bei den postulierten Anstellungszuschüssen ähnlich hoch sein würde. Eine wichtige Voraussetzung für die Gewährung von Einarbeitungszuschüssen ist die mangelnde berufliche Erfahrung für den Berufseinstieg. Mit anderen Worten: Für eine berufliche Einarbeitung von Personen mit Branchenkenntnissen werden heute keine Einarbeitungszuschüsse gewährt. Entlässt also beispielsweise die Firma XY einen 58-jährigen Sanitärinstallateur, kann die Firma Z, die diesen arbeitslosen Sanitärinstallateur für die gleiche Tätigkeit einstellen will, keine Einarbeitungszuschüsse verlangen, weil er eben nicht praxisfremd ist und deshalb keiner Einarbeitung bedarf. Angesichts der hohen Erfolgsquote bei den Einarbeitungszuschüssen und der zunehmenden Anzahl von erwerbslosen Personen ist zu postulieren, die zeitlich beschränkten Anstellungszuschüsse an all jene Arbeitgeber auszurichten, die über 55-jährige Erwerbslose einstellen.
Vorschlag 3: Verbleib in der Pensionskasse nach Ende des Arbeitsverhältnisses
Nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses scheidet der Arbeitnehmer aus der Pensionskasse aus. In einem solchen Fall kann er gemäss Art. 47 Abs. 1 BVG die Vorsorge oder bloss die Altersvorsorge im bisherigen Umfang bei derselben Vorsorgeeinrichtung nur dann weiterführen, wenn deren Reglement dies zulässt. Art. 47 Abs. 1 BVG ist eine «Kann-Vorschrift». Die Vorsorgeeinrichtung kann, muss aber nicht vorsehen, dass der gekündigte Arbeitnehmer im bisherigen Umfang bei ihr verbleibt.
Heute sieht die überwiegende Mehrzahl der Pensionskassenreglemente vor, dass ein entlassener Arbeitnehmer nicht mehr in der bisherigen Pensionskasse seines ehemaligen Arbeitgebers verbleiben kann. Dies stellt ein grosses Problem für ältere Entlassene dar: Sie können keine monatliche BVG-Altersrente ab dem Zeitpunkt ihrer Pensionierung beziehen, wenn sie sich nicht einer neuen Pensionskasse eines neuen Arbeitgebers anschliessen. Oder wenn sie die dreimonatige Anmeldefrist für den Beitritt zur Stiftung Auffangeinrichtung verpassen (vgl. hierzu nachstehend). Zwar hätte ein entlassener Arbeitnehmer grundsätzlich die Möglichkeit, sich ab dem vollendeten 58. Altersjahr frühpensionieren zu lassen, doch wird dies für viele Entlassene keine gute Option sein, da mit massiven Renteneinbussen zu rechnen ist. Wer sich frühpensionieren lässt, muss einen tieferen Umwandlungssatz für das obligatorische und überobligatorische Guthaben in Kauf nehmen. Wobei die Pensionskassen den Umwandlungssatz um etwa zwischen 0,15 und 0,2 Prozentpunkte pro Jahr kürzen. Beträgt der Umwandlungssatz bei der regulären Pensionierung zum Beispiel 6,8 Prozent, sinkt er auf 6,4 bis 6,5 Prozent, wenn man zwei Jahre früher aufhört.
Um den Schutz der Entlassenen im Hinblick auf deren berufliche Vorsorge (BVG-Altersrente) zu verbessern, muss Art. 47 Abs. 1 BVG insofern revidiert werden, als die bisherige Pensionskasse neu die Pflicht haben sollte, dem ausscheidenden über 55-jährigen Arbeitnehmer die Möglichkeit zum Verbleib in der bisherigen Pensionskasse einzuräumen.
Vorschlag 4: Zwölf Monate Zeit für den Übertritt in die Stiftung Auffangeinrichtung
Scheidet der entlassene ältere Mitarbeiter aus der bisherigen Pensionskasse aus und kann er sich nicht einer neuen Pensionskasse (eines neuen Arbeitgebers) anschliessen, hat er immerhin noch die Möglichkeit, seine Altersvorsorge (mit einer Altersrente) bei der Stiftung Auffangeinrichtung BVG freiwillig weiterzuführen. Dies ist jedoch nur im Umfang der obligatorischen Vorsorge gemäss Art. 8 BVG (maximal versicherter Jahreslohn) und somit nur bis 84 600 Franken möglich. Gemäss Art. 1 des Vorsorgereglements der Stiftung Auffangeinrichtung (Vorsorgeplan freiwillige Weiterführung der Gesamtvorsorge im Rahmen des BVG) muss sich der arbeitslose Arbeitnehmer, welcher aus der obligatorischen Vorsorge ausscheidet, innert drei Monaten nach Ausscheiden aus der obligatorischen Versicherung bei der Stiftung anmelden. Verpasst er diese Frist, ist eine Anmeldung gemäss Reglement nicht mehr möglich.
Dem Arbeitslosen entsteht hierdurch in zweifacher Hinsicht ein Nachteil: Einerseits kann er nur das BVG-Obligatorium gemäss Art. 8 BVG und Art. 3 des Vorsorgereglements versichern, nicht aber das Überobligatorium, was eine tiefere Altersrente zur Folge hat. Andererseits läuft er Gefahr, die sehr kurze dreimonatige Anmeldungsfrist zu verpassen. In einem solchen Fall kann er im Zeitpunkt seiner Pensionierung keine BVG-Altersrente mehr beziehen, sofern er sich nicht der Pensionskasse eines neuen Arbeitgebers anschliessen kann. Es ist daher die Einführung einer gesetzlichen zwölfmonatigen Frist für den Übertritt in die Stiftung Auffangeinrichtung zu postulieren. Diese gesetzliche Frist ist notwendig, damit der Stiftungsrat – der aus je fünf Vertretern der Arbeitgeberverbände und der Arbeitnehmerorganisationen und zwei Vertretern der öffentlichen Verwaltung besteht – die Frist nicht gemäss Art. 22 des Vorsorgereglements der Stiftung Auffangeinrichtung abändern kann. Damit wird das Risiko minimiert, die heutige kurze Anmeldefrist zu verpassen.
Vorschlag 5: Abschaffung Beitragssatz 18 Prozent für über 55-Jährige
Heute sind die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge an die berufliche Vorsorge in vier Stufen nach Alter gestaffelt. Der Beitragssatz beträgt laut Art. 16 BVG für 25- bis 34-Jährige total 7 Prozent, für 35- bis 44-Jährige 10 Prozent, für 45- bis 54-Jährige 15 Prozent und für 55- bis 64- bzw. 65-Jährige 18 Prozent. Die Beitragssätze sind paritätisch, d.h. der Arbeitgeberbeitrag muss mindestens gleich hoch sein wie die gesamten Beiträge des Arbeitnehmers, wobei es dem Arbeitgeber freigestellt ist, mehr zu übernehmen.
Die Arbeitgeberbeiträge sind daher bei den über 55-Jährigen mit 9 Prozent am höchsten und somit klar altersdiskriminierend. Dieser hohe Arbeitgeberbeitrag ist ein bedeutender Grund für Arbeitgeber, die über 55-Jährigen nicht anzustellen, da sie ihm als zu teuer erscheinen. Zu postulieren ist daher die Abschaffung der vierfachen Staffelung der Beitragssätze und namentlich die Abschaffung des hohen Beitragssatzes von 18 Prozent für über 55-Jährige.
Ein Lösungsansatz könnte darin bestehen, den vom Nationalrat im Rahmen der 2017 abgewiesenen Rentenreform gemachten Vorschlag wieder aufzunehmen. Der Nationalrat postulierte damals die Einführung von nur noch zwei Beitragssätzen von 9 Prozent (bis 44) und 13,5 Prozent für ab 45-Jährige.
Auch im Obligationenrecht drängen sich neue Schutzbestimmungen für ältere Angestellte auf.Das Bundesgericht hat 2014 in einem wegweisenden Urteil 22 festgehalten, dass gegenüber älteren Arbeitnehmern mit einer langen Dienstzeit eine erhöhte arbeitgeberische Fürsorgepflicht besteht. Es hielt Folgendes fest: «Daraus ist zu schliessen, dass bei älteren Arbeitnehmern der Art und Weise der Kündigung besondere Beachtung zu schenken ist. Er hat namentlich Anspruch darauf, rechtzeitig über die beabsichtigte Kündigung informiert und angehört zu werden, und der Arbeitgeber ist verpflichtet, nach Lösungen zu suchen, welche eine Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses ermöglichen.»
«Vorgängig der Kündigung vom 16. Februar 2010 mit sofortiger Freistellung wäre es deshalb an der Beschwerdeführerin (Arbeitgeberin) gewesen, ein entsprechendes Gespräch zu führen, den Beschwerdegegner (Arbeitnehmer) nachdrücklich auf die Folgen seiner Unterlassungen hinzuweisen und ihm mit Fristansetzung und Zielvereinbarung eine letzte Chance zu geben, seinen Aufgaben in genügendem Masse nachzukommen.»
Da derartige Verhaltens- bzw. Verfahrensnormen im Arbeitsprivatrecht (Obligationenrecht) fehlen, hat das Bundesgericht durch diese Rechtsprechung quasi die Funktion des Gesetzgebers übernommen (Art. 1 Abs. 1 ZGB: Der Richter als Gesetzgeber), obwohl die Festsetzung solcher Normen aufgrund des Gewaltenteilungsprinzips die klare Aufgabe der Legislative d.h. des Eidgenössischen Parlaments wäre. Das Fehlen von entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen und die teilweise unklare Rechtsprechung des Bundesgerichts bewirken im Arbeitsalltag bei den Arbeitgebern und Arbeitnehmern eine erhebliche Rechtsunsicherheit. Unbeantwortet bleiben insbesondere die folgenden Fragen:
Ab welchem Alter besteht die vom Bundesgericht festgelegte Pflicht zur Information, Anhörung und Lösungssuche? Schon ab 50, erst ab 55 oder gar erst ab 60?
Wie sind diese Pflichten im Einzelnen konkret auszugestalten?
Welche Lösungen kommen zur Aufrechterhaltung des Arbeitsplatzes in Frage?
Wie lange soll die vom Bundesgericht verlangte «letzte Chance», d.h. die Bewährungsfrist, dauern?
Aufgrund dieser unklaren Rechtslage ist zu fordern, dass die Vorgaben unseres höchsten Gerichts im Obligationenrecht (Art. 336) umgesetzt und konkretisiert werden. Abzulehnen ist m. E. die vereinzelt von Gewerkschaftsseite propagierte Forderung nach einem strikten Kündigungsschutz – wodurch Kündigungen von über 50-Jährigen massiv erschwert werden sollen. Sie widerspricht dem im schweizerischen Arbeitsvertragsrecht herrschenden Grundsatz der Kündigungsfreiheit. Zudem wäre ein derart spezieller Bestandesschutz politisch nicht durchsetzbar und sogar kontraproduktiv, da dieser allenfalls dazu führen könnte, dass entweder ältere Arbeitslose bzw. Ausgesteuerte überhaupt nicht mehr angestellt oder ältere Mitarbeiter kurz vor Erreichen der kritischen Altersgrenze entlassen würden.
Ab wann ein Arbeitnehmer als «alt» gilt, sagt das Bundesgericht im vorhin erwähnten Leitentscheid nicht. M. E. müsste aufgrund der einleitend geschilderten Situation die Grenze bei den über 55-jährigen Arbeitnehmern angesetzt werden.
Vorschlag 6: Information, Anhörung, Prüfung der Weiterbeschäftigung
Zu postulieren ist eine Ergänzung von Art. 336 OR, die regeln sollte, dass eine Arbeitgeber-Kündigung eines über 55-jährigen Arbeitnehmers u.a. dann missbräuchlich ist, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer vor einer beabsichtigten Kündigung nicht angehört und mit ihm nicht nach Lösungen gesucht hat, die eine Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses ermöglichen.
Als solche im OR zu erwähnende Lösungen kämen namentlich in Betracht: die ernsthafte Suche nach einer neuen zumutbaren Tätigkeit im Betrieb, eine Reduktion des Arbeitspensums von maximal 20 Prozent oder eine Lohnreduktion von maximal 15 Prozent. Eine anderweitige Tätigkeit im Betrieb wäre dann zumutbar, wenn sie die Fähigkeiten und die bisherige Tätigkeit der betroffenen Person angemessen berücksichtigt.
Lehnt der betroffene Mitarbeiter solche Lösungsvorschläge ab, darf ihm sanktionslos gekündigt werden. Zu beachten ist, dass das Bundesgericht bereits in einem Entscheid aus dem Jahr 2008 eine ähnliche Frage aufgeworfen hat, nämlich jene, ob der Arbeitgeber einen Arbeitnehmer, der den technischen Anforderungen seines Berufes nicht mehr gewachsen war, ohne weiteres entlassen darf oder zuerst abklären muss, ob er ihn auf eine andere Weise im Unternehmen beschäftigen kann.
Das Bundesgericht beantwortete die Frage nicht klar, was zu Rechtsunsicherheit führte. Eine bestimmte Klärung dieser Frage brachte ein weiteres Bundesgerichtsurteil aus dem Jahr 2014, das festhielt, dass der Arbeitgeber aufgrund seiner Fürsorgepflicht gehalten gewesen wäre, dem entlassenen (depressiven) Lebensmittelverkäufer eine Ersatzstelle in einer anderen Filiale anzubieten.
Vorschlag 7: Letzte Chance gewähren, Zielvereinbarung mit Bewährungsfrist
Das Bundesgericht verlangte im oben erwähnten Leitentscheid vom Arbeitgeber weitere Handlungspflichten gegenüber älteren Mitarbeitern mit langer Dienstzeit: Nämlich die Einräumung einer sogenannten «letzten Chance» – konkret den Abschluss einer Zielvereinbarung mit Ansetzung einer Bewährungsfrist. Allerdings betrifft dies nur Arbeitnehmer, denen ein pflichtwidriges Verhalten oder eine mangelhafte Leistung vorgeworfen werden kann. Das Gericht in Lausanne liess hierbei die Frage offen, wie lange eine Bewährungsfrist dauern soll und ab welchem Alter dem Arbeitnehmer eine solche letzte Chance einzuräumen ist.
Infolge der damit verbundenen Rechtsunsicherheit muss auch in derartigen Fällen durch den Gesetzgeber Klarheit geschaffen werden. Hilfreich ist hierbei ein Blick auf das öffentliche Personalrecht wie zum Beispiel das Personalgesetz des Kantons Zürich, das in § 19 eine Bewährungsfrist von maximal sechs Monaten bei einer beabsichtigten Kündigung wegen mangelhafter Leistung oder zu beanstandendem Verhalten vorsieht.
Zu postulieren ist also eine Ergänzung von Art. 336 OR. Neu müsste die Kündigung eines über 55-jährigen Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber auch dann als missbräuchlich qualifiziert werden, wenn sie ausgesprochen wird, ohne dass Letzterer mit seinem Mitarbeiter, dem eine mangelhafte Leistung oder ein mangelhaftes Verhalten vorzuwerfen ist, eine Zielvereinbarung (mit Definieren von konkreten Leistungs- und/oder Verhaltenszielen) abgeschlossen hat. Und ohne dass er ihm eine Bewährungsfrist von mindestens drei und maximal sechs Monaten mit anschliessender Beurteilung in einem Mitarbeitergespräch eingeräumt hat. Von einer Bewährungsfrist dürfte nur dann abgesehen werden, wenn von vornherein feststeht, dass sie ihren Zweck nicht erfüllen kann. Diese Regelungen wären der Rechtssicherheit förderlich und würden die Kündigungsfreiheit nicht wesentlich einschränken.
Vorschlag 8: Drei Monate längere Kündigungsfrist ab Alter 55
Gemäss Art. 335c OR kann das Arbeitsverhältnis im ersten Dienstjahr mit einer Kündigungsfrist von einem Monat, im 2. bis und mit 9. Dienstjahr mit einer Frist von zwei Monaten und danach mit einer Frist von drei Monaten je auf Monatsende gekündigt werden, wobei diese Fristen vertraglich abgeändert werden können. Nach Art. 335a Abs. 1 OR dürfen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer keine verschiedenen Kündigungsfristen festgesetzt werden. Für die über 50-Jährigen – insbesondere aber für die über 55-Jährigen – ist es im Vergleich zu jüngeren Arbeitnehmern deutlich schwieriger, eine neue Arbeitsstelle zu finden. Ältere Arbeitnehmer sind zudem überdurchschnittlich häufig von einer Langzeitarbeitslosigkeit (Dauer von mehr als einem Jahr) betroffen. Sie sind somit auf längere Kündigungsfristen angewiesen. Diverse Sozialpläne sehen übrigens bereits längere Kündigungsfristen (bei Massenentlassungen gemäss Art. 335d ff. OR) vor, was sich in der Praxis bewährt hat.
Zu postulieren ist daher eine Revision des Art. 335c OR. Die Kündigungsfrist soll beim über 55-jährigen Arbeitnehmer zusätzlich um drei Monate verlängert werden.