Am «3D-Zentrum Zürich» sollen die Weichen gestellt werden, wie in naher Zukunft Forensiker, Rechtsmediziner, Staatsanwälte, Strafverteidiger und Richter zusammenarbeiten. Das Zentrum ist ein Zusammenschluss des Instituts für Rechtsmedizin der Uni Zürich und des Forensischen Instituts der Kantons- und Stadtpolizei. Michael Thali ist Direktor des Instituts für Rechtsmedizin. Er sagt: «In der Forensik und Rechtsmedizin ist eine Revolution im Gange.»
Am Ort des Verbrechens würden die Ermittler demnächst statt auf Kamera und Messband auf modernste Technologien wie Laserscanning setzen. Dazu kämen Computer- und Magnetresonanztomografie, Oberflächenscanning der Leiche sowie die virtuelle 3D-Nachbildung des Tatorts.
Bereits heute wird jeder Verstorbene gescannt, der ins Institut für Rechtsmedizin eingeliefert wird. Thali zeigt in den unteren Etagen seines Instituts, wie Mitarbeiter am Computer Leichen untersuchen. Jede Leiche liegt auf einer Bahre, die durch den Tomografen geschoben wird. Der Verstorbene ist innert Sekunden gescannt. Damit lasse sich die Todesursache am Computer eruieren, sagt Thali. Die Computertomografie koste 600 Franken und sei deutlich billiger als eine normale Autopsie.
Perspektive von Zeugen, Opfern und Tätern
Die neusten Entwicklungen aus der Forensik und Rechtsmedizin werden die Arbeit von Strafverteidigern und Richtern stark verändern. Davon sind Lars Ebert und Till Sieberth vom Institut für Rechtsmedizin überzeugt. Die 3D-Technologie werde für die Rekonstruktion von Ereignisabläufen immer «unentbehrlicher».
Laut den beiden Wissenschaftern erfassen 3D-Scanner einen Tat- oder Unfallort innerhalb von Minuten millimetergenau. «Über Oberflächenscanning und Computertomografen lassen sich hochauflösende Körpermodelle erstellen.» 3D-Datensätze könne man dann zusammenfügen, sodass zum Beispiel nach einer Schiesserei die Position eines Schützen und anderer Personen nachvollzogen werden könnte.
Mittels solcher 3D-Darstellungen würden sich Tatorte virtuell rekonstruieren lassen. Ebert ergänzt: «Bei komplexen Fällen verwenden wir im 3D-Zentrum das ‹forensische Holodeck›. Staatsanwälte, Strafverteidiger oder Richter können so mittels Virtual Reality die Perspektive von Zeugen, Opfern oder Tätern einnehmen und die Situation genauer beurteilen.»
Strafverfolger erprobten die Technik in drei Fällen
Die Beteiligten könnten Tat- oder Unfallorte, die längst geräumt wurden, immer wieder von Neuem betreten. Sie verwenden dazu eine sogenannte Virtual-Reality-Brille – ähnlich wie sie bei Computerspielen zum Einsatz kommt. Thali schränkt allerdings ein: «Eine hundertprozentige Rekonstruktion gibt es selten. Wir versuchen aber, uns der materiellen Wahrheit so gut es geht zu nähern.» Auch fällt immer wieder der Satz: «Wir stehen mit allem noch am Anfang.» Doch sei die neue Technik gemäss den beiden Experten bei drei Fällen, die aufwendigere Untersuchungen erforderten, bereits zum Einsatz gekommen. Die Staatsanwaltschaft benutze diese neue Technik bereits – es sei jedoch noch keines dieser Verfahren von einem Gericht beurteilt worden.
Das Zürcher Obergericht veranstaltete Anfang April eine Fachtagung zum Thema Digitalisierung und 3D-Visualisierung. Über 100 Personen aus der Anwalt-, Richter- und Staatsanwaltschaft sowie Fachleute aus der Rechtsmedizin diskutierten in Winterthur die Themen «3D-Visualisierung» und «Beweis und Manipulation durch 3D-Visualisierung». Richter und Strafverteidiger setzten sich eine Virtual-Reality-Brille auf und bewegten sich in einem für die Veranstaltung konstruierten virtuellen Tatort.
Die ersten Reaktionen der Probanden: Erstaunen – und grosse Skepsis. Christian Prinz, Strafrichter am Obergericht Zürich, überrascht das nicht. Er leitete einen Workshop der Veranstaltung. Bei den Teilnehmern sei «das ganze Spektrum von schierer Begeisterung bis hin zu grösster Zurückhaltung und vereinzelt sogar Ablehnung» zu beobachten gewesen.
Interpretationen werden als harte Fakten präsentiert
An der Tagung erfuhren die Teilnehmer, dass die Wissenschafter des 3D-Zentrums für die Tatortrekonstruktion auch Zeugen befragen, um den Tatort «so genau wie möglich» zu visualisieren. Dies führte bei den anwesenden Strafverteidigern wie auch Richtern zu Bedenken: Für den Anwalt Tobias Fankhauser stellen die Aussagen von Zeugen generell ein heikles Beweismittel dar, «da Zeugenaussagen – auch wenn sie redlich erfolgen – falsch sein können». Dies gelte auch für via 3D-Brille erfolgte Aussagen.
Strafverteidiger Matthias Brunner wies darauf hin, dass die Visualisierung eines Tatorts aus «unsicheren Zeugenaussagen harte Fakten» schaffe. Am Ende präsentiere der Staatsanwalt nicht neue Erkenntnisse, sondern eine visualisierte Interpretation der von ihm getroffenen Annahmen. Interpretationen seien aber keine Beweise. «Warum soll man also so etwas zulassen, wenn es keinen Beweiswert hat?», fragt Brunner. «3D-Tatortrekonstruktionen begünstigen und verfestigen Vorurteile und gefährden damit die justizförmige Entscheidfindung.» Die mit den Vorgaben der Staatsanwaltschaft produzierte 3D-Visualisierung würde Bilder in den Köpfen der beteiligten Parteien erzeugen. «Und Bilder besitzen eine grosse Suggestivkraft.»
Von «der Macht der Bilder» war an der Tagung verschiedentlich die Rede. Christian Prinz: «Es wird besonders kritisch zu beobachten und zu hinterfragen sein, welche Auswirkungen beispielsweise 3D-Rekonstruktionen von Tatorten auf das Aussageverhalten von Beteiligten und Zeugen haben.» Zudem sehe er bei Opfern von schweren Gewalttaten eine grosse Gefahr einer Retraumatisierung. Nämlich dann, wenn von ihnen verlangt wird, dass sie – wenn auch nur virtuell – an den Ort des Geschehens zurückkehren und sich die für sie teilweise nahezu unerträgliche Situation erneut bildlich vor Augen führen sollten.
Teilnahmerechte und andere Fragen ungeklärt
Forensiker befürchteten an der Tagung, die «Verblendung durch die neuen Methoden und Techniken» könne zu einer «Vernachlässigung» ja gar «Verelendung» der bewährten Forensik führen. Zudem sei nicht klar, ob die neuen Techniken die bisherige forensische Arbeit ergänzen oder komplett ersetzen wolle.
Für Strafrichter Prinz ist klar, dass die neuen Technologien «lediglich ergänzend zu bisher angewandten und erprobten Ermittlungs- und Beweiserhebungsmethoden zum Tragen kommen werden». Gleich sieht es der Zürcher Staatsanwalt Matthias Stammbach: «Die neuen Techniken und Methoden für die Tatortrekonstruierung müssen als Weiterführung und Ergänzung der Einvernahmen und der Konfrontationseinvernahme dienen.» Zudem müsse klar geregelt werden, wie die Beweisaufnahme konkret erfolgen sollte.
In den Diskussionsrunden zeigte sich deutlich, dass in prozessualer Hinsicht eine Vielzahl von Fragen offen sind. Prinz nannte als Beispiel die Problematik rund um die Gewährung der Teilnahmerechte in allen Verfahrensstadien, die Überprüfbarkeit der derart erhobenen Beweise oder etwa die Frage, wie und in welcher Form digital erhobene Beweise künftig zu den Akten gelegt werden. Aber auch «inwiefern Beteiligte zur Teilnahme an einer 3D-Rekonstruktion verpflichtet sind».
Strafrechtsanwalt Peter Bettoni betonte, dass für die Teilnahmerechte der Parteien noch immer Artikel 147 der Strafprozessordnung gilt. Er erlebte bereits einmal eine 3D-Visualisierung und ortet für die Praxis durchaus auch Vorteile: «Sie stellt eine Arbeitsvereinfachung dar. Ein Tatort kann quasi in das Büro der Staatsanwaltschaft geholt werden und der gesamte personelle und infrastrukturelle Aufwand, der normalerweise bei einer Rekonstruktion anfällt, wird eingespart.»
Christian Prinz sieht in seiner konkreten Arbeit als Strafrichter in den neuen Verfahren einen besonderen Nutzen bei der Darstellung von komplexen, hochdynamischen Abläufen, «wobei hier stets zu bedenken sein wird, dass es um möglichst realitätsnahe Rekonstruktionen und nicht um eine ausschliesslich evidenzbasierte Abbildung der Realität geht».
Verteidigung benötigt vorab Zugang zum Drehbuch
Bettoni riet seinen Anwaltskollegen an der Tagung, ihre Klienten praxisnah auf die Visualisierung vorzubereiten und anlässlich der Rekonstruktion darauf zu achten, dass sich der Klient in der 3D-Welt auf das Wesentliche konzentrieren könne. Aus diesem Grund fordert er, dass der Verteidigung vorab das von der Staatsanwaltschaft im Regelfall vorbereitete Drehbuch zugestellt werden müsse. Zudem solle der Verteidigung im Rahmen der Akteneinsicht das 3D-Format ebenfalls digital zur Verfügung stehen.
Auch Matthias Brunner bemängelt, dass die Verteidigung im ganzen Verfahren viel zu spät ins Spiel komme. «Sie hat keine reelle Chance, auf die Selektion der Daten Einfluss zu nehmen.»
Der Solothurner Rechtsanwalt Konrad Jeker hält auf Anfrage von der virtuellen Tatortrekonstruktion wenig. Die Schattenseiten der Methode sind für ihn offensichtlich: «Virtual Reality schafft den Anschein von objektiver Wahrheit und lässt vergessen, dass deren Herstellung einseitig durch die Strafverfolger erfolgt. Die Systeme müssen mit Daten gefüttert werden.» Sollte es zu einem Gerichtsverfahren kommen, bei dem ein Angeklagter während der Befragung aufgefordert werde, eine virtuelle Tatortbegehung mittels der Virtual-Reality-Brille zu machen, «müssten alle Beteiligten genau mitverfolgen können, was der Beschuldigte oder der Zeuge genau sieht, wenn er seine Aussagen macht». Alle beteiligten Parteien im Gerichtssaal müssten also gleichzeitig die Brille aufsetzen und dem Aussagenden folgen. «Und dazu ist kein Gericht in der Schweiz in der Lage», sagt Jeker.