Nicht alle Jus-Studenten an den Schweizer Unis haben einen uneingeschränkten Zugriff auf die juristische Fachliteratur. Längst nicht alle stammen aus wohlhabenden Familien und können alle nötigen Bücher kaufen. Die grosse Mehrheit muss auf die Literatur in den Bibliotheken zurückgreifen. Doch keine Bibliothek hat genügend Exemplare der gesuchten Bücher zur Verfügung. Wie kommt man trotzdem an die für die Prüfungsvorbereitung wichtige Literatur? Dafür lassen sich die Studenten einiges einfallen. Beispiel: die Bibliothek des rechtswissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich. Dort legen manche Studenten laut Bibliotheksleiterin Franziska Gasser die Fachliteratur absichtlich in die falschen Regale. Ein Basler Kommentar etwa landet schnell einmal im Regal der Rechtsphilosophie. Einige Studenten würden an einem Ort gleich mehrere Bücher verstecken. «Diese Orte nennen wir Büchernester.»
Bei den Zeitschriften im Untergeschoss der Bibliothek hätten alle Zeitschriftenbände direkt an die Wand geschoben werden müssen, weil man festgestellt habe, dass hinter den Zeitschriften jeweils mehrere Bücher versteckt wurden. Andere Bücher würden erst bei der jährlichen Revision wiedergefunden. «Anscheinend wissen einige Studenten am anderen Tag auch nicht mehr, wo genau sie ein Buch versteckten.»
Mehr Büchernester kurz vor den Prüfungen
Das Problem scheint hausgemacht: Wenn dieselbe Seminararbeit gleichzeitig an 200 Studenten vergeben wird, benötigen alle dieselbe Fachliteratur gleichzeitig. Bernhard Dengg, Leiter Bibliotheksbereich Recht und Wirtschaft der Universität Bern, weiss: «Studenten sammeln für ihre Falllösungen die Bücher vorher ein und verstecken sie.» Vor zwei Jahren seien wegen einer Falllösung plötzlich 300 Bücher verschwunden. Täglich mache sich das Personal dann auf die Suche nach den «Nestern». Ein anderer beliebter Trick an der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern: Laut Gwendolin Epp legen die Studenten die Bücher aufgeklappt zuoberst auf hohe Gestelle, damit man sie nicht sieht und findet.
An der juristischen Bibliothek der Universität Basel sei es auch schon mehrmals vorgekommen, dass ganze Seiten aus einem Buch herausgerissen wurden, sagt die Bibliotheksleiterin Giovanna Delbrück. «Vor allem kurz vor den Prüfungen werden Nester gebaut.» Oder man versuche, die Bücher gleich ganz aus der Bibliothek zu entwenden. Das komme aber sehr selten vor. Delbrück einnert die Studenten dann jeweils daran, dass nicht in erster Linie die Bibliothek durch solche Aktionen zu Schaden komme, sondern die Mitstudenten selbst das Nachsehen hätten, welche die gleichen Bücher benötigen.
Mehrfachexemplare bringen etwas Linderung
Wirksame Massnahmen gegen das Verstecken der Fachliteratur haben die Bibliotheken nicht. Es sei schlicht nicht möglich, die gesamte Nachfrage nach einem Werk zu stillen. Christian Schlumpf ist für die Datenbank der Rechtswissenschaften in der Universitätsbibliothek der Universität St. Gallen zuständig. Er sagt, dass er von seiner Ausleihabteilung wöchentlich Informationen bekomme, bei welchen Büchern mehr als drei Reservationen vorlägen. «Wenn wir sehen, dass ein Werk häufig ausgeliehen wird, dann kaufen wir ein zusätzliches Exemplar.»
An den juristischen Fakultätsbibliotheken in Basel und Bern werden laut Delbrück und Dengg von begehrten Werken wie Lehrbüchern und Kommentaren Zweit- und Mehrfachexemplare geführt. Vieles werde auch über juristische Datenbanken angeboten. Doch das vermöge das Bedürfnis nach dem eigenen Exemplar offenbar nicht abzudecken.