Rémy Wyssmann, Rechtsanwalt in Oensingen SO, löst die Probleme seiner Klienten wie seine Branchenkollegen mit dem Gesetzbuch in der Hand. Seine Rechtsschriften sind aber teilweise so kraftvoll, als hätte er die Brechstange benutzt. Wyssmann hat sich auf Haftpflicht- und Versicherungsrecht spezialisiert. «Wir verpflichten uns mit grossem Engagement voll und ganz den Interessen der Geschädigten, weshalb wir auch prinzipiell keine Versicherungen vertreten», heisst es auf der Website von Wyssmann & Partner. Partner der Kanzlei ist Bruder Claude Wyssmann.
Die Hartnäckigkeit von Rémy Wyssmann ist berüchtigt. Als ihm beispielsweise das Bundesamt für Justiz verweigerte, im Vernehmlassungsverfahren zur Revision des Anwaltsgesetzes mitzureden, antwortete er mit einem Antrag an den Eidgenössischen Öffentlichkeitsbeauftragten auf ein Schlichtungsverfahren. Das Bundesamt lenkte nach erfolgter Vorladung ein – also noch vor der Verhandlung.
Genauso beharrlich wehrte sich Wyssmann gegen einen Verweis der Solothurner Anwaltskammer. Anlass zum Verfahren war sein Ausstandsgesuch gegen Mitglieder des kantonalen Versicherungsgerichts. Er kritisierte darin, dass das Verfahren «derart kontaminiert» sei, dass der Ausgang «nicht mehr ergebnisoffen» sei. Dies, nachdem ihm das Gericht zum Rückzug einer Beschwerde gegen die Halbierung der IV-Rente einer Klientin geraten hatte. Das Bundesgericht rief den solothurnischen Hütern anwaltschaftlichen Wohlverhaltens in Erinnerung, dass Kritik von Anwälten an den Gerichten «im Interesse der Sicherung einer integren, den rechtsstaatlichen Anforderungen entsprechenden Rechtspflege» liegt.
Wyssmanns Kritik ist gefürchtet, weil er den Finger häufig auf die wunden Stellen legt. Etwa bei Arzthaftpflichtfällen: «Die Chance, mit einer Klage gegen den Kanton und seine Spitäler durchzukommen, liegt subjektiv gefühlt bei null.» Seit 2016, seit die Urteile in Solothurn publiziert werden – auch das hat er mit der Brechstange erwirkt –, habe er noch kein Urteil gesehen, in dem eine Klage gegen ein kantonales Spital gutgeheissen wurde. «Wenn wir in mehreren Hundert Fällen praktisch nur Ablehnungen verzeichnen, dann ist das keine ergebnisoffene Rechtsprechung.» Auch eine Gutachterstelle, die immer im Sinne der IV-Stelle entscheide, sei nicht neutral. Oder das Verwaltungsgericht in Bern: Seit Jahren legt Wyssmann im Internet aufgeschaltete Urteile im Zusammenhang mit der Adäquanzprüfung in der Unfallversicherung auf die Seite. Ihm fällt auf: «Die Adäquanz zwischen Unfall und gesundheitlicher Beeinträchtigung wird fast nie bejaht.»
“Ein Anwalt muss politisch tätig werden”
Der 52-Jährige und sein Bruder forderten Anfang 2017 vom Kantonsrat drei Gesetzesänderungen: «Gewaltentrennung jetzt», «mehr Demokratie bei Richterwahlen» und «Amtszeitbeschränkung der Richter». Mit «Gewaltentrennung jetzt» verlangten sie eine Gesetzesänderung bei der Besetzung der Anwaltskammer, der kantonalen Aufsichtsbehörde über die Rechtsanwälte. «Im fünfköpfigen Gremium der Verwaltungsbehörde sitzen drei Richter», begründete Wyssmann das Anliegen. «Die Anwaltskammer wacht über die Arbeit der Rechtsanwälte und gehört zur Exekutive. Wenn sie mit Richtern, also Mitgliedern der Judikative, besetzt ist, widerspreche das dem Verfassungsgrundsatz der Gewaltentrennung. «Und wer kontrolliert die Anwaltskammer, in der zwei Oberrichter sitzen? Es ist das Obergericht.» Wyssmann kandidierte damals als Kantonsrat für die SVP. Einen Monat später wurde er gewählt. Nun steht er auf der Liste der SVP für die Nationalratswahlen im Herbst.
Waren die Vorstösse politisches Kalkül oder ehrliches Engagement? «Ich handle situativ», erklärt Wyssmann. Ein Anwalt müsse politisch tätig werden. «Er ist prädestiniert dafür. Wenn nicht er, wer dann?» Anwälte würden die Not und Sorgen der Menschen kennen, weil sie an der Front seien. Die Expertisen zu juristischen Fragen sei ihre Waffe. «Das verpflichtet und bedingt, dass ein Anwalt ins Parlament geht.»
Kampf gegen die Lobbyisten
Es ist kein Zufall, dass Rémy Wyssmann heute Anwalt und Politiker ist. Sein Onkel Manfred Fink spezialisierte sich als einer der ersten Anwälte in der Schweiz auf Sozialversicherungs- und Haftpflichtrecht und führte neben seiner Kanzlei den Schweizerischen Invalidenverband. Der Grossvater war zudem Ständerat (SP), sein Götti Kantonsrat (SP). «Das färbt ab», sagt Wyssmann lachend. «Sie alle waren kämpferische Persönlichkeiten.»
Wyssmann wollte nach der Matura zuerst Chemie studieren. Schliesslich entschied er sich aber dann doch für Rechtswissenschaften. Warum? «Unser Kanti-Lehrer lehrte uns Geschichte grundsätzlich als Klassenkampf. Als Dualismus von Macht und Ohnmacht.» Diese Einsicht präge noch heute seinen Blick auf die Welt. Ein Beispiel? «Coop holt sich die ehemalige Bundesrätin Doris Leuthard in die eigenen Reihen und hofft nun, die Gesetze besser beeinflussen zu können. Das ist Macht.» Unabhängige Konservative, Liberale und Linke müssten sich zusammentun und verhindern, dass Gesetze direkt von Lobbyisten gemacht würden. «Heute diktieren mächtige Strukturen wie etwa die Bundesverwaltung oder die Versicherungen die Gesetze. Das ist grotesk.»
Wyssmanns Engagement passt nicht allen in Solothurn. Kritiker werfen ihm vor, nicht «genug feinfühlig» zu sein. Wyssmann: «Feinfühligkeit ist kein kluger Ratgeber beim Bohren harter Bretter.» Empathie zeige er bei seinen Klienten, wenn sie zu ihm kämen –traumatisiert, hoffnungslos, von der Verwaltung oder der Versicherung geplagt. «Leute, denen es enorm gut geht, die Macht und Einfluss haben und sie missbräuchlich einsetzen, verdienen hingegen kein Wohlwollen.»
Ausserhalb des Kantons wird Wyssmann gelobt: Rainer Deecke, Geschädigtenanwalt in Zug, sieht in Wyssmann einen innovativen und engagierten Anwalt. «Es ist ihm zu verdanken, dass sich im Gutachterwesen der IV bezüglich Transparenz etwas bewegt. Denn er hat mit seinen Einsichtsgesuchen den Stein ins Rollen gebracht.» Zudem tue es der SVP gut, dass jemand in Sachen Sozialpolitik eine neue Sichtweise einbringe.