1. Halswirbelsäule-Distorsionstrauma
Mit rechtskräftigem Vorentscheid vom 1. Juli 2013(1) hat das Kantonsgericht Zug einen Fall mit einem Distorsionstrauma der Halswirbelsäule (HWS) beurteilt. Die Geschädigte verunfallte im Jahr 2001 und zog sich eine HWS-Distorsion zu. Ein Medas-Gutachten aus dem Jahr 2004 bescheinigte eine Arbeitsunfähigkeit von 50 Prozent im angestammten Beruf. Im Rahmen des gegen die Haftpflichtversicherung eingeleiteten Prozesses holte das Zivilgericht ein weiteres Gutachten bei derselben Gutachterstelle ein.
Die Gutachter bezogen sich in diesem Gutachten aus dem Jahr 2012 mehrfach auf die in der Zwischenzeit geänderte «versicherungsmedizinische» Rechtsprechung. Sie kamen zum Schluss, der Gesundheitsschaden müsse heute anders beurteilt werden, obwohl sich an den Befunden grundsätzlich nichts geändert hatte. Ebenfalls prüften die Gutachter die Überwindbarkeit der Beschwerden anhand der Foerster-Kriterien.
Das Kantonsgericht Zug urteilte, auf das (Medas-Zivil-)Gerichtsgutachten aus dem Jahre 2012 könne nicht abgestellt werden, weil darin auf die nicht ins Haftpflichtrecht zu übernehmende sozialversicherungsrechtliche Rechtsprechung Bezug genommen werde: Haftpflichtrecht und Sozialversicherungsrecht hätten unterschiedliche rechtliche Zielsetzungen, die sich gerade beim Adäquanzkriterium auswirken, wo es um die wertende Zurechnung von Schäden geht und wo die schematische Übernahme sozialversicherungsrechtlicher Kriterien dem haftpflichtrechtlichen Zweck, im Einzelfall eine billige, «adäquate» Zurechnungsentscheidung zu fällen, zuwiderlaufen würde. Während in der Sozialversicherung die Allgemeinheit Risikofolgen Einzelner übernehmen müsse, gehe es im Haftpflichtrecht immer um das Verhältnis des Haftpflichtigen zum Geschädigten. Die Verpflichtung des Schädigers gegenüber dem Geschädigten sei eine gänzlich andere als diejenige der Gesellschaft gegenüber ihren Mitgliedern (E. 4.6).
Gemäss Bundesgericht könnten auch nicht objektivierbare Beschwerden als Folgen eines Unfalls haftpflichtrechtlich relevant sein. Es gehe nicht an, den natürlichen Kausalzusammenhang im Bereich des Haftpflichtrechts mangels Vorliegen objektivierbarer, harter, struktureller Läsionen respektive aufgrund einer geänderten «versicherungsmedizinischen» Rechtsprechung zu verneinen, wie dies die Medas-Gutachter täten. Auch neuere medizinische Studien aus den Jahren 2007 und 2011 führten nicht zu einer Änderung der haftpflichtrechtlichen Rechtsprechung (E. 4.7). Sodann hatten die Medas-Gutachter im Jahr 2012 einen Unfallzusammenhang der subjektiven (nicht objektivierbaren) Beschwerden für möglich erachtet. Daraus konnte die beklagte Motorfahrzeughaftpflichtversicherung den ihr obliegenden Beweis des Wegfalls der natürlichen Kausalität nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erbringen (E. 6).
Kommentar: Im UV-Bereich ist die Adäquanz eines HWS-Distorsionstraumas selten erfüllt.(2) Für eine IV-Rente gilt die Überwindbarkeitspraxis,(3) für eine UV-Rente wohl auch.(4) Sozialversicherungsrechtlich sind die Hürden für Dauerleistungen so meist unerreichbar hoch. Anders sieht dies im Haftpflichtrecht aus, wo auch eine singuläre Folge grundsätzlich adäquat kausal ist (Urteil 4A_45/2009; BGE 123 III 110).
1.1 Gegen eine Harmlosigkeitsgrenze
Mit seinem Urteil vom 5. Juli 2013 (1C_575/2012) hat das Bundesgericht einen Führerausweisentzug beurteilt: Auffahrunfälle beinhalteten die ernste Gefahr schwerwiegender gesundheitlicher Schäden («Schleudertrauma»). Dies gelte auch bei Auffahrkollisionen zwischen Personenwagen mit Aufprallgeschwindigkeiten von 10 bis 15 km/h. Weil zudem die nachträgliche Ermittlung der tatsächlichen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsveränderung stets gewisse Unsicherheitsfaktoren beinhalte, lehne es das Bundesgericht ab, eine «Harmlosigkeitsgrenze» festzulegen.
Eine schematische Umrechnung von technischen Werten (wie kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung) in eine Wahrscheinlichkeit, konkrete gesundheitliche Beschwerden zu erleiden, sei nach aktuellem wissenschaftlichem Erkenntnisstand kaum möglich, zumal diverse andere Einflussgrössen (die auch innerhalb der Biomechanik liegen können) mitzuberücksichtigen wären. Deshalb sei auch auf eine kategorische Festlegung zu verzichten, wonach eine Kollision von relativ geringer Intensität eine bestimmte Verletzung beziehungsweise spätere kausale Gesundheitsschäden von vornherein nicht verursachen könne (E. 5.1–5.2).
1.2 Ersatzpflicht auch ohne klassisches HWS-Trauma
In seinem Urteil 4A_275/2013 vom 30. Oktober 2013 führte das Bundesgericht ebenfalls zur Harmlosigkeitsgrenze bei HWS-Distorsionstraumata im Haftpflichtrecht Folgendes aus: «Allein gestützt auf die von der Vorinstanz festgestellten Delta-v-Mittelwerte kann der adäquate Kausalzusammenhang nicht ausgeschlossen werden. Das Bundesgericht lehnt es ab, fixe Adäquanz-Grenzwerte einzuführen beziehungsweise eine Bagatell- oder ‹Harmlosigkeitsgrenze› festzulegen» (E. 5.2 mit Hinweisen).
War der Unfall aber generell geeignet, einen Erfolg von der Art des eingetretenen herbeizuführen, ist die Adäquanz gegeben, auch wenn die Unfallfolgen im konkreten Fall nur unter der Mitwirkung der konstitutionellen Prädisposition eintreten (E. 5.2).
Sodann spielt es keine Rolle, ob ein HWS-Trauma klassische Ausprägung habe oder nicht. Massgebend sei, ob tatsächlich eine Beeinträchtigung bestehe und ob diese mindestens teilweise unfallkausal sei. Nur wenn eine ernsthafte Möglichkeit besteht, dass sich die Beschwerden auch ohne Unfall in gleicher Weise manifestiert hätten, ist der Nachweis des natürlichen Kausalzusammenhangs gescheitert (E. 4.2.3). Bestätige der Gutachter teilweise Unfallkausalität nur mit Wahrscheinlichkeit, sei der vorinstanzliche Entscheid nicht willkürlich, der gestützt auf weitere Indizien überwiegende Wahrscheinlichkeit bejahe (E.4.2.4). Es gilt der Grundsatz der vollen Schadenersatzpflicht, wenn ein krankhafter Vorzustand den Schadenseintritt begünstigt oder dessen Ausmass vergrössert, sofern die Vermögenseinbusse ohne Unfall voraussichtlich überhaupt nicht eingetreten wäre (E. 6.1). Nur wenn in einer Expertise über ein HWS-Distorsionstrauma überzeugend dargetan wird, dass die psychische Störung nicht Symptom der Verletzung ist, kann dafür eine andere Ursache gesehen werden (vgl. BGE 134 V 109, E. 9.5).
Bemerkung: Lesenswert ist das Urteil auch im Hinblick auf die Prozessführung vor Bundesgericht, weil dessen strenge Substanziierungspraxis mehrfach konkret zusammengefasst wird (E. 4.2.2, 5.1, 8.1 f., 9.1).
2. Verjährung bei Spätschäden
2.1 Opferhilfe für Asbestgeschädigte
Mit seinem Urteil 1C_135/2013 vom 16. Dezember 2013(5) spricht das Bundegericht den Angehörigen eines an Asbestkrebs verstorbenen Mannes Opferhilfe zu: Der später Verstorbene war 1972 noch als Schüler während eines Ferienjobs bei der Eternit AG Asbest ausgesetzt worden. Dreissig Jahre später entwickelte sich ein bösartiger Brustfellkrebs. Gemäss Bundesgericht haben sich die 1972 verantwortlichen Personen der Eternit AG durch die Asbest-Exposition strafbar gemacht. Noch vor einem Entscheid über Leistungen aufgrund des Opferhilfegestzes verstarb der Geschädigte. Erst das Bundesgericht hat nun den Anspruch der Angehörigen auf Opferhilfe bejaht, weil sich die damals verantwortlichen Personen der Eternit AG im konkreten Fall einer fahrlässigen Tötung durch Verletzung ihrer Sorgfaltspflichten schuldig gemacht hätten: Einerseits war laut Gericht aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse bereits 1972 bekannt, dass bei Asbestarbeiten ein Krebsrisiko besteht. Andererseits habe das damalige Arbeitsrecht den Einsatz von Jugendlichen bei Arbeiten mit erheblicher Erkrankungsgefahr verboten.
Laut Bundesgericht hätte der Jugendliche deshalb nicht für diese Arbeiten mit Asbeststaub-Exposition eingesetzt werden dürfen. Keine Rolle spiele, wenn heute nicht mehr geklärt werden könne, wer genau bei der Eternit AG für den fraglichen Einsatz des Schülers verantwortlich gewesen sei. Denn der Anspruch auf Opferhilfe bestehe unabhängig von der Ermittlung der Täter. Nichts am Bestand des OHG-Anspruchs ändere die eingetretene strafrechtliche und zivilrechtliche Verjährung, die mit der Verletzung der vertraglichen Pflicht beginne und unterdessen abgelaufen sei: Die Geltendmachung von Ansprüchen auf Schadenersatz und Genugtuung nach OHG bleibt möglich, da es für den zeitlichen Geltungsbereich auf den Eintritt des tatbestandsmässigen Erfolgs ankommt (E. 3.3).
Offen gelassen hat das Bundesgericht indes die Frage, wie die Beschäftigung von erwachsenen Personen mit solchen Arbeiten zu beurteilen wäre (E. 3.11).
2.2 Zivilrechtliche Verjährung
Die Asbestproblematik hat auch im Zivilrecht zu einer entscheidenden «Flurbereinigung» geführt: Bislang begann die Verjährung von Zivilansprüchen mit dem Ende der Schädigung. Bei Spätschäden konnten die Ansprüche so verjähren, bevor sie bekannt wurden. So hatte das Bundesgericht einen Anspruch auf Schadenersatz eines Asbestopfers wegen eingetretener Verjährung abgewiesen, obschon der Asbestkrebs frühestens 15 Jahre nach der Exposition auftritt (und damit oft nach Ablauf der absoluten Verjährungsfrist von zehn Jahren).(6)
Nun hat der EGMR mit Urteilen Nr. 52067/10 und 41072/11 vom 11. März 2014 die Schweiz verurteilt, weil sie einem Asbestopfer den Weg zur Schadenersatzklage aufgrund der eingetretenen zehnjährigen absoluten Verjährungsfrist seit dem verursachenden Ereignis verwehrt hatte. Der EGMR sah aufgrund des ausserordentlichen Personenschadens die angesetzte Verjährungsfrist als unverhältnismässig an und stellte eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren gemäss Art. 6 EMRK fest. Bei der Bemessung der Verjährungsfrist sei die lange Latenzzeit gewisser Krankheiten zu berücksichtigen.(7) Die Schweiz hat das Urteil akzeptiert (das heisst nicht an die grosse Kammer des EGMR weitergezogen). Das Bundesgericht hat nun laufende Asbestverfahren sistiert und will stattdessen die Revision des Verjährungsrechts abwarten.(8)
Bemerkung: Das Urteil wird in all jenen Haftpflichtfällen Auswirkungen haben, bei denen die Verjährungsfrist kürzer ist als die Zeitspanne zwischen der Schädigung und dem Eintritt des Gesundheitsschadens.(9) Im Rahmen der Revision des Verjährungsrechts ist zudem eine Verlängerung der absoluten Verjährungsfrist auf 30 Jahre geplant.(10)
3. Kausalität und zeitliche Koinzidenz
Gemäss dem Bundesgerichtsurteil 4A_329/2012 vom 4. Dezember 2012 ist es nicht willkürlich, gestützt auf die zeitliche Koinzidenz zwischen einem Schadensereignis und dem kurz darauf folgenden Auftreten von Beschwerden auf einen natürlichen Kausalzusammenhang zu schliessen.
In casu waren die Beschwerden zum ersten Mal drei Tage nach einer unsachgemäss durchgeführten Operation aufgetreten und hielten seither an.
4. Unentgeltliche Rechtspflege
Gemäss dem Bundesgerichtsurteil 4A_242/2013 ist bei der Prüfung der Aussichtslosigkeit bei einem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege noch keine Beweiswürdigung eines bereits vorliegenden Gutachtens vorzunehmen. Vielmehr sind allfällige Widersprüche eines Gutachtens erst im Rahmen des Hauptverfahrens zu klären.
5. Vorsorgliche Beweisführung
5.1 Anspruch auf Abklärung der Prozesschancen
Gemäss Urteil 4A_225/2013 gibt Art. 158 ZPO einen Anspruch, nicht nur die Prozesschancen abschätzen zu können, sondern diese im eigentlichen Sinne abzuklären. Obschon die geschädigte Person bereits zwanzig medizinische Stellungnahmen besass, wurde der Anspruch auf ein Gerichtsgutachten bejaht: Die vorliegenden Stellungnahmen gelten beweisrechtlich als Privatgutachten und damit bloss als Teil der Parteivorbringen und nicht als eigentliche Beweismittel (E. 2.5).
Bemerkung: Damit hat das Bundesgericht die teilweise strengere kantonale Praxis gekippt, welche die Hürden für ein Rechtsschutzinteresse höher setzte. Dies erscheint sinnvoll, weil sich mit einem unabhängigen Gerichtsgutachten oft spätere jahrelange Prozesse vermeiden lassen.
5.2 Kein Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege
Mit Verfügung vom 16. Januar 2014 (Urteil 4A_589/2013) entschied das Bundesgericht, im Verfahren nach Art. 158 ZPO würden keine materiellen Rechte und Pflichten beurteilt. Zur Klärung der Prozesschancen (zum Beispiel durch ein medizinisches Gutachten) via Art. 158 ZPO bestehe daher kein Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege.
Anders verhalte es sich allenfalls, wenn vorsorglich eine gesonderte Beweiserhebung bei Gefahr des Rechtsverlusts durchgeführt würde (E. 3.4). Zudem sind die Rechtsbegehren zu bezeichnen, die für den Hauptprozess geplant sind (E. 3.3). Die Gerichtskosten bemessen sich nach den mutmasslichen Prozesskosten im Hauptverfahren, deren Vermeidung ein Verfahren nach Art. 158 ZPO dient (sei es durch Absehen vom Hauptprozess infolge negativen Gutachtens oder Zustandekommens eines Vergleichs bei positivem Gutachten; E. 4 in fine).
5.3 Stellenwert eines Medas-Gutachtens
Gemäss dem Bundesgerichtsurteil 4A_336/2013 vom 10. Dezember 2013(11) kann ein Zivilgericht ein Gutachten einer anderen Behörde (zum Beispiel Sozialversicherung) als Gerichtsgutachten verwenden. Ein Sozialversicherungsgutachten wird gleich einem Zivilprozessgutachten beweistauglich, solange die Parteien im Zivilprozess das rechtliche Gehör erhalten, das heisst sich unter anderem zur Person des Gutachters äussern können. In casu hat das Bundesgericht das Rechtsschutzinteresse an einem Gutachten nach Art. 158 ZPO verneint, weil bereits ein Medas-Gutachten vorlag, das als Gerichtsgutachten tauge und eine Prozesschancenbeurteilung erlaube (E. 3.3.1.3).
Bemerkung: Es fragt sich, ob ein Medas-Gutachteninstitut zivilprozessual als befangen beurteilt werden kann, wenn die Gutachterstelle wirtschaftlich von der IV abhängig ist (BGE 137 V 210 E. 1.2.3). Immerhin ist die IV-Stelle im IV-Verfahren aus zivilprozessualer(12) Optik Gegenpartei der geschädigten Person.(13) Die zivilprozessuale Bejahung der Abhängigkeit erscheint zumindest im Lichte von E. 3.3.1.4 e.c. und E. 3.3.4 des Entscheids 4A_336/2013 nicht ausgeschlossen.
Es bleibt zu hoffen, dass Lausanne bei der Würdigung der Ausstandsgründe der ZPO (Art. 47) beachtet, wie gross (teilweise bis zu 100 Prozent) die wirtschaftliche Abhängigkeit der Medas-Gutachter von der IV heute ist (BGE 137 V 210 E. 1.2.3).(14) In der Praxis wirkt sich dieser Umstand nach Erfahrung des Autors regelmässig massiv zulasten von Geschädigten aus.(15) Im Zivilprozess wäre es jedenfalls absolut undenkbar, einen Ausstandsgrund zu verneinen, obschon ein Gerichtsgutachter zu 100 Prozent wirtschaftlich von einer Partei abhängt.
6. Künftige Erwerbsmöglichkeit
Gemäss Bundesgerichtsurteil vom 27. Mai 2013 (4A_699/2012) muss eine Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens (kurz «EWF») im Sinne von Art. 46 Abs. 1 OR auch dann anerkannt werden, wenn der Verletzte trotz Unfallfolgen arbeitsfähig bleibt und weiterhin einen Lohn erhält, welcher dem mutmasslichen Einkommen ohne Körperschaden entspricht.
Grund dafür ist, dass andere Faktoren als die Arbeitsfähigkeit die zukünftigen Erwerbsmöglichkeiten beeinflussen können (Nachteil bei Arbeitssuche, höheres Risiko bezüglich Arbeitslosigkeit, erschwerter Berufswechsel, reduzierte Chancen auf Beförderung, Risiko gesundheitlicher Verschlechterung). Die Lehre verneint eine EWF bei einer medizinisch-theoretischen Invalidität von weniger als zehn Prozent. In casu wurde eine EWF verneint, weil der Geschädigte lediglich eine medizinisch-theoretische Invalidität von fünf Prozent aufwies, mit Alter 57 ein Berufswechsel nicht mehr in Frage kam und Hinweise auf gesundheitliche Verschlechterung fehlten.
7. Haftung des Werkeigentümers
7.1 Selbstverschulden kann Adäquanz unterbrechen
Im Urteil 4A_385/2013 vom 20. Februar 2014 ging es um den Unfall eines Motorradclub-Mitglieds. Der Motorradfahrer fuhr anlässlich eines Zwischenstopps auf einem Privatareal einen Kieshügel hoch. Der Kieshügel war bereits teilweise abgebaut und endete auf dem höchsten Teil abrupt. Deshalb stürzte der Motorradfahrer hinunter. Bei der Prüfung eines Werkmangels nach Art. 58 OR hielt das Bundesgericht fest, ein allfälliger Kausalzusammenhang zwischen Werkmangel und Schaden sei durch grobes Selbstverschulden des Motorradfahrers unterbrochen: Der Pfad auf dem Kieshügel sei nicht für private Vergnügungsfahrten bestimmt gewesen und der Pächter des Areals habe nicht mit einem solchen unvernünftigen Verhalten eines Motorradfahrers rechnen müssen (E. 6.4.2).
7.2 Werk muss nicht neustem Standard genügen
Im Urteil 4A_521/2013 vom 9. April 2014 wurde ein strittiger Werkmangel eines Geländers beurteilt. Ein Schwerverletzter klagte nach einem Sturz aus 5,5 Metern Höhe auf eine Teilgenugtuung von 30 000 Franken nebst 5 Prozent Zins aus Werkeigentümerhaftung.
Das Bundesgericht verneinte den Werkmangel, obschon die Geländerhöhe nicht dem neusten Standard entsprochen habe: Das Erhöhen eines Sicherheitsstandards für ein Werk oder Produkt bedeute nicht zwingend, alle älteren Modelle müssten umgehend dem neuen Standard angepasst oder aus dem Verkehr gezogen werden. Vielmehr sei zu prüfen, ob das Werk unter Berücksichtigung der konkreten Umstände noch hinreichende Sicherheit biete oder ob die vom Werk ausgehende Gefahr eine umgehende Anpassung an den neuen Standard gebiete (E. 3.4). Für einen Hotelbetrieb würden dabei nicht generell strengere Sicherheitsanforderungen gelten als in den SIA-Normen vorgesehen (E. 4.1). Deshalb war keine sofortige Anpassung der Geländerhöhe an die in der Zwischenzeit verschärften SIA-Normen nötig (E. 1.1 und 4.1).
Bemerkung: Kein Wort verlor das Bundesgericht zur Frage, ob eine Teilklage auf eine Teilgenugtuung (wie in HAVE 4/2013 S. 322 ff. propagiert) zulässig sei. Damit kann bis auf Weiteres von deren Zulässigkeit ausgegangen werden. Geschädigte können mit einer anspruchsmässig sachlich und allenfalls zeitlich beschränkten Teilklage in einem günstigeren Pilotprozess die Haftung oder die Kausalität klären. Dies ist zu begrüssen, denn es fördert die einvernehmliche Streitbeilegung und entlastet die Gerichte.
8. Haftungsverteilung im Strassenverkehr
In Urteil 4A_5/2014 vom 2. Juni 2014 hat das Bundesgericht eine Kollision eines Motorrads mit einem Postauto beurteilt. Das Postauto fuhr bergan und war gut sichtbar. In einer engen Kurve musste es auf einer Breite von 55 cm die Gegenfahrbahn benutzen. Auf der Gegenfahrbahn blieb aber noch so viel Platz, dass sogar ein Auto hätte kreuzen können. Trotzdem kam es zur Kollision, weil der Motorradfahrer sein Fahrzeug (noch auf seiner Fahrbahn) überraschend gegen die Innenseite der Strasse gezogen hatte. Der Motorradfahrer erhob Teilklage auf 30 000 Franken, die von den kantonalen Instanzen abgewiesen wurde. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab: Gemäss Art. 61 SVG werde bei körperlicher Schädigung eines Halters unter Beteiligung mehrerer Motorfahrzeuge der Schaden nach dem Verschulden verteilt, wenn nicht «besondere Umstände» (namentlich die Betriebsgefahr) eine andere Verteilung rechtfertigen (E. 2). Bei einseitigem erheblichem Verschulden trage der schuldhafte Halter die volle Haftung, ausser «besondere Umstände» rechtfertigten eine andere Verteilung.
Der schuldlose Halter habe einen Teil des Schadens zu übernehmen, wenn sich die Betriebsgefahr seines Fahrzeugs besonders stark auswirke oder wenn den allein schuldigen Halter nur ein geringes Verschulden treffe (E. 2.1). Bei der Beurteilung dieser «besonderen Umstände» greife richterliches Ermessen, welches das Bundesgericht zwar frei, aber zurückhaltend prüfe (E. 2.2). Die Betriebsgefahr ist nicht abstrakt zu bestimmen, sondern es ist zu berücksichtigen, ob und wenn ja in welchem Mass sie sich in der konkreten Situation ausgewirkt hat. Die Berücksichtigung der Auswirkung der Betriebsgefahr im Sinne von Art. 61 Abs. 1 SVG setze voraus, dass die Gefahr des einen Fahrzeugs nach dessen Art, Grösse, Geschwindigkeit usw. offensichtlich überwiege und zwischen den Betriebsgefahren der beteiligten Fahrzeuge ein erheblicher Unterschied bestehe (E. 5.1).
Das höhere Gewicht des Postautos habe sich nicht konkret als erhöhte Betriebsgefahr ausgewirkt, weil laut Sachverhaltsfeststellung die Kollision mit einem (leichteren) Auto nicht weniger schlimm ausgefallen wäre (E. 5.1.2). Die konstruktionsbedingte Notwendigkeit, dass ein Postauto bei engen Kurven auf die Gegenfahrbahn rage, erhöhe bei unübersichtlichen Verhältnissen die Unfallgefahr. Hier sei das Postauto aber gut sichtbar und ein Kreuzen trotzdem möglich gewesen. Der Motorradfahrer hätte eine Kollision vermieden, wenn er seine Fahrspur nicht überraschend Richtung Mittellinie gezogen hätte.
Die Vorinstanz habe ihr Ermessen nicht überschritten, wenn sie geurteilt habe, die im Überragen respektive aus Werkeigentümerhaftung der geringen Manövrierfähigkeit des Postautos liegende Betriebsgefahr habe sich nicht als besonderer Umstand im Sinne von Art. 61 SVG manifestiert. Den Motorradfahrer treffe die alleinige, nicht geringfügige Schuld und damit die ganze Haftung. Im Unfall habe sich nicht primär die spezielle Gefahr des Postautos manifestiert, sondern der Fahrfehler des Motorradfahrers. Die Vorinstanz überschreite ihr Ermessen nicht, wenn sie eine Teilhaftung nach sektorieller Methode verneine, weil die Betriebsgefahr hier als «quantité négligeable» erscheine: Auch bei sektorieller Aufteilung bestehe in einer Situation wie hier für den schuldlosen Halter keine Haftung. Infolge des eindeutigen (nicht geringen) Verschuldens des Motorradlenkers und der hier als «quantité négligeable» zu beurteilenden Betriebsgefahr des Postautos sei nicht entscheidend, ob der Schaden nach der sektoriellen Methode oder nach der Kompensationstheorie aufgeteilt werde (E. 5.2.3).
Bemerkung: Der Entscheid enthält lesenswerte Ausführungen zur grundsätzlichen Haftungsverteilung unter mehreren Motorfahrzeugen sowie zu den konkreten Anforderungen, unter denen eine Betriebsgefahr als besonderer Umstand berücksichtigt wird, welcher eine vom Verschulden abweichende Verteilung rechtfertigt.
Fussnoten:
1 Prozess Nr. A2 2010 26; das Urteil ist online einsehbar auf: www.advo5.ch/media/medialibrary/2013/11/HWSUrteilZug01072013.pdf.
2 Kieser/Lendfers erwähnen im «Jahrbuch zum Sozialversicherungsrecht» 2014 eine Analyse der Bundesgerichtspraxis, wonach das Bundesgericht in 157 Fällen die Überwindbarkeit bejahte und lediglich in einem einzigen Fall die Überwindbarkeit verneinte (S. 28); ähnlich Jean-Baptiste Huber, Sozialversicherungstagung 2012, ein kritischer Blick auf bundesgerichtliche Urteile zum Sozialversicherungsrecht, S. 2, publiziert auf: www.yumpu.com/de/document/view/1178284/tagungsbeitrag-rahuberch.
3 Art. 7 Abs. 2 ATSG am Ende.
4 BGE 137 V 199 E. 2.2.2–2.2.3.2.
5 Besprochen in Jusletter vom 6.1.2014.
6 BGE 137 III 16.
7 www.humanrights.ch/de/menschenrechte-schweiz/egmr/ch-faelle-dok/egmr-urteil-howald-moor.
8 BGE 4A_554/2013 und Bundesgerichtsurteil 4A_299/2013.
9 Zu denken ist nebst Asbest an Nanotechnologie, Mobilfunkstrahlung oder Medikamente; vgl. weiterführend sodann: HAVE 2/2014, S. 149–151 sowie S. 174.
10 www.ejpd.admin.ch/ejpd/de/home/dokumentation/mi/2013/2013-11-293.html.
11 BGE 140 III 24.
12 Anders als im Sozialversicherungsrecht: Dort gibt die IV das Gutachten im Verwaltungsverfahren in Auftrag, zu diesem Zeitpunkt ist sie formell noch nicht Partei, sondern «Durchführungsorgan des Gesetzgebers» (Bundesgerichtsurteil 9C_243/2010 E. 1.3.2).
13 Der Gutachter ist zivilprozessual Teil des Gerichts. Für ihn gelten dieselben Ausstandsgründe (Diggelmann, in: Kommentar Schweizerische Zivilprozessordnung, Brunner / Gasser / Schwander, Zürich 2011, N 8 zu Art. 47 ZPO, mit Verweis auf Art. 183 Abs. 2 ZPO). Die Erstattung eines Privatgutachtens für eine Verfahrenspartei ist zivilprozessual ein Ausstandsgrund (Diggelmann, a.a.O., N 41 zu Art. 47 ZPO).
14 In diese Richtung: Jan Hermann, Beeinträchtigung in der Haushaltsführung, Personen-Schaden-Forum 2013, Seite 170.
15 In einer neuen Studie beurteilen Forscher des Universitätsspitals Basel Gutachten der Medas ABI. Resultat: Die Medas-Gutachter der ABI GmbH taxierten die Arbeitsfähigkeit in der für die IV relevanten leidensangepassten Tätigkeit durchschnittlich 50 Prozent höher als die behandelnden Ärzte: www.unispital-basel.ch/medien/mediencommuniques/detail/article/2014/07/14/grosse-unterschiede-bei-der-einschaetzung-der-arbeitsfaehigkeit.