Bei Anna Coninx ist gerade Winter. Denn die Professorin für Strafrecht macht das, was sie ihren Studentinnen und Studenten unablässig rät: Sie verliess ihre Komfortzone und zog mit ihrem Mann und den Kindern für ein Jahr ins Ausland. Nach Kapstadt, Südafrika.
An einer neuen Uni will sie durch die Konfrontation mit einer anderen Rechtskultur weiterhin «geistig fit bleiben». Sie habe nun mehr Zeit für das Forschen und Schreiben. Das sei während ihrer Arbeit an der Universität Luzern zu kurz gekommen. Die Strafrechtlerin arbeitet gemeinsam mit ihrem Mann Martino Mona an einer Neuauflage ihres Lehrbuchs für Rechtsphilosophie.
Coninx stammt aus einer landesweit bekannten Verlegerfamilie, welche die Mehrheit der TX Group hält und unter anderem den «Tages-Anzeiger», die «Berner Zeitung», den «Bund» und die «Basler Zeitung» herausgibt. Sie bezeichnet sich selbst als «durch und durch politischen Menschen».
Das wirkt sich direkt in ihrer Arbeit als Strafrechtsprofessorin aus. Die 43-Jährige ist zwar erst seit etwas mehr als einem Jahr ordentliche Professorin, doch hatte ihre Tätigkeit bereits einen starken Einfluss auf das neue Sexualstrafrecht.
Dabei ging die Juristin taktisch vor: «Ich begann frühzeitig mit Leuten über das Thema zu diskutieren, von denen ich das Gefühl hatte, dass sie kritisch eingestellt sind, aber mit sich reden lassen.» Als Expertin der Rechtskommission des Nationalrats habe sie am Ende viele Zweifler überzeugen können. «Ich sass sieben Jahre im Berner Stadt- und Kantonsparlament, ich kenne die Abläufe und weiss, wie wichtig es ist, eine komplexe Materie ohne Juristenlatein verständlich zu erklären», sagt sie.
Als Anna Coninx 2002 für die Grünen als jüngste Stadträtin ins Stadtparlament einzog, hatte sie gerade die Matura gemacht. Noch heute ist sie Parteimitglied, sie agiert aber mehr im Hintergrund.
Coninx sieht hinter rechtlichen Fragen häufig grundlegende politische Fragen. «Im Grunde geht es immer um Gerechtigkeit. Aber der Gerechtigkeitsbezug wird zuweilen in den politischen Debatten wie auch in der Gesetzgebung viel zu wenig hergestellt.» Deshalb habe sie Recht studiert. «Ich wollte wissen, wie der Staat funktioniert. Vor allem wollte ich aber mitgestalten, Veränderungen anstossen.»
Kriminalprognosen sind «zu wenig zuverlässig»
Veränderungen will die Strafrechtlerin auch bei den freiheitsentziehenden Massnahmen herbeiführen. Die wissenschaftliche Basis dafür legte sie in ihrer Habilitationsschrift. Das Strafrecht fokussiere sich seit Jahrzehnten auf reine Prävention, so Coninx. «Wir versuchen, möglichst präventiv wirksame Sanktionen auszusprechen, und reden nicht mehr darüber, was eigentlich eine gerechte Strafe ist.» Problematisch an den sichernden Massnahmen und der Verwahrung sei, dass Menschen oft weit über die schuldangemessene Zeit inhaftiert würden.
Als Beispiel nennt die Professorin den Fall eines Mannes, der 1998 als 19-Jähriger wegen einer versuchten schweren Körperverletzung, begangen unter Drogen- und Alkoholeinfluss, schuldig gesprochen wurde und eine zweijährige Freiheitsstrafe erhielt. «Mittlerweile ist er 42 Jahre alt und verwahrt, weil er als gefährlich angesehen wird. Er hat also mehr als sein halbes Leben im Gefängnis verbracht.»
Coninx analysierte eine Reihe von Gutachten, die Massnahmehäftlinge und ihre Anwälte ihr zur Verfügung stellten, und kam zum Schluss: «Die Kriminalprognosen für einen Straftäter stellen keine wissenschaftlich gesicherten, wertneutralen und objektiven Erkenntnisse dar, die falsifizierbar sind wie etwa der Nachweis von Viren im Blut.» Vielmehr handle es sich um Befunde, die stark von den persönlichen Überzeugungen des Gutachters, den Möglichkeiten und Grenzen seines Fachs, seines Strafrechtsverständnisses und seiner Vorstellung von Opferschutz abhängig seien.
«Aussagen über die Rückfälligkeit sind in hohem Mass spekulativ. In der Gerichtspraxis werden regelmässig im selben Massnahmenfall von unterschiedlichen Psychiatern sehr unterschiedliche Störungen und Rückfallrisiken diagnostiziert.»
Noch zweifelhafter sei die Zuverlässigkeit von Kriminalprognosen, kritisiert Coninx. «Bei vielen standardisierten Instrumenten werden die Vorhersagevariablen nicht transparent hergeleitet.» Zudem könnten viele Instrumente nicht unabhängig überprüft werden, «weil keine oder bloss lückenhafte Daten publiziert werden».
Damit reiht sich Anna Coninx unter kritische Strafrechtsprofessoren wie Peter Albrecht ein, die seit Jahren mahnen, dass die Wissenschaftlichkeit der allermeisten standardisierten Prognoseinstrumente, die auch in der Schweizer Gerichtspraxis eingesetzt werden, ungenügend seien. Coninx: «Die Methoden reichen schlicht nicht aus, um das zentrale Beweismittel zu liefern, wenn es darum geht, den schwersten Eingriff in die menschliche Freiheit zu rechtfertigen, der überhaupt rechtlich zur Verfügung steht – die schuldüberschiessende, freiheitsentziehende strafrechtliche Massnahme, die potenziell immer ohne Enddatum ist.» Deshalb hält die Professorin Massnahmen, die über die schuldangemessene Bestrafung hinausgehen, für «illegitim».
Mehr Mitwirkungsrechte für Beschuldigte und Verteidiger
Sie schlägt unter anderem vor, den Sachverständigenbeweis grundlegend neu zu denken und ein verstärkt kontradiktorisches Verfahren zuzulassen, «um dem normativen Charakter der Kriminalprognose mehr Rechnung zu tragen». Die beschuldigte Person und die Verteidigung müssten mit stärkeren Mitwirkungs- und Konfrontationsrechten in allen Verfahrensstadien ausgestattet werden. «Je mehr der amtliche forensische Psychiater faktisch zum Zeugen der Anklage und der Vollzugsbehörde wird, desto mehr braucht es ein Gegengewicht auf Seiten der Verteidigung.»
Dann hat es Anna Coninx plötzlich eilig. Sie muss nach Johannesburg. Ihr neunjähriger Sohn spielt dort im U14-Juniorenteam von Western Province Eishockey.