Die Menschenrechte sind gemäss weit verbreiteter Auffassung universal. Wenn sie so etwas wie einen Schweizer Sitz haben, ist er im fünften Stock eines Bürogebäudes am Freiburger Bahnhof: Hier hat die Schweizerische Menschenrechtsinstitution (SMRI) Anfang Jahr ihre Zelte aufgeschlagen – und mit ihr Stefan Schlegel, der erste Direktor dieser Organisation.
In seinem Büro hängen Fotos, die Saisonniers aus Italien in den 1960er-Jahren zeigen. «Obwohl es um ein Massenphänomen geht, stellen die Fotos die Menschen als Individuen in den Vordergrund», sagt Schlegel. Migration, die Geschichten von Abreise und Ankunft, interessieren den 41-Jährigen seit seiner Kindheit.
Schlegel wuchs mit zwei Brüdern in der Grenzgemeinde Buchs SG auf, «dem Schweizer Tor zum Osten», wie er sagt. Die Eltern waren ursprünglich Primarlehrer, der Vater sass für die SP im Gemeinderat. Schlegel erinnert sich, wie sein Vater in den frühen 1990er-Jahren einst die Sommerferien habe abbrechen müssen, weil er sich um ankommende Flüchtlinge aus Bosnien habe kümmern müssen.
Die Idee der Menschenrechte fesselte Schlegel erstmals in der vierten Klasse, als sie der Lehrer in einer Religionsstunde als eine Art «Glaubensbekenntnis des Humanismus» präsentierte. Sie war auch ein Faktor für seine Entscheidung zum Jusstudium an der Universität Zürich – wobei für diesen Schritt auch das «von Filmen geprägte Bild des Strafverteidigers» eine Rolle gespielt habe. Nach dem Studium verfasste Schlegel an der Universität Bern eine Doktorarbeit zum Migrationsrecht und arbeitete als Assistent von Staatsrechtsprofessor Walter Kälin.
Dieser war auch Direktor des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte. Es wurde 2011 als Pilotprojekt des Bundes ins Leben gerufen und hätte nach fünf Jahren von einer ständigen nationalen Menschenrechtsorganisation abgelöst werden sollen. Doch während über 120 Staaten eine solche etabliert hatten, harzte es in der Schweiz mit der Einführung. Das «Pilotprojekt» existierte schliesslich über zehn Jahre.
Im Frühjahr 2023 wurde die ständige Menschenrechtsinstitution dann doch in Form der SMRI gegründet. Sie beruht auf den sogenannten Pariser Prinzipien der Uno-Generalversammlung, stützt sich wie von diesen gefordert auf eine gesetzliche Grundlage: das Bundesgesetz über Massnahmen zur zivilen Friedensförderung und Stärkung der Menschenrechte.
Die SMRI ist gegenüber staatlichen Stellen unabhängig. Damit sie von einem internationalen Dachverband mit dem begehrten «A-Status» zertifiziert wird, bedürfte sie unter anderem auch einer ausreichenden Finanzierung.
An der Schnittstelle von Recht und Politik
Doch die SMRI ist im Vergleich zu ausländischen Pendants unterfinanziert. Für die ersten vier Jahre stellt der Bund je eine knappe Million Franken zur Verfügung, die Kantone steuern pro Jahr rund 300'000 Franken bei. Mit diesem Budget sollen mittelfristig 500 Stellenprozente finanziert werden – Schlegels Team. Er selbst arbeitet in einem 80-Prozent-Pensum. Zu den Aufgaben der neuen Institution zählen unter anderem Forschung, Beratung und Sensibilisierung im Menschenrechtsbereich. Stefan Schlegels Mandat bewegt sich also an der Schnittstelle von Recht und Politik.
Politische Erfahrung sammelte er bei der Operation Libero, einem Verein, der sich gemäss Eigenbeschrieb «für eine weltoffene und zukunftsgewandte Schweiz» einsetzt. Schlegel war im Gründungsvorstand und trat aus diesem erst vor kurzem im Hinblick auf sein Mandat als SMRI-Direktor aus.
«Menschenrechte sind nicht statisch»
Schlegel ist Mitglied der grünliberalen Partei. «Im Zentrum meines politischen Wertegerüsts stehen die Freiheit und die Würde des Einzelnen», sagt er. Sein Verständnis der Menschenrechte ist dynamisch: «Algorithmen, unterstützte Fortpflanzung, Klimawandel – die Fragen an die Menschenrechte würden sich immer verändern. «Es greift zu kurz, Menschenrechte als etwas Statisches zu betrachten», sagt er.
Der Konsens, dass Menschenrechte für eine lebenswerte Gesellschaft wichtig seien, sei die Klammer für Vorstand und Mitglieder. Die SMRI – eine Körperschaft des öffentlichen Rechts – sei aber pluralistisch ausgerichtet. Alle, die den Zweck der SMRI teilen, können Mitglied werden – unabhängig von der Weltanschauung.
Von Gesetzes wegen nicht zu den Aufgaben der SMRI gehört der Einsatz für Einzelpersonen, die ihre Menschenrechte verletzt sehen. Dies machen andere Organisationen, etwa der Verein Humanrights.ch, der unter anderem eine Hotline für Personen im Strafvollzug führt. Dessen Geschäftsleiterin Marianne Aeberhard erwartet von der SMRI, dass sie ihrem Verein und anderen Organisationen den heute schwierigen Zugang zu den Behörden vereinfacht – und auch eine Stimme für die Menschenrechte in der Schweiz ist.
Dabei erhofft sie sich auch vom Direktor einen pointierten Einsatz für Menschenrechte. Sie habe Schlegel als «sehr aufmerksam, analytisch und vertrauenerweckend» kennengelernt. Ob er neben seinen akademischen Stärken auch die von ihr geforderten Kämpferqualitäten entwickelt, werde sich zeigen, so Aeberhard.
Position bezogen hat die SMRI im Kontext des Klimaseniorinnen-Urteils: In Stellungnahmen rügte die SMRI die «Erklärung» der Bundesversammlung, wonach der Bundesrat dem Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs «keine weitere Folge» leisten soll, und in der Folge auch die Erklärung des Bundesrats. Man werde mit solchen Stellungnahmen «selektiv» sein, sagt Schlegel.
Vor allem die Behörden in den Kantonen gelte es «abzuklappern». Die SMRI wolle sich durchaus «subtil aufdrängen» – dahingehend, dass diese in Menschenrechtsfragen die SMRI-Beratung in Anspruch nehmen. «Wir sehen uns hier auch in der Rolle von Aussendienstlern für die Menschenrechte», so Schlegel.
Bleibt ihm, der mit zwei Kindern in Bern lebt, noch Zeit für anderes? «Kaum», sagt Schlegel. Aktuell arbeitet er auch an seiner Habilitation. Sie kombiniert seinen liberalen Kompass mit einem thematischen Steckenpferd: Es geht um die Eigentumsgarantie – aus der Perspektive eines Migrationsrechtlers.