Evelyne Gmünder ist die erste Präsidentin des Kantonsgerichts Appenzell Innerrhoden, der zweiten Instanz des Kantons. Zur Erinnerung: Noch vor 30 Jahren durften die Frauen im Kanton weder wählen noch ein politisches Amt bekleiden. Bis vor kurzem prägten dominante Männer vom Format der ehemaligen Landammänner Raymond Broger oder Carlo Schmid das Image des Kantons.
In Innerhoden werden die Mitglieder des Kantonsgerichts von der Landsgemeinde gewählt. Als nominiert gilt, wessen Name aus dem Stimmvolk heraus dem Landammann zugerufen wird. Die Namen werden gesammelt und anschliessend dem Stimmvolk zur Wahl vorgetragen.
Während der Wahlen 2003 wurde Gmünders Namen erstmals gerufen. Ein Raunen ging durch die Menge – kaum jemand kannte die damals 26-Jährige. Landammann Carlo Schmid quittierte dies mit dem Satz: «Ich hoffe doch sehr, Frau Gmünder hat auch ihren Wohnsitz hier.» Sie schaffte die Wahl nicht. Dann trat sie dem «Frauenforum» bei. Der Verein schaltete in den Zeitungen Inserate und empfahl der Bevölkerung die parteilose Juristin zur Wahl. Verbände und Parteien luden die Anwältin zu Gesprächen ein. So wurde Gmünder in der Bevölkerung immer besser bekannt. 2004 wurde sie dann an der Landsgemeinde als Richterin ins Kantonsgericht gewählt.
Gemeinsam mit ihrem damaligen Freund und heutigen Ehemann zog sie von der Bündner Gemeinde Jenins nach Appenzell. Für die Rechtsanwältin, die in Gonten AI aufgewachsen ist, war es eine Rückkehr in ihre alte Heimat. Gmünder studierte in Freiburg und schrieb in St. Gallen ihre Dissertation zum Thema «Anerkennung und Vollstreckung von ausländischen Scheidungsurteilen». Zwischen 2007 und 2011 arbeitete sie als selbständige Anwältin in der Kanzlei von Ständerat Paul Rechsteiner (SP). Dort lernte sie Hannelore Fuchs kennen – die Frau, die das Frauenstimmrecht in Innerrhoden per Bundesgerichtsurteil durchboxte. Gmünder: «Diese engagierte Anwältin hat mich inspiriert und geprägt.»
Reform erfordert Verfassungsänderung
Innerhoden ist mit 16 000 Einwohnern bevölkerungsmässig der kleinste Kanton der Schweiz. Das prägt auch die Justiz. Das Richteramt ist nach wie vor ein Nebenamt, das in erster Linie von Laien ausgeübt wird. Von den sechs Richterinnen und sieben Richtern der zweiten Instanz sind nebst Gmünder nur vier juristisch ausgebildet. Die Kantonsrichter erhalten für eine Halbtagessitzung 100 Franken sowie insgesamt 100 Franken für das Aktenstudium pro Gerichtsfall. Laut Gmünder passt das System der Laienrichter zwar gut zu Innerrhoden. Die Gerichtsorganisation stosse aber in ihrer heutigen Form oft an ihre Grenzen. «Da besteht Reformbedarf», sagt die Präsidentin. Das Gericht müsse jederzeit handlungsfähig sein. Laut kantonalem Gesetz müssen alle Entscheide von sieben Mitgliedern gefällt werden. «Der Arbeitsaufwand ist für ein Nebenamt enorm», sagt Gmünder, die jährlich ein fixes Salär von 60 000 Franken erhält.
Insgesamt erledigte das Kantonsgericht im vergangenen Jahr 70 Fälle, im Jahr zuvor 73. Die meisten Fälle betreffen das Verwaltungsgericht. «Die Festlegung der Sitzungstermine ist schwierig, weil alle Richterkolleginnen und -kollegen daneben einen Fulltimejob haben». Gmünder selbst arbeitet zusätzlich in einem Pensum von 30 Prozent als Gerichtsschreiberin am Kantonsgericht Appenzell-Ausserrhoden. So heisst dort das Gericht der ersten Instanz.
Nicht nur der Terminkalender ist im kleinen Kanton eine Herausforderung, sondern auch die Nähe zu den Verfahrensparteien. «Oft müssen Kollegen in den Ausstand, weil sie irgendwie mit einer Prozesspartei verbandelt sind.» Gmünder will die Richterzahl deshalb auf fünf reduzieren. Zusätzlich müsse festgelegt werden, dass das Präsidium künftig grundsätzlich von einer Person mit juristischer Ausbildung bekleidet werde. Als Präsidentin leite sie alle Verfahren, müsse sämtliche Verfahrensfragen entscheiden und vor allem darauf achten, dass alle Verfahren formell richtig geführt würden. Das sei ohne rechtliche Ausbildung undenkbar. Gmünder hat die Reformvorschläge bei der Regierung deponiert. «Das wird eine Verfassungsänderung notwendig machen, weil die Wahlvoraussetzungen dort festgehalten sind.»
Beharrliches Ringen um Unabhängigkeit
Für Gmünder ist die Verbesserung des Rechtsstaats zentral. «Das ist genauso wichtig wie die Demokratie.» Gerade in einem Kanton, der weiterhin auf eine Landsgemeinde als Ausdruck der direkten Demokratie setzt, müssten die Fundamente aller drei Staatsgewalten stark sein. «Das Gericht wird hier noch häufig als Anhängsel der Verwaltung betrachtet – und zu wenig als unabhängige dritte Staatsgewalt.» Das habe auch damit zu tun, dass das Gericht zu klein war, um sich selbst zu verwalten, und deshalb ein Anhängsel des Justiz- und Polizeidepartements blieb. Es habe Jahre gegeben, in denen die zweitinstanzlichen Zivil- und Strafrichter nicht einen einzigen Entscheid zu fällen hatten. Diese Zeiten seien aber vorbei: «Wir sind im Aufbruch», sagt die 43-Jährige, die 2017 von der Landsgemeinde zur Gerichtspräsidentin gewählt wurde. Trotzdem: «Auch heute hat kein Richter ein Büro oder einen Schlüssel zum Gerichtsgebäude.» Nur Gmünder erhielt kürzlich einen Schlüssel. «Die Akten erhalten wir online und studieren sie zu Hause.» Der Gerichtssaal dient auch als Sitzungszimmer. Und als Durchgang. Manchmal führe die Polizei mitten in Besprechungen des Gerichts einen Gefangenen in Handschellen quer durch den Saal an die frische Luft im oberen Stock. «Eine kuriose Situation», sagt Gmünder. Sie lacht, aber ihren Ärger darüber kann sie trotzdem nicht verbergen.
Reformen sind in Innerrhoden nicht einfach durchzusetzen. Das bekam die dreifache Mutter vor einigen Jahren bereits einmal zu spüren. Als Mitglied der Innerrhoder Anwaltsprüfungskommission wollte sie zusammen mit ihrem Kommissionskollegen, dem späteren St. Galler Bundesrichter Niklaus Oberholzer, die Kommission mit derjenigen von St. Gallen zusammenlegen. «Die Reform war fällig – pro Jahr gibt es in Innerrhoden meist nur einen einzigen Prüfungskandidaten.» Doch die Regierung war dagegen. Folge: Gmünder trat aus der Kommission aus.