Das Römer Statut (RS) des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) vom 17. Juli 19981 ist mit der Hinterlegung der 60. Ratifikationsurkunde am 1. Juli 2002 in Kraft getreten. Der IStGH hat die Kompetenz zur Aburteilung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Er ergänzt die staatliche Strafgerichtsbarkeit nach Massgabe des sogenannten Komplementaritätsprinzips:2 Solange ein Vertragsstaat in einer Sache ernsthaft ermittelt, ist eine Tätigkeit des IStGH ausgeschlossen. Nur, beziehungsweise erst wenn der Staat nicht (mehr) in der Lage und willens ist, ernsthaft (weitere) Strafverfolgungsmassnahmen durchzuführen, ist der IStGH für die entsprechende Sache zuständig.3
Diese Regelung zielt darauf ab, die Vertragsstaaten indirekt zu zwingen, Völkerrechtsverbrechen selbst zu verfolgen und zu bestrafen. Angesichts der begrenzten Ressourcen des IStGH gibt es dazu auch keine Alternative. Nach bald zehn Jahren operativer Tätigkeit bietet sich eine gute Gelegenheit, eine erste Bilanz zu ziehen.4 Die Ermittlungstätigkeit wurde erst nach der Wahl des ersten Chefanklägers, Luis Moreno Ocampo, mit Amtsantritt am 16. Juni 2003 aufgenommen. Der Gerichtshof erstattet der Uno jährlich Bericht über seine Tätigkeit.
1. Eigenüberweisung nicht im Statut
Der Chefankläger leitete nach seiner Wahl Vorermittlungen5 zur Situation6 in Uganda, der Demokratischen Republik Kongo, der Zentralafrikanischen Republik und Darfur/Sudan ein. Sudan ist zwar kein Vertragsstaat, der Uno-Sicherheitsrat überwies jedoch die Situation mit Beschluss vom 31. März 2005 an den IStGH.7
Die ersten Haftbefehle wurden im Sommer 2005 gegen fünf - heute, soweit noch am Leben, immer noch flüchtige - Führer der ugandischen Rebellenbewegung Lord Resistance Army (LRA), unter anderem gegen deren Chef Joseph Kony, erlassen. Ihnen wurden Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen (unter anderem Mord, sexuelle Versklavung, Angriffe gegen die Zivilbevölkerung, Plünderung, Vergewaltigung und grausame Behandlung) vorgeworfen.
Mit Uganda, der Demokratischen Republik Kongo und der Zentralafrikanischen Republik handelte der Chefankläger aus, dass diese Staaten die Situation ihres Landes selbst an den IStGH überweisen. Diese bei den Verhandlungen zum Römer Statut nicht bedachte Variante der Selbstüberweisung oder Staateneigenüberweisung8 versprach aus Sicht von Moreno Ocampo eine Überwindung der primären Schwachstelle des Römer Statuts. Diesem fehlen nämlich ausgebaute Zwangsmassnahmen und insbesondere ein griffiger Mechanismus zur erfolgreichen Durchführung der Ermittlungen in unkooperativen Vertragsstaaten. Die einzigen Zwangsmassnahmen sind der Erlass eines Haftbefehls oder einer Vorladung gegenüber dem Beschuldigten laut Art. 58 ff. RS. Zeugen beispielsweise können nur gebeten werden, vor dem Gerichtshof auszusagen.
Die Problematik dieser vermeintlichen Zerschlagung des Gordischen Knotens zeigte sich schlagartig, als Uganda am 16. Dezember 2003 die Situation «betreffend die LRA» überwies.9 Dies zwang den Chefankläger zu betonen, dass er auch etwaige von Regierungsseite her begangene Verbrechen ermitteln werde und er die Überweisung somit für die Situation in Norduganda insgesamt entgegennehme.
Allein schon dieser Auftakt zeigt, dass der Chefankläger für eine Selbstüberweisung einen hohen Preis zahlen muss: Die dadurch gesicherte Zusammenarbeit mit den staatlichen Ermittlern richtet sich von vornherein einseitig auf die Verbrechen der «anderen Seite», das heisst der nichtstaatlichen Akteure. Bei staatlichen Verbrechen endet die Kooperation.
Die Selbstüberweisung Ugandas geriet noch in anderer Hinsicht zu einem Lehrstück.10 Nachdem es Staatspräsident Museveni mit Hilfe der Haftbefehle des IStGH gelungen war, die LRA in die Defensive und an den Verhandlungstisch zu drängen, erwies sich das Haager Verfahren für ihn auf längere Sicht als Bürde. Die Führer der LRA verweigerten nämlich die Unterschrift unter das ausgehandelte Friedensabkommen von Juba, solange die Haftbefehle des IStGH nicht widerrufen würden. Damit sassen die Beteiligten in der Falle. Der IStGH wird und kann keine Haftbefehle widerrufen, da nicht weniger als seine weltweite Reputation (gerichtlicher Unabhängigkeit) auf dem Prüfstand steht. Uganda kann die Verfahrensherrschaft nur wieder zurückerlangen, wenn es die Vorverfahrenskammer überzeugt, dass es inzwischen willens und in der Lage ist, das Strafverfahren selbst durchzuführen - ironischerweise war Uganda allerdings bereits 2003 einer der afrikanischen Staaten mit einer vergleichsweise gut ausgebauten und funktionierenden Strafrechtspflege. Sollte Kony oder ein anderer der Führer der LRA inhaftiert werden - eine alles andere als einfache Aufgabe -, könnte die Zulässigkeitsfrage vor dem IStGH sowohl durch die Beschuldigten als auch durch den Staat Uganda neu aufgerollt werden.11
2. Fokussierung auf afrikanische Staaten
Die Demokratische Republik Kongo war von 1998 bis 2002 Schauplatz des in der Schweiz weitgehend übersehenen Afrikanischen Weltkriegs, in den insgesamt neun Staaten verwickelt waren.12 Dabei spielte vor allem auch Ruanda unter der faktischen Herrschaft von Paul Kagame eine üble Rolle, die ihm von vielen Hauptverantwortlichen des Versagens der Uno beim Völkermord von 1994, insbesondere den USA, viel zu lange nachgesehen wurde. Es ist daher verständlich, dass die Demokratische Republik Kongo, deren Justizsystem völlig am Boden lag und die über weite Teile des riesigen Landes gar keine Kontrolle mehr besass, zur Selbstüberweisung an den IStGH geschritten ist.
Thomas Lubanga Dyilo, Führer der oppositionellen Union des Patriotes Congolais und ihres bewaffneten Arms, konnte 2006 als erster Beschuldigter an den Gerichtshof überstellt werden, nachdem er durch die nationalen Behörden des Kongos unter dem Vorwurf des Völkermords und der Verübung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhaftet worden war. Die Anklagebehörde des IStGH warf ihm das Kriegsverbrechen der Rekrutierung und Verwendung von Kindersoldaten vor. Der Anklagevorwurf wurde somit in abstrakter Betrachtung gegenüber dem nationalen Strafverfahren herabgestuft, was zu Kritik führte.13 Der Ankläger vermied durch das Ausweichen auf einen im nationalen Verfahren nicht erhobenen Anklagepunkt, dass die Komplementaritätsfrage im Sinne von Art. 17 RS überhaupt aufgerollt werden musste.14 Eine der Konsequenzen war, dass nur die Kindersoldaten selbst und ihre Angehörigen als Opfer anerkannt wurden, nicht aber Personen, die durch die von Kindersoldaten verübten Verbrechen in ihren Rechten verletzt worden sind.15
Der Chefankläger konnte sich aber darauf berufen, dass das RS ihn verpflichtet, ein besonderes Augenmerk auf Verbrechen mit sexueller Gewalt, geschlechtsspezifischer Gewalt und Gewalt gegen Kinder zu richten.16 Gegen Lubanga ist am 26. Januar 2009 die Hauptverhandlung vor der Strafverfahrenskammer eröffnet worden. Das Verfahren war schon vor der Vorverfahrenskammer beinahe gescheitert, als die Anklagebehörde der Verteidigung keine Einsicht in einen grossen Teil des Beweismaterials gewährte, von dem sie nicht nachvollziehbar behauptete, es handle sich um nicht vorzulegende «lead or springboard evidence» im Sinne von Art. 54 Abs. 3 lit. e RS.17
Ein zweiter «Beinahe-Gau» ereignete sich vor der Strafkammer, nachdem die Verteidigung Anhaltspunkte gefunden hatte, dass Vertrauenspersonen der Opferzeugen, also der Kindersoldaten, deren Aussagen manipuliert hatten.18 Erneut kam es beinahe zur Einstellung des Verfahrens. Der Fall Lubanga ist der erste - und bisher einzige - Fall, in dem bereits ein Sachurteil ergangen ist. Am 14. März 2012 wurde Lubanga der Rekrutierung und Verwendung von Kindersoldaten schuldig gesprochen und mit separatem Strafzumessungsurteil vom 10. Juli 2012 zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilt. Das Sentencing Judgement (ICC-01/04-01/06-2901) war die 2901. schriftliche Entscheidung der Kammer im Fall Lubanga, bis auf die beiden oben genannten waren sonst alle prozessualer Natur.19 Der Angeklagte hat gegen seine Verurteilung Berufung eingelegt.
Weitere Beschuldigte im Kongo-Komplex, bei denen die Hauptverhandlung im November 2009 begonnen hat, sind Germain Katanga, Chef der Force de Résistance Patriotique en Ituri, und Mathieu Ngudjolo Chui, Chef der Front des Nationalistes et Integrationnistes. Prominenter ist Jean-Pierre Bemba Gombo, Chef des Mouvement de Libération du Congo und Gegenkandidat des späteren Staatspräsidenten Joseph Kabila, der ihm in den Wahlen von 200620 unterlag.
Bemba, dessen Hauptverhandlung im Juni 2010 begonnen hat, wurde allerdings der Vorgesetztenverantwortlichkeit für Verbrechen angeklagt, die seine Truppen 2002/2003 in der Zentralafrikanischen Republik begangen hatten. Von aussen betrachtet drängt sich der Verdacht auf, dass es Kabila darauf angelegt haben könnte, Konkurrenten mithilfe des IStGH aus dem Verkehr zu ziehen. Zwar bestehen sicher keine Einwände gegen Ermittlungen gegenüber notorischen Gewaltakteuren, es stellt sich aber wiederum die Frage, ob die Auswahl der Fälle über die (Nicht-)Zugänglichkeit ausreichender Beweismittel bis zur Frage der Durchsetzbarkeit eines Haftbefehls gegebenenfalls von interessierter Seite mitbeeinflusst wird. Damit droht die Gefahr einer von aussen manipulierten Auswahl der Fälle des IStGH. Das wäre fatal, weil es der Glaubwürdigkeit und Unparteilichkeit, über die der IStGH als wichtigstes symbolisches Kapital verfügt, auf längere Sicht schweren Schaden zufügen könnte.21
3. Weitere Zahlen und Fakten
Insgesamt werden zurzeit über die bereits genannten Situationen hinaus in der Republik Kenia, Libyen und der Elfenbeinküste weitere Situationen untersucht. Während im ersten Fall der Ankläger aufgrund eigener Kompetenz Ermittlungen aufgenommen hat, wurde Libyen durch den Uno-Sicherheitsrat überwiesen. Die Elfenbeinküste als Nichtvertragsstaat unterstellte sich dem IStGH mit einer besonderen Erklärung.22 Im Rahmen dieser sieben Situationen laufen aktuell 15 Verfahren mit insgesamt 25 Beschuldigten.23 Davon sind 12 flüchtig.
Im Grunde vielleicht noch interessanter wäre die Frage, in welchen Situationen der Chefankläger trotz ausreichendem Belastungsmaterial keine Vorermittlungen aufgenommen beziehungsweise die Vorermittlungen nicht bis zur Einleitung von Ermittlungen gegen einzelne Beschuldigte vorangetrieben hat. Dies lässt sich leider nur insoweit beantworten, als es der Chefankläger in seinen Berichten kommuniziert. Klar ist immerhin, dass das Ermessen des Chefanklägers in Bezug auf die Verfahrenseinleitung ausserordentlich gross ist: Voraussetzung ist «a reasonable basis to proceed».24 Dazu kommt, dass eine justizielle Überprüfung eines faktischen Nichteintretens (sprich: des Übergangs von Vorermittlungen zur Situation zu Ermittlungen in Fällen!) im Wesentlichen nur dann möglich ist, wenn ein Vertragsstaat oder der Sicherheitsrat eine Situation überwiesen hat.25 Von sich aus prüfen kann die Vorverfahrenskammer nur, wenn sich der Chefankläger auf die «interest of justice»-Klausel laut Art. 53 Abs. 1 lit. c oder Abs. 2 lit. c RS beruft.26 Dieses weite Opportunitätsermessen des Anklägers ist wohl unvermeidlich, doch bildet die sich daraus ergebende (zulässige) Selektivität der Strafverfolgung einen weiteren Schwachpunkt des Römer Statuts.
Dieses Ergebnis ist sicher nicht berauschend für bald einmal zehn Jahre Arbeit. Zu berücksichtigen ist aber, dass sich - anders als bei den Ad-hoc-Tribunalen für das frühere Jugoslawien und für Ruanda, wo viele Verfahren dieselben Vorfälle betreffen oder auf andere Art miteinander verknüpft sind - nicht so leicht Synergieeffekte ergeben.27 Der IStGH ist immer wieder mit neuen Situationen konfrontiert, in denen von Grund auf neu ermittelt werden muss. Zudem sind auch die zahlreichen Situationen zu berücksichtigen, zu denen die Anklagebehörde Vorermittlungen durchführt beziehungweise durchgeführt hat, die (bisher) nicht zu Ermittlungsverfahren gegen bestimmte Beschuldigte geführt haben. So führte die Anklagebehörde Ende 2011 aus, sie habe insgesamt 9332 Anzeigen («Kommunikationen») erhalten und führe derzeit bezüglich Afghanistan, Nigeria, Honduras, der Republik Korea, Kolumbien,28 Georgien und Guinea Vorermittlungen durch.29 Trotzdem bleibt die eher magere Zahl von Verfahren erklärungsbedürftig. Von «Insidern» hörte man teilweise erhebliche Kritik an Moreno Ocampo. Sie richtet sich einerseits auf seinen Führungsstil und insbesondere das Verhältnis zu seinen Spitzenbeamten, andererseits auf die Übernahme zu vieler Aufgaben ausserhalb des Kerngeschäftes. Kritik gab es am schleppenden Vorgehen im Darfur-Komplex. Der Chefankläger erwirkte in der Folge einen Haftbefehl gegen den sudanesischen Staatspräsidenten Omar Hassan Ahmad Al Bashir. Ob diese «Flucht nach vorn» der taktisch richtige Zug gewesen ist, lässt sich mit guten Gründen bestreiten.30
4. Würdigung und Ausblick
Anhand der Zahlen allein lässt sich aber ohnehin nicht beurteilen, ob die ersten zehn Jahre des Internationalen Strafgerichtshofs eine Erfolgsgeschichte bilden. Entscheidender, aber schwieriger einzuschätzen, ist die Qualität der geleisteten Ermittlungsarbeit, der Anklagen und der ergangenen Prozess- und Sachurteile. Eine solche Beurteilung ist abschliessend vorzunehmen.
Seine Fokussierung auf afrikanische Staaten hat dem Chefankläger gerade in Afrika viel Kritik eingebracht. Teilweise wurde vorgebracht, dass dies nichts anderes sei als die Fortsetzung des alten Imperialismus mit neuen Methoden. Diese Kritik ist massiv überzogen, zudem wurden dem IStGH die Situationen in Darfur/Sudan und Libyen vom Uno-Sicherheitsrat überwiesen.31 Trotzdem war es ein strategischer Fehler, ausschliesslich Situationen in afrikanischen Staaten vor den Gerichtshof zu bringen. Zwar sind einige dieser Konflikte besonders opferreich (gewesen) und geben damit ein wichtiges Kriterium für die Konkretisierung des Ermessens des Chefanklägers ab.32 Dieser übersah jedoch die ambivalente Aussenwirkung seiner an sich gut gemeinten Anklagepolitik. Auch wenn die jüngeren völkerstrafrechtlich relevanten Konflikte in anderen Ländern wohl weniger verlustreich gewesen sind, hat es sie doch gegeben.33 Zudem funktioniert die Strafverfolgung von Völkerrechtsverbrechen insbesondere eigener staatlicher Akteure auch in nichtafrikanischen Ländern vielfach unbefriedigend. Ein gutes Beispiel dafür ist das durch WikiLeaks ins Netz gestellte Video «Collateral Murder» eines von einem amerikanischen Apache-Kampfhelikopter aus der 1:1-Perspektive von Pilot und Bordschütze gefilmten Einsatzes, der am 12. Juli 2007 in einem Wohnviertel Bagdads stattgefunden hat. Obwohl dabei erkennbar Kriegsverbrechen verübt worden sind, wurde kein Ermittlungsverfahren gegen die Verantwortlichen eingeleitet.34
Es ist zu hoffen, dass die frühere Stellvertreterin und dieses Jahr als Chefanklägerin gewählte Gambierin Fatou Bensouda hier eine flexiblere Linie einschlägt und auch Situationen angeht, die asiatische, europäische und südamerikanische Länder oder deren Staatsangehörige betreffen.
Sie wäre sicher auch gut beraten, die nicht unbedenkliche Praxis der Selbstüberweisungen einlässlich zu überdenken. Nach Meinung des Autors kann sie nur dann die Strategie der Wahl sein, wenn die grosse Mehrzahl der schwersten Völkerrechtsverbrechen durch Aufständische verübt worden ist. Für den Fall der Demokratischen Republik Kongo lässt sich dies wohl kaum behaupten. Insgesamt sollten anstelle des vermeintlichen Heilmittels des Deals vermehrt Ermittlungen aus eigener Kompetenz35 durchgeführt werden, obwohl damit infolge des Genehmigungsverfahrens vor der Vorverfahrenskammer36 zusätzlicher Aufwand verbunden ist. Damit würde einerseits mehr Entschlossenheit und Unabhängigkeit demonstriert. Andererseits würde die Anklagebehörde zeigen, dass sie die Lektion aus früheren Fällen wie Uganda gelernt hat und sich nicht mehr so leicht in Machtspiele einbinden lässt.
5. Jahrhundertprojekt supranationale Justiz
Der Fall Uganda provozierte überdies eine intensive Diskussion, ob nun Frieden (politische Lösung) oder Gerechtigkeit (Strafverfolgung durch den IStGH) vorgehe. So gestellt, ist die Frage falsch und unproduktiv: Es geht nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch, wobei die konkreten Rahmenbedingungen eine grosse Rolle spielen.
Natürlich besitzt die (internationale) Strafverfolgung nicht ein Monopol - und sie ist durch angemessene Massnahmen auf nationaler Ebene (wie zum Beispiel die Gacaca-Gerichte in Ruanda oder die Wahrheitskommission in Südafrika, die gegen die volle Wahrheit Amnestie gewähren konnte), zu flankieren.37 Auf der anderen Seite wäre es ein seltsamer Rückschritt, wenn die Strafverfolgung gerade bei schwersten Verbrechen zurücktreten müsste. Frieden ist ein sehr hohes Gut. Aber ist er denn nach Begehung schwerster Völkerrechtsverbrechen ohne den Versuch, wenigstens einige der Taten autoritativ festzustellen und zu ahnden, so einfach zu haben? Die Fälle von Kambodscha, Jugoslawien (bis zurück in den Zweiten Weltkrieg) und Ruanda (mit Einschluss des Kongo) lehren, wie ich meine, das Gegenteil.
Die Bilanz ist nach alldem durchzogen. Man hätte eigentlich eine bis zwei weitere Situationen und einige zusätzliche Fälle innerhalb der bestehenden Situationen (insbesondere in der Demokratischen Republik Kongo und im Sudan) erwartet. Aller Anfang ist jedoch schwer und das Problem einer erfolgreicheren Ermittlungszusammenarbeit mit den Vertragsstaaten bleibt ungelöst. Insoweit müsste die Ermittlungsabteilung personell noch weiter verstärkt werden, da der Ankläger nur so gut arbeiten kann, wie die durchgeführten Ermittlungen es zulassen. Zudem ermöglicht nur ein solider Grundstock an vorermittelten Situationen eine wirklich überzeugende Wahl derselben und der von ihr umfassten Fälle.38
Die Durchsetzung einer supranationalen Justiz über in der Regel (para-)staatlich begangene, unterstützte, geduldete oder gebilligte Völkerrechtsverbrechen ist ein Jahrhundertprojekt. Wenn es überhaupt gelingen sollte, könnte es ähnlich lange dauern wie die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs in der frühen Neuzeit.
1 SR 0.312.1
2 Präambel Abs. 10, Art. 1 RS.
3 Art. 17 Abs. 1 lit. a und b RS. Die Sache muss zudem nach lit. c schwerwiegend genug sein, um weitere Massnahmen des Gerichtshofs zu rechtfertigen. Mit «Sache» ist ein Verfahren gegen einen oder mehrere Beschuldigte gemeint (vgl. neben Art. 17 auch Art. 19, 53 RS).
4 Eine unabhängige Untersuchung und Bewertung der ersten fünf Jahre Tätigkeit des IStGH findet sich im Human Rights Watch, Courting History. The Landmark International Criminal Court's First Years, New York 2008.
5 Das Stadium der Vorermittlungen ist im IStGH-Statut nicht geregelt, der Ingress von Art. 53 Abs. 1 RS setzt es jedoch voraus; vgl. hierzu das Draft Policy Paper on Preliminary Examination der Anklagebehörde vom 4. Oktober 2010 (alle zitierten Papers finden sich auf der Homepage des ICC, Office of the Prosecution).
6 Gemeint sind damit insbesondere territorial und zeitlich definierte Verbrechenskomplexe (Art. 13 ff. RS).
7 Paper on some Policy Issues before the Office of the Prosecution, September 2003, 2. Der angekündigte Schwerpunkt über finanzielle Verbindungen zu den Verbrechen wurde offenbar nicht weiterverfolgt.
8 Art. 13 lit. a RS sollte ursprünglich allein die Drittstaatenüberweisung regeln.
9 Matthew Brubacher, «The ICC Investigation of the Lord's Resistance Army: an Insider's View», in: Tim Allen / Koen Vlassenroot (ed.), The Lord's Resistance Army. Myth and Reality, London/New York 2010, 262 ff.
10 William Schabas, «Complementarity in Practice»: Some Uncomplimentary Thoughts, Criminal Law Forum 2008, 5 ff.
11 Art. 18, 19 RS.
12 Gérard Prunier, Africa's World War: Congo, the Rwandan Genocide and the Making of Continental Catastrophe, New York 2009.
13 Ignaz Stegmiller, The Gravity Threshold under the ICC Statute: Gravity Back and Forth in Lubanga and Ntagana, International Criminal Law Review 9 (2009), 547 ff.
14 Laurent Lafleur, Der Grundsatz der Komplementarität, Baden-Baden 2011, S. 151 ff.
15 Valentin Spiga, Indirect Victim's Participation in the Lubanga Trial, Journal of International Criminal Justice 8 (2010), 183 ff.
16 Art. 54 Abs. 1 lit. b RS.
17 Siehe Mayeul Hiéramante, Ein faires Verfahren für Kriegsverbrecher - Grenzen der Informationsbeschaffung und der Fall Lubanga, Humanitäres Völkerrecht - Informationsschriften 1/2010, 32 ff.
18 Prosecutor v. Lubanga, Trial Chamber I, ICC-01/04-01/06-2517-Red, 8.7.2010.
19 Zum Urteil KAI AMBOS, Das erste Urteil des Internationalen Strafgerichtshofs (Prosecutor v. Lubanga), Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik (ZIS) 2012, S. 313 ff.
20 Prunier, a.a.O., 309 ff.
21 Human Rights Watch, a.a.O., 52.
22 Art. 12 Abs. 3 RS.
23 Kritische Gesamtbetrachtung in William Schabas, International Criminal Court, 4th ed., New York 2011, 34 ff. und passim; aktuelle Darstellung der Rechtsfragen bei Eleni Chaitidou jeweils unter dem Titel «Rechtsprechungsübersicht: Aktuelle Entwicklungen am Internationalen Strafgerichtshof», Zeitschrift Internationale Strafrechtsdogmatik 2008, 371 ff.; 2010, 726 ff.; 2011, 843 ff.
24 vgl. Annex to the «Paper on some Policy Issues before the Office of the Prosecutor»: Referrals and Communications sowie Analysis of Referrals and Communications.
25 Art. 53 Abs. 3 RS.
26 S. hierzu Policy Paper on the Interest of Justice, September 2007.
27 Synergien gab es bzgl. Kongo und Darfur/Sudan, wo insgesamt 13 Personen beschuldigt sind.
28 Hierbei geht es um die Prüfung, ob die (Umsetzung der) staatlichen Gesetzgebung über die Demobilisierung und Bestrafung von paramilitärischen Gruppen (insb. Autodefensas Unidas de Colombia) eine ernsthafte Strafverfolgung im Sinne von Art. 17 RS bildet; siehe Kai Ambos, The Colombian Peace Process and the Principle of Complementarity, Berlin 2010.
29 Report on Preliminary Examinations vom 13. Dezember 2011, 5, 6 ff. Hinzu kommt die rechtliche Überprüfung der rechtlichen Bedeutung der Ratifizierung des RS durch die Palästinensische Autonomiebehörde im Jahr 2009.
30 Alex de Waal, A Critique of the Public Application of the Chief Prosecutor of the ICC for a Warrant of Arrest against Sudanese President Omar al Bashir, http://www.sstrc.org/blogs/darfur/wp-content/uploads/ 2009/01/ bashir-public-application-critique-d6-250109.pdf.
31 Human Rights Watch, a.a.O., 44 f.
32 Andere sind das Ausmass der Verantwortung und die eingenommene Position; vgl. Paper on Some Policy Issues, a.a.O., 3.
33 Immerhin fand 2010 in Kampala, Uganda, die erste statutarisch vorgesehene Überprüfungskonferenz des RS (Versammlung der Vertragsstaaten) statt; s. Human Rights Watch, Making Kampala Count, New York 2010.
34 Vgl. Gerrit Walczak, «WikiLeaks und Videokrieg», in: Mittelweg 36, Heft 4/2012, 4 ff. Dass die USA nicht Vertragsstaat des RS sind, tut in diesem Zusammenhang nichts zur Sache.
35 Art. 13 lit. c, 15 RS.
36 Art. 15 Abs. 3-5 RS.
37 Aber der Amnestieprozess kam erst so richtig in Gang, als sich zeigte, dass anderenfalls doch ein relevantes Risiko bestand, dass eine Strafverfolgung stattfindet; Volker Nerlich, Apartheidkriminalität. Der Beitrag der südafrikanischen Strafjustiz zur Aufarbeitung von Apartheid-Unrecht, Berlin 2002.
38 Human Rights Watch, a.a.O., 45 ff., 50 ff.