Eine Erhebung von plädoyer zeigt: Beim Bezirksgericht Zürich gingen 2007 total 841 Forderungsklagen ein, 2016 waren es nur noch 362. Dies entspricht einem Rückgang von 57 Prozent (siehe Tabelle im PDF). Auch beim Bezirksgericht Aarau sanken die eingegangenen Forderungsklagen innert neun Jahren um beinahe 60 Prozent. Gar einen Rückgang von über 70 Prozent hatte das Arbeitsgericht Zürich zu verzeichnen, beim Bezirksgericht Baden sind es minus 52,5 Prozent.
Für diese Entwicklung gibt es verschiedene Gründe. Einer ist die mit der neuen Zivilprozessordnung (ZPO) für die ganze Schweiz neu eingeführte Kostenvorschusspflicht des Klägers (plädoyer 5/14). Gemäss Artikel 98 ZPO wäre ein Vorschuss fakultativ – in der Praxis ist er aber obligatorisch. Die ZPO schreibt die Höhe des Vorschusses nicht vor. Sie räumt den Gerichten ein Ermessen ein.
«Diesen Spielraum schöpfen jedoch viele Gerichte nicht aus», kritisiert Isaak Meier, Professor für Zivilprozessrecht an der Universität Zürich. Stattdessen würden sie die volle Gerichtsgebühr zum Voraus verlangen. Meier bezeichnet den Kostenvorschuss daher als eine «wesentliche Rechtswegbarriere».
Gleicher Meinung ist der Zürcher Rechtsanwalt Philipp Haberbeck. Laut ihm wäre es unproblematisch, von einem Kläger eine Gebühr in der Höhe von einigen Hundert Franken zu verlangen. «Bei der heutigen Ausgestaltung der Gerichtsgebührentarife wirkt es sich jedoch in der Praxis auf einen Kläger abschreckend aus, wenn bei einem höheren Streitwert ein Gerichtskostenvorschuss von Zehntausenden von Franken bezahlt werden muss.» Dies könne dazu führen, dass von der Durchsetzung eines Anspruchs mit guten Prozesschancen abgesehen werde, weil der Gerichtskostenvorschuss zu einem substanziellen Liquiditätsabfluss führen würde. Haberbeck: «Es sollte in einem Rechtsstaat, der im Bereich privatrechtlicher Ansprüche effektiven Rechtsschutz gewährt, nicht so sein, dass insbesondere auch Ansprüche mit hohen Prozesschancen aufgrund von Gerichtskostenvorschüssen nicht durchgesetzt werden.» Haberbeck fordert deshalb eine Abschaffung oder massive Reduktion der Gerichtskosten.
Staat muss Rechtsschutz garantieren
Ein zweites Prozesshemmnis ist der mit der ZPO eingeführte Transfer des Inkassorisikos auf den erfolgreichen Kläger. Haberbeck sagt dazu: «Artikel 111 ZPO schreibt sinngemäss vor, dass das Gericht seine Kosten nach Abschluss des Verfahrens aus dem geleisteten Gerichtskostenvorschuss deckt.» Der Kläger, der den Gerichtskostenvorschuss geleistet habe, müsse bei komplett gewonnenem Prozess eigentlich grundsätzlich keine Gerichtskosten tragen. «Aber wenn er den gesetzlichen Regressanspruch nicht erfolgreich durchsetzen kann, bleiben diese Kosten im Ergebnis doch bei ihm hängen.» Haberbeck fordert, dass der in Artikel 111 ZPO vorgesehene Transfer des Inkassorisikos auf den erfolgreichen Kläger abgeschafft wird.
Auch Isaak Meier macht sich für die Aufhebung dieser Bestimmung stark: «Die Garantie des Rechtsschutzes ist eine Staatsaufgabe», sagt er. Es dürfe nicht sein, dass der Private, der einen berechtigten Anspruch durchgesetzt habe und Recht erhalten habe, das Kostenrisiko für die Gegenseite trage.
Die Höhe der Gerichtskosten an sich stellt ein Problem dar. Ihre Festsetzung liegt in der Kompetenz der Kantone. Grosse Unterschiede sind daher unvermeidlich. Meier vertritt die Ansicht, die Gerichtskosten seien generell zu hoch. «Diese sind daher massgeblich zu reduzieren.» Dafür brauche es wahrscheinlich «einen landesweiten Kostenrahmen».
Haberbeck pflichtet Meier bei: «Es kann nicht sein, dass in einem Rechtsstaat ein signifikanter Teil der Bevölkerung im Bereich der Durchsetzung von privatrechtlichen Ansprüchen praktisch ausgeschlossen ist.» Daher seien die Gerichtskosten deutlich zu senken. «Eine durchschnittliche mittelständische Familie sollte in der Lage sein, einen Anspruch mit höherem Streitwert nötigenfalls durch drei Instanzen hindurch prozessual durchzusetzen.» Die Gerichtskosten sollten deshalb für einen gesamten, allenfalls mehrstufigen Prozess auf einige Tausend Franken begrenzt werden.
Das Parlament könnte die Probleme mit den hohen Kostenvorschüssen und der Haftung des Klägers für die Gerichtskosten durch eine ZPO-Änderung rasch lösen.
Petra Gössi: “Rückgang ist kein Problem”
Doch das Interesse der Parteien daran ist sehr beschränkt, wie eine Umfrage von plädoyer zeigt. SVP, CVP und BDP wollten nicht Stellung nehmen. Für die FDP-Präsidentin und Juristin Petra Gössi bleibt die Rechtssicherheit gewahrt: «Den flächendeckenden Rückgang der Klagen nehme ich nicht als Problem wahr – sondern als sinnvolle Kanalisierung der Rechtsverfahren.» Eine Motion der Rechtskommission des Ständerats habe den Bundesrat beauftragt, die Praxistauglichkeit der ZPO zu prüfen und dem Parlament allfällige Gesetzesanpassungen bis Ende 2018 zu beantragen. Es sei deshalb noch verfrüht, eine generelle Analyse zu machen.
SP-Fraktionschef Christian Levrat verweist auf eine im September von Parteikollege Claude Janiak eingereichte Motion. Darin werde die Reduktion der Gerichtskostenvorschüsse gefordert. Auch die Pflicht zur Zahlung der Parteientschädigung an die Gegenpartei im Fall des Unterliegens bei Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung werde darin kritisch hinterfragt.
Die grüne Nationalrätin und Juristin Sibel Arslan sagt: «Die Hürden für die Einleitung eines Zivilprozesses sind für alle Bereiche zu senken.» Die ZPO müsse im Bereich Prozesskosten und unentgeltliche Rechtspflege überarbeitet werden. Arslan: «Die Grüne Partei wird dazu entsprechende Vorschläge einbringen.»
Korrigendum
Nach Erscheinen des Artikels korrigierte die Aargauer Justiz die Plädoyer mitgeteilten Zahlen wie folgt:
Eingegangene Forderungsklagen (ohne Familienrecht):
Bezirksgericht Aarau
2007: 164
2016: 150
-8,5%
Arbeitsgericht Baden
2006: 181
2016: 227
+25,4%
Bezirksgericht Baden
2006: 324
2016: 341
+5,2%