Lea Hungerbühler stürzt sich regelrecht ins Sitzungszimmer. Das laute Hecheln ihres Hundes Soly verrät, mit welchem Tempo sich die 32-Jährige bei der Arbeit bewegt. Das Tempo sei nötig, erklärt die Juristin im Gespräch, um drei sehr unterschiedliche Tätigkeiten «effizient» bewältigen zu können: Die Zürcherin hat sich als Wirtschaftsanwältin auf Finanzmarktrecht spezialisiert, engagiert sich gleichzeitig für Asylsuchende und entscheidet im Kanton Basel-Landschaft als Strafrichterin über Schuld und Unschuld. Auf dem Papier sei das ein «Zweihundertprozentjob», im wirklichen Leben «leiden der Schlaf und die Freizeit darunter», sagt sie und versucht zu lächeln. Diesen Preis bezahle sie gerne. Denn das Wirtschaftsrecht, so gerne sie in diesem Bereich arbeite, genügt ihr nicht. «Ich möchte der Gesellschaft etwas zurückgeben. Das ist zentral für mich.» Genauso wichtig sei es, dass auch im Wirtschaftsrecht Anwältinnen arbeiten, die Veränderungen in der Gesellschaft kritisch hinterfragen. «Wenn wir sagen, wir wollen eine liberale Wirtschaftsordnung, dann müssen wir den Aspekt der liberalen Ordnung nicht nur auf die Unternehmen beziehen, sondern auch auf die Gesellschaft selbst, konkret also auch auf die Migration.» Hier herrsche eine enorme Kluft.
Eine Kluft muss sie auch in der Praxis zwischen dem Wirtschaftsrecht und dem Migrationsrecht überwinden. Unternehmen, die der Finanzmarktaufsicht (Finma) unterstehen und von der Finma Lizenzen benötigen, holen Rat und Beratung bei Hungerbühler. Das sei ihr Kerngeschäft, sagt die Anwältin. «Ich mache aber auch Aktien- und Arbeitsrecht.»
Gleichzeitig engagiert sich Hungerbühler mit Erfolg für ein liberales Migrationsrecht. Im Jahr 2017 gründete sie den Verein «Asylex». Heute beraten rund 150 Personen – Studenten wie erfahrene Juristen – Flüchtlinge unentgeltlich. Viel Erfahrung bringen nebst anderen etwa der langjährige Bundesverwaltungsrichter Walter Stöckli und der Migrationsrechtsanwalt Marc Spescha mit. «Mittlerweile sind es mehr als 4900 Mandanten, die sich bisher an uns gewandt haben», sagt Hungerbühler. Ein Grossteil der Arbeit von Asylex betreffe Dublin-Fälle.
Individuelle Prüfung der Situation unterbleibt
Das Dublin-Verfahren hat zum Ziel, dass jeder Asylantrag, der auf dem Hoheitsgebiet der EU-Mitgliedstaaten gestellt wird, materiell-rechtlich nur durch einen einzigen Staat geprüft wird. Im Gespräch wird klar: Das Thema geht der Anwältin nahe. «Dublin – das ist der Untergang des Rechtsstaats», sagt sie. Hungerbühler kritisiert «realitätsfremde Beamte» – «und zwar nicht nur beim Staatssekretariat für Migration, sondern auch bei den kantonalen Verwaltungsgerichten und am Bundesverwaltungsgericht».
Den Richtern genüge bereits, dass die völkerrechtlichen Verpflichtungen auf dem Papier bestehen – ob die Menschenrechte in der Realität auch umgesetzt würden, interessiere sie nicht. Eine individuelle Prüfung der Situation eines Flüchtlings fehle oft. So würden Frauen, die beispielsweise in Kroatien oder Griechenland von der Polizei vergewaltigt wurden, «unbedacht wieder zurückgeführt». Die Argumentation dahinter: Das Land habe ja die Europäische Menschenrechtskonvention sowie die Frauenschutzkonvention der Uno unterschrieben. «Im Urteil heisst es dann, die Person könne sich ja vor Ort bei der Polizei melden. Das ist zynisch.» Hungerbühler nennt auch Beispiele im Zusammenhang mit Rückführungen von Frauen nach Italien: «Am Flughafen Mailand angekommen, landen sie direkt auf der Strasse.» Schutz- und obdachlos seien sie täglich sexueller Gewalt ausgesetzt. Etliche Berichte sowie Meldungen von Organisationen wie beispielsweise Human Rights Watch würden dies belegen. Das Bundesverwaltungsgericht verschliesse jedoch die Augen davor.
Für ihre Klientschaft sei es oft schwierig, die Urteile zu verstehen. «Und wir wissen manchmal gar nicht, wie wir sie ihnen vermitteln sollen», erzählt die Anwältin und stellt fest: «Bei Fragen rund um das Asyl- und Migrationsrecht reicht der Instanzenzug in der Schweiz nicht aus.» Der Verein hat mit Unterstützung der Zürcher Anwaltskanzlei Rise bereits 20 Beschwerden erfolgreich vor Uno-Ausschüsse wie etwa den Frauenrechtsausschuss weitergezogen. «Mit dem Führen solcher internationaler Menschenrechtsverfahren wollen wir eine Wirkung über den Einzelfall hinaus erzielen.» Die Entscheide internationaler Instanzen sind als «Case Law» wegweisend und teils auch verbindlich – weit über die Schweiz hinaus. Hungerbühler zeigt sich kämpferisch: «Damit wollen wir die hiesige Rechtsprechung nachhaltig beeinflussen. Gerade auch die Rechte der Frauen sollen dank der Kraft des internationalen Rechts gestärkt werden.»
“Nun zeigt sich, dass das Boot nicht voll ist”
Angesprochen auf die bevorzugte Behandlung von Flüchtlingen aus der Ukraine antwortet die Anwältin nachdenklich: «Wir sollten eigentlich mit allen Menschen, die flüchten müssen, so umgehen.» Die Erfahrung angesichts Zehntausender zusätzlicher Ukrainer zeige doch, dass das Boot nicht voll ist. Manchmal zerreisse es sie fast, wenn sie einer Geflüchteten aus Afghanistan oder Somalia erklären müsse, warum bei den Ukrainern nun plötzlich alles funktioniert. Ihr Trost: «Ich hoffe, die Politiker und die ganze Gesellschaft werden durch diesen Krieg dafür sensibilisiert, was es für geflüchtete Menschen bedeutet, ihre Heimat verlassen zu müssen.»
Bekannte von Hungerbühler beschreiben die engagierte Anwältin als «zugänglich und konsequent». Letzteres war nötig, als sie nach der Gründung von Asylex «harte Kritik» überwinden musste. Wer glaube, einzig in der Wirtschaftswelt würden die Ellbogen eingesetzt, irre sich gewaltig: «Ich wurde in der Branche schon als ‹halbe Menschenrechtsanwältin› bezeichnet, die inhaltlich schlechte Arbeit verrichte.» Freiwilligenarbeit oder Einsätze von Studenten werde von manchen mit minderer Qualität in Verbindung gebracht. Doch die Menschen, die mit ihrer permanenten freiwilligen Arbeit Asylex erfolgreich tragen, hätten auch sie getragen, so Hungerbühler.
Als nebenamtliche Strafrichterin in ihrem Heimatkanton, dem Baselbiet, ist sie pro Monat an einer Verhandlung präsent, die jeweils zwischen zwei und fünf Tagen dauere. Die Stelle trat sie schon mit 24 Jahren für die Grünen an. Auch dort spürt sich die Juristin als Mitglied eines starken Teams.