Das Bundesgericht stellte mit Urteil 6B_758/2011 vom 24. September 2012 klar fest, dass sich das Zutrittsrecht der Gewerkschaften zu einem Unternehmen weder aus der Gewerkschaftsfreiheit (Koalitionsfreiheit nach Artikel 28 der Bundesverfassung) noch aus dem Schutz legitimer Interessen (aussergesetzlicher Rechtfertigungsgrund) ableiten lässt. Das bedeutet, dass Gewerkschafter eine Busse wegen Hausfriedensbruchs riskieren, wenn sie ohne Einverständnis des Arbeitgebers den Kontakt mit Angestellten an ihrem Arbeitsort suchen, sofern der Arbeitgeber die Verfügungsgewalt über die Räume hat. Diese Situation sei inakzeptabel, sagt Luca Cirigliano, Zentralsekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes und Auftraggeber des Gutachtens.
Ohne Betriebsbesuch keine Gewerkschaftsfreiheit
«Wir wollen dagegen ankämpfen», so Cirigliano, «wir haben den Bundesgerichtsentscheid analysiert und wir sind der Ansicht, dass das Resultat des Urteils weder gerecht noch richtig war und wir es nicht einfach so annehmen können.» Das «Gutachten über Hausverbote und gewerkschaftliche Tätigkeit» vom 15. April 2014 des Freiburger Strafrechtsprofessors Marcel Alexander Niggli stützte diese Ansicht. Denn Niggli war anderer Meinung als das Bundesgericht. Die verfassungsrechtlich geschützte Gewerkschaftsfreiheit könne nämlich nicht greifen, wenn die Gewerkschaften nicht freien Zugang an die Arbeitsorte haben. Laut Gutachten bietet die Gewerkschaftsfreiheit einen Rechtfertigungsgrund für Hausfriedensbruch – nicht nur für den rechtmässigen Streik, sondern auch für die Vorbereitung eines rechtmässigen Streiks.
«Gewisse Aktivitäten sind heute unumgänglich», erklärt Cirigliano: «Ich denke da an Gewerkschaften, die Angestellte am Arbeitsort über ihre Rechte aus Gesamtarbeitsverträgen aufklären oder als Gewerkschaftsmitglieder anwerben.» Er denke aber auch an Gewerkschaften, die ihr Kontrollrecht nach Artikel 58 Arbeitsgesetz ausüben – beispielsweise in Sachen Gesundheitsschutz oder Baustellensicherheit. Denn die Kontrollorgane der paritätischen Kommissionen könnten diese Aufgabe nicht alleine wahrnehmen.
Auch in einem anderen Punkt widerspricht das Gutachten dem Bundesgericht, das festhielt, dass die Bestimmungen der Konventionen 98 und 154 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) keine Drittwirkung entfalten und somit Einzelpersonen daraus vor Schweizer Gerichten keine Rechte ableiten können. «Das Gutachten ist gegenteiliger Ansicht», so Cirigliano. «Es ist der Ansicht, dass diese Bestimmungen ‹self-executing› sind.» Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte benutze die ILO-Konventionen, um Rechte, die auf den Konventionen basieren, auszulegen. Es sei bedauerlich, dass das Bundesgericht dies nicht gleich sehe. Deshalb findet Cirigliano: «Es wäre gut, wenn es nicht einen Entscheid aus Strassburg bräuchte, damit die Schweizer Gerichte die ILO-Konventionen im Arbeitsrecht beachten.»
Bei Anordnungen fehlt oft die Verfügungsgewalt
In der Schweizer Rechtsarchitektur ortet Cirigliano einen Fehler: «Die Schweiz anerkennt die Legitimation des ILO-Ausschusses zur Gewerkschaftsfreiheit. Der Ausschuss hält aber ausdrücklich fest, dass die Freiheit vom Zugang der Gewerkschaften an die Arbeitsorte abhängt.»
Das Gutachten von Niggli zeigt verschiedene Wege auf, um einem Verbot, das Firmengelände zu betreten, entgegenzutreten. So zum Beispiel, dass nur jener, der die Verfügungsgewalt über die Baustelle hat, den Zugang verbieten darf. «In unserer täglichen Praxis erleben wir oft, dass die Polizei oder die Staatsanwaltschaft einer Anordnung von Personen folgen, die zu solchen Anweisungen gar nicht legitimiert sind. Der Generalunternehmer, der Bauherr oder der Grundbesitzer haben beispielsweise alle nicht die tatsächliche Verfügungsgewalt über eine Baustelle», so der Gewerkschafter. Für Cirigliano ist die Entwicklung der Arbeitsorte ein Grund dafür, dass die Gewerkschaften Zugang haben müssen: «In den letzten Jahren sind die Baustellen immer grössere und geschlossenere Gebiete geworden. Arbeitnehmer werden mit dem Bus direkt hingefahren, oft logieren sie auch auf der Baustelle und werden dort verpflegt. Wir können diese Angestellten gar nicht mehr ausserhalb der Baustelle erreichen. Deshalb muss es für uns möglich sein, sie in ihren Baracken aufzusuchen.»
Er zieht eine Parallele zu einem anderen Bereich: «Wenn Firmen wie die Swisscom den Gewerkschaften die Möglichkeit geben, das Firmen-Intranet zu benutzen, um ihre Informationen zu verbreiten, muss es das gleiche Zugangsrecht auch physisch geben.»
Cirigliano kündigt eine neue Informationsbroschüre an, um die konkreten Folgen für die Gewerkschaften aus dem Gutachten aufzuzeigen und die Notwendigkeit, dass das Bundesgericht seine Haltung zu diesem Thema überdenken muss. Die Schlussfolgerung des Gewerkschaftssekretärs: «Unter dem Vorbehalt der Verhältnismässigkeit liegt es in der Logik des Arbeitsgesetzes, dass die Gewerkschaften, die das Klagerecht im Falle von Störungen haben, auch die Arbeitsorte kontrollieren dürfen – und dies zusätzlich zu den paritätischen Kommissionen, die zu selten eingreifen. Sonst wäre dieses Recht eine Farce.»
Zutrittsverbote nach Verdacht auf Lohndumping
Das Gutachten zeigt überdies auf, dass angebliche Störungen durch gewerkschaftliche Interventionen in einem Betrieb bewiesen werden müssen. Dazu der Zentralsekretär: «Wenn Gewerkschaften eine Broschüre auf die Windschutzscheiben von Autos legen, ist dies keine Störung und das Verbot, den Parkplatz zu betreten, ist nicht zulässig.» Für Luca Cirigliano ist es bezeichnend, «dass Zutrittsverbote meist dann ausgesprochen werden, wenn die Gewerkschaften bereits Lohndumping oder Probleme mit der Arbeitssicherheit festgestellt haben.» In diesen Fällen könne laut Gutachten Nötigung im Sinne von Artikel 181 des Strafgesetzbuches erfüllt sein, was Hausfriedensbruch unmöglich mache. Ohne Zugang zum Arbeitsort sei es aber schwierig, dem Arbeitgeber ein solches illegales Verhalten zu beweisen. Cirigliano hofft, «dass es dieses Gutachten der Rechtsprechung ermöglicht, den Urteilsschnellschuss zu korrigieren und im Arbeitsrecht das Zugangsrecht der Gewerkschaften zu den Firmen einzuführen.»