Das Bundesgericht hat im Dezember 2017 zwei gleichzeitig publizierte Grundsatzentscheide von erheblicher Bedeutung erlassen (8C_841/2016 und 8C_130/2017 vom 30. November 2017).2 Es wich dabei von seiner bisherigen Praxis bei Depressionen ab und unterstellte sämtliche psychischen Leiden dem indikatorengestützten Beweisverfahren, welches für somatoforme Schmerzstörungen und vergleichbare psychosomatische Störungen entwickelt wurde (BGE 141 V 28). Zugleich nahm das Bundesgericht erhebliche Präzisierungen an der bisherigen Indikatorenrechtsprechung vor.
1. Eingrenzungen der Indikatorenpraxis
1.1 Einbezug des Verhaltens bei Arbeitsunfähigkeit
Spricht man von der neuen Praxis des Bundesgerichts, ist zu beachten, dass sie allein die Frage der IV-Rentenzusprache betrifft und damit bloss – aber immerhin – sozialversicherungsrechtliche Relevanz hat. Die Praxis ist weder ins Privatrecht noch ins Haftpflichtrecht übertragbar. Mit der Indikatorenpraxis werden in die Beurteilung der rentenspezifischen Arbeitsunfähigkeit – anders als im Privatrecht – sozialversicherungsrechtlich geprägte Wertungen miteinbezogen, welche nicht der Tatfrage «natürliche Kausalität» geschuldet sind. Diese Wertungen beziehen auch das Verhalten des Versicherten (Konsistenz) mit ein, so zum Beispiel die Frage nach ausreichender Therapie im Sinne der Schadenminderung. Dabei handelt es sich nicht um eine Frage der medizinisch-naturwissenschaftlichen Kausalität. Beispiel: Leidet jemand an einer Infektionskrankheit mit hohem Fieber, unterwirft sich aber keiner Antibiotikatherapie, so ist die Tatfrage der medizinisch definierten Arbeitsunfähigkeit aufgrund des Zustands «krank mit Fieber» zu beurteilen. Berücksichtigt man bei Festlegen der rentenrelevanten Arbeitsunfähigkeit den Indikator Konsistenz, so lässt sich der Schluss vertreten, es liege keine zu berücksichtigende Arbeitsunfähigkeit vor, weil der Versicherte sich nicht der zumutbaren Therapie unterworfen hat und dabei Mitschuld an seinem Leiden trage.
Problematisch ist, dass der Begriff Arbeitsunfähigkeit im Sozialversicherungsrecht damit eine Doppelbedeutung erhält und dass der Begriff, der grundsätzlich als medizinische Aussage verstanden wird, bei der Frage nach der rentenbedingten Arbeitsunfähigkeit auch das Verhalten des Versicherten bewerten soll. Die Begriffsverwirrung ist vorbestimmt.
Im Privatrecht wird die Frage der Schadenminderung über andere Regulative aufgefangen. Im Haftpflichtrecht mit der Schadensberechnung und -bemessung, im Versicherungsvertragsrecht mit einer eigens dazu stipulierten gesetzlichen Bestimmung, Art. 61 Abs. 2 VVG, der sogenannten «Rettungspflicht» und der darauf gründenden Kürzungsmöglichkeit des Versicherers. Im Privatrecht braucht es somit keinen zusätzlichen Arbeitsunfähigkeitsbegriff, der die Schadenminderung miteinbezieht.
Unglücklich ist, dass die rentenspezifische Arbeitsunfähigkeit gesetzlich nicht definiert ist. Es handelt sich dabei um die sozialversicherungsrechtlich spezifische «Invaliditäts-Arbeitsunfähigkeit», als Vorfrage zur Erwerbsunfähigkeit und Invalidität (Art. 7 und 8 ATSG).3 Das Element der Schadenminderung findet sich in Art. 7 Abs. 1 ATSG wieder. Das Ausmass der Erwerbsunfähigkeit wird dort nach Abzug der zumutbaren Behandlung und Eingliederung bemessen, damit unter Berücksichtigung einer Wertung.4 Art. 7 Abs. 2 ATSG verwendet alsdann den Begriff der objektiven Zumutbarkeit, was ebenfalls einer Wertung entspricht, worauf das Bundesgericht in BGE 141 V 281 hinweist und die Indikatorenpraxis damit rechtfertigt.5
Art. 6 ATSG beschlägt demgegenüber allein die medizinisch zu verstehende Arbeitsunfähigkeit.6 Das Bundesgericht verfährt in dieser Frage bis heute nicht trennscharf. Im neuen Urteil 8C_841/2016 vom 30.11.2017 führt es aus, der Arbeitsunfähigkeitsbegriff von Art. 6 ATSG folge nicht dem biopsychosozialen Krankheitsbegriff, sondern bloss dem biopsychischen.7 Dies trifft nicht zu. So wird beim Festlegen der Arbeitsunfähigkeit für Taggelder der medizinisch geläufige biopsychosoziale Arbeitsunfähigkeitsbegriff verwendet, wie er den schweizerischen Medizinalpersonen gelehrt wird.8 Richtig daran ist, dass das Bundesgericht die Invaliditäts-Arbeitsfähigkeit bislang nach dem eingeschränkten biopsychischen Arbeitsunfähigkeitsbegriff bemisst.9 Die Unschärfe bei der Verwendung des Begriffs Arbeitsunfähigkeit findet sich auch in den beiden aktuellen Grundsatzentscheiden, worin das Bundesgericht erkennt, das Indikatorenverfahren diene der Abklärung der Arbeitsunfähigkeit im Sinne von Art. 6 ATSG.10
1.2 Anwendung bei UVG-Berentung noch unklar
Die neue Praxis gilt nur bei der Frage nach dem Gewähren von IV-Renten, vorderhand der Invalidenversicherung und akzessorisch dazu derjenigen der obligatorischen beruflichen Vorsorge (Art. 23 lit. a BVG). Ob sich die neue Depressionspraxis unbesehen auch auf die Berentung in der Unfallversicherung mit der dort spezifischen Adäquanzprüfung übertragen lässt, muss sich erst noch weisen.11
Bei kurz- und mittelfristigen Sozialversicherungsleistungen, insbesondere Taggeldern, ist sie – gerade wegen des rein medizinisch definierten Arbeitsunfähigkeitsbegriffs von Art. 6 ATSG – nicht anwendbar. Dies ergibt sich analog aus BGE 137 V 199, wonach die damalige Schmerzpraxis ebenfalls nicht auf UVG-Taggelder übertragen wurde.
2. Depressionspraxis bis Dezember 2017
Damit die aktuelle Praxisänderung in ihren Auswirkungen erfasst werden kann, sei aufgezeigt, worin die bisherige Depressionspraxis bestand.
Nach der bisherigen Depressionspraxis waren Personen, die an einer leichten und mittelgradigen Depression litten, von der IV-Rentenberechtigung ausgeschlossen, solange sie nicht den Nachweis erbringen konnten, dass sie die Depression mittels fachgerechter Therapien angingen und sich trotz längerer Therapie keine Verbesserung einstellte (Erfordernis der sogenannten Therapieresistenz). Das Bundesgericht ging dabei von der Tatsachenvermutung aus, leichte und mittelgradige Depressionen liessen sich in der Regel einfach therapieren. Es fehle damit an der Dauerhaftigkeit der Erwerbsunfähigkeit, welche für eine Invalidenrente erforderlich sei. Voraussetzung für das Gewähren einer Invalidenrente sei das Absolvieren einer konsequenten Therapie, ambulant und/oder stationär.12
Diese Praxis hatte sich aus verschiedenen bundesgerichtlichen Urteilen herauskristallisiert. Einen eigentlichen Grundsatzentscheid dazu gibt es nicht, im Gegenteil. In BGE 127 V 294 wird die Kombination von Therapie und IV-Rente ausdrücklich bejaht. In diesem Urteil wird erkannt, die Invalidenversicherung habe einen länger andauernden Gesundheitsschaden nach Erfüllen der Wartefrist abzudecken, egal ob es sich dabei um einen stabilen Gesundheitszustand handle oder ob dieser prognostisch noch Besserungspotenzial aufweise.
2.1 Kritik an der bisherigen Praxis bei Depressionen
Dem Ansatz, bei Depressionsleiden nur dann eine IV-Rente zuzusprechen, wenn sich das Leiden als therapieresistent erweise, ist sowohl aus medizinischer wie auch juristischer Sicht Kritik erwachsen. Diese bewog das Bundesgericht nun dazu, seine bisherige Praxis aufzugeben. Aus medizinischer Sicht wurde der Vermutung des Bundesgerichts, leichte und mittelgradige Depressionen liessen sich in der Regel leicht therapieren, widersprochen.13 Die Vermutungsbasis des Bundesgerichts, «nach gesicherter psychiatrischer Erfahrung» seien alle depressiven Störungen therapeutisch gut angehbar, wurde von den psychiatrischen Experten widerlegt.
In rechtlicher Hinsicht wurde auf Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG hingewiesen, wonach es für das Zusprechen einer Invalidenrente genüge, wenn die Wartefrist von einem Jahr bei einer durchschnittlichen Arbeitsunfähigkeit von 40 Prozent erfüllt sei und im Anschluss eine Erwerbsunfähigkeit von mindestens 40 Prozent bestehe. Eine bleibende, therapeutisch nicht mehr angehbare Arbeitsunfähigkeit ergäbe sich aus den gesetzlichen Grundlagen nicht. Zudem habe das Bundesgericht mit BGE 127 V 294 ausdrücklich darauf erkannt, bei einem psychischen Leiden während der Therapiedauer eine IV-Rente zuzugestehen.14
2.2 Wendepunkt: Erfordernis Therapieresistenz fällt weg
Das Urteil 8C_841/2016 vom 30. November 2017 markiert einen Wendepunkt. Das Bundesgericht kehrt zu seiner Praxis zurück, wonach die Behandelbarkeit per se betrachtet nichts über den invalidisierenden Charakter einer psychischen Störung aussage,15 auch bei Depressionen. Die Feststellung, dass leichte und mittelgradige depressive Störungen einzig dann als invalidisierende Krankheiten in Betracht kämen, wenn sie erwiesenermassen therapieresistent seien, sei in dieser absoluten Form unzutreffend und stehe einer objektiven, allseitigen Abklärung und Beurteilung der funktionellen Einschränkung der Krankheit im Einzelfall entgegen. Damit gibt das Bundesgericht der Kritik an diesem Ansatz recht.16
Die Frage der Therapierbarkeit sei aber in das indikatorengestützte Beweisverfahren miteinzubeziehen, als Indiz für den Leidensdruck der versicherten Person und damit für den Schweregrad der Störung.17
Gleichzeitig unterstellt das Bundesgericht die Depression und mit ihr sämtliche übrigen psychischen Leiden der Indikatorenpraxis, die nachfolgend in ihren Grundzügen kurz dargestellt sei.
3. Indikatorenpraxis nach BGE 141 V 281
3.1 Normiertes Raster zu zwei Beweisthemen
Das Bundesgericht hat mit BGE 141 V 281 das Regel-/Ausnahmemodell der Überwindbarkeitspraxis fallengelassen zugunsten eines «ergebnisoffenen strukturierten Beweisverfahrens» in Form eines normierten Prüfungsrasters (Indikatoren). Dazu wurden zwei Beweisthemen als zentral erachtet: der funktionelle Schweregrad der Erkrankung und die Konsistenz (Verhalten des Versicherten). Das Bundesgericht entwarf nachfolgenden Indikatorenraster:18
Zum Beweisthema Kategorie «funktioneller Schweregrad»:
–Komplex «Gesundheitsschädigung»
–Ausprägung der diagnoserelevanten Befunde und Symptome (Schweregrad)
–Behandlungserfolg oder -resistenz
–Komorbiditäten
–Komplex «Persönlichkeit»
–Persönlichkeitsdiagnostik
–Persönliche Ressourcen
–Komplex «Sozialer Kontext»
Zum Beweisthema «Kategorie Konsistenz» (Gesichtspunkte des Verhaltens):
–Gleichmässige Einschränkung des Aktivitätsniveaus in allen vergleichbaren Lebenslagen
–Behandlungs- und eingliederungsanamnestisch ausgewiesener Leidensdruck
3.2 Stellenwert der Indikatoren
Die Bedeutung dieser Indikatoren umschreibt das Bundesgericht in BGE 141 V 281, E 4.1.3, wie folgt: «Die Antworten, welche die medizinischen Sachverständigen anhand der (im Einzelfall relevanten) Indikatoren geben, verschaffen den Rechtsanwendern Indizien, wie sie erforderlich sind, um den Beweisnotstand im Zusammenhang mit der Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit bei psychosomatischen Störungen zu überbrücken.»
Medizinisch müsse im Regelfall anhand der Standardindikatoren schlüssig begründet werden, inwiefern sich aus den funktionellen Ausfällen bei objektiver Zumutbarkeitsbeurteilung eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit ergebe.19 Die Intention des durch Indikatoren geleiteten Beweisverfahrens sei es, zu fragen, ob die vorhandenen Funktionseinbussen durch die erhobenen Befunde abgedeckt und erklärbar seien.20
Dabei gelten die Antworten auf die einzelnen Indikatoren als Tatfrage, ob die Antworten indes in ihrer Gesamtheit einen invalidisierenden Gesundheitsschaden im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG hergäben, als Rechtsfrage.21 Und: Aus rechtlicher Sicht könne von einer medizinischen Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit abgewichen werden, ohne dass diese per se ihren Beweiswert verliere.22
Der Beweis für eine lang andauernde und erhebliche Arbeitsunfähigkeit wegen eines psychischen Leidens könne mangels objektivierbarem Substrat nur dann als geleistet erachtet werden, wenn die Prüfung der massgeblichen Beweisthemen im Rahmen einer umfassenden Betrachtung ein stimmiges Gesamtbild einer Einschränkung in allen Lebensbereichen (Konsistenz) hergebe.23
3.3 Rollenverteilung Gutachter/Rechtsanwender
BGE 141 V 281 spricht einen Brennpunkt an: die Rollenverteilung zwischen den Ärzten und den Juristen. Das Bundesgericht misstraut der Ärzteschaft. Die in BGE 141 V 281 offen formulierte Kritik lautet dahingehend, die Patienten würden allein gestützt auf die Diagnose krank und arbeitsunfähig geschrieben. Der Rechtsanwender erhalte mit den Indikatoren nun die Rolle und das notwendige Korrektiv, die medizinische Arbeitsunfähigkeitseinschätzung im Sinne einer Plausibilisierung mit einem normierten Indikatorenraster zu überprüfen, was auch der Grundsatz einheitlicher Rechtsanwendung gebiete.
Bereits mit BGE 140 V 193 hat das Bundesgericht unter Hinweis auf frühere Urteile 24 darauf erkannt, dem Arzt komme bei der Frage nach der Folgenabschätzung der gesundheitlichen Beeinträchtigung keine abschliessende Rolle zu; der Arzt gebe – gleichermassen als «Input» an den Rechtsanwender – eine Schätzung des Ausmasses der Arbeitsunfähigkeit ab.25 Es habe dann die juristische Beurteilung zu erfolgen, welche Arbeiten der betroffenen Person noch zugemutet werden könnten. Nötigenfalls seien in Ergänzung der medizinischen Unterlagen für die Ermittlung des erwerblich nutzbaren Leistungsvermögens auch die Fachpersonen der beruflichen Integration und Berufsberatung heranzuziehen. Die Rollenteilung scheint bis heute nicht vollends geklärt, wie das Urteil 8C_260/2017 vom 1. Dezember 2017 zeigt.
4. Neue Praxis für alle psychischen Leiden
4.1 Begründung für die Unterstellung
Das Bundesgericht erklärt den Einbezug der Depression in die Indikatorenpraxis damit, in den aktuellsten diagnostischen Leitlinien der ICD 10 werde der Begriff «psychosomatisch» wegen seiner unterschiedlichen Verwendung und falschen Interpretation nicht mehr geführt. Schon vor diesem Hintergrund rechtfertige es sich, die Unterscheidung zwischen psychosomatischen und anderen psychischen Leiden fallenzulassen.
Die Änderung in der ICD führe zudem vor Augen, dass die psychiatrische Terminologie, die Formulierung der Diagnosekriterien und die diagnostische Einordnung klinischer Befunde einem steten Wandel unterzogen seien. Krankheitsbilder könnten sich überlappen oder zusammen auftreten.
Die Diagnose stehe nicht mehr im Zentrum, bleibe aber Ausgangspunkt für die Frage, ob überhaupt ein klassifizierbarer Gesundheitsschaden vorliege, was für eine Berentung vorausgesetzt sei. Die Diagnostik psychischer Störungen sei wegen des Mangels an objektivierbarem Substrat weder unter naturwissenschaftlichen noch psychologisch-testtheroretischen Aspekten besonders objektiv,26 nicht bloss bei psychosomatischen Leiden. Dies zeige sich auch beim Krankheitsbild der Depression, wo die Abgrenzung somatoformer und funktioneller Störungen von depressiven Störungen häufig Probleme bereite.27 Dies rechtfertige es, bei sämtlichen psychischen Leiden den Beweis für eine Arbeitsunfähigkeit mittels Indikatoren zu führen.28 Je nach Krankheitsbild rechtfertigten sich allenfalls Anpassungen bei der Wertung einzelner Indikatoren.
Zudem könne aus Gründen der Verhältnismässigkeit dort von einem strukturierten Beweisverfahren abgesehen werden, wo sich dieses als nicht nötig erweise oder auch nicht geeignet sei. Dies vor allem dort, wo prägnante Befunde und übereinstimmende fachärztliche Einschätzungen punkto Diagnose und deren funktioneller Auswirkungen auf die Arbeitsunfähigkeit bestünden.29 Als Beispiele dafür nennt das Bundesgericht Schizophrenie sowie Zwangs-, Ess- und Panikstörungen.
Dort, wo das indikatorengestützte Beweisverfahren zu führen sei, ende dies mit der Rechtsfrage, ob und in welchem Umfang die ärztlichen Feststellungen auf Arbeitsunfähigkeit im Sinne von Art. 6 ATSG schliessen liessen.30
Die Indikatorenpraxis wird damit zum zentralen Abklärungswerkzeug bei sämtlichen psychischen Leiden. Die Tendenz, ihre Anwendung auszuweiten,31 hat ihren vorläufigen Abschluss in deren genereller Anwendbarkeit auf sämtliche psychischen Leiden gefunden.
4.2 Präzisierungen der Praxis
4.2.1 Indikator Komorbidität
Das Bundesgericht stellt klar, für die Frage der Komorbidität seien nicht bloss die Diagnosen mit Auswirkungen auf die Arbeitsunfähigkeit heranzuziehen, weil der Rechtsanwender die gesamthafte Folge aller psychischen Leiden zu würdigen habe. Entsprechend dürften einzelne Leiden vom Einbezug in die Wertung nicht ausgeschlossen werden, bloss weil es ihnen isoliert betrachtet an invalidenversicherungsrechtlicher Relevanz fehle. Als Beispiel führt das Bundesgericht unter Hinweis auf sein Urteil 8C_146/2015 vom 22. Juli 2015 das Beispiel der Dysthymie an, die für sich allein keine Invalidität bewirken könne, im Zusammenwirken mit anderen Befunden – beispielsweise einer Persönlichkeitsstörung – dennoch das Potenzial habe, die Arbeitsfähigkeit erheblich zu beeinträchtigen.32
4.2.2 Indikator Schweregrad des psychischen Leidens
Das Bundesgericht hält im Urteil 8C_130/2017 vom 30. November 2017 daran fest, dass grundsätzlich nur schwere psychische Störungen invalidisierend sein können.33 Ein Ansatz, den das Bundesgericht interessanterweise im gleichen Atemzug widerlegt und zu Recht darauf hinweist, das Invalidisierungspotenzial sei im Wesentlichen vom Anforderungsprofil der zugrunde liegenden Tätigkeit abhängig.34 Die Aussage, bloss bei schweren psychischen Störungen sei auf Invalidität zu erkennen, verletzt den Gleichbehandlungsgrundsatz, zumal es eine solche Einschränkung bei somatischen Leiden nicht gibt.
Das Bundesgericht weist alsdann darauf hin, psychische Leiden liessen sich selten bloss mit einer Diagnose erfassen, sondern gründeten häufig auf einem polymorbiden Geschehen. Ein Leiden per se dürfe nicht bloss deshalb als leicht eingestuft werden, weil diagnostisch kein Bezug zum Schweregrad gefordert sei, wie zum Beispiel bei der «schweren» depressiven Episode.
Davon zu unterscheiden sei die Bewertung der Überkategorie «funktioneller Schweregrad», worin die Komplexe «Gesundheitsschädigung», «Persönlichkeit» und «sozialer Kontext» zusammengefasst bewertet werden. Der funktionelle Schweregrad beurteile sich nach den konkreten funktionellen Auswirkungen und insbesondere danach, wie stark die versicherte Person in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen beeinträchtigt sei.
Wenn die Diagnose den Schweregrad als Kriterium miteinschliesse, ergäben sich teilweise Überschneidungen mit der Ausprägung des funktionellen Schweregrades, was nichts anderes bedeute, als dass auch bei einem schweren psychischen Leiden nicht automatisch auf eine ausgeprägte funktionelle Einschränkung zu schliessen sei.35
5. Kritik an der Indikatorenpraxis
Angesichts der grossen Bedeutung, welche der Indikatorenpraxis mit der Praxisänderung fortan beikommt, drängt sich eine kritische Würdigung auf.
5.1 Verwandtschaft mit der Überwindbarkeitspraxis
Der Ursprung der Indikatorenpraxis liegt in der Schmerzpraxis mit der ihr eigenen Überwindbarkeitsvermutung. Vor 14 Jahren hat das Bundesgericht mit BGE 130 V 352 erstmals entschieden, bei Vorliegen einer somatoformen Schmerzstörung gelte die Vermutung, das Leiden liesse sich mit der notwendigen Willensanstrengung überwinden, ausser es bestünden zwei oder mehrere psychische Krankheiten nebeneinander (psychische Komorbidität) oder die Förster’schen Ausnahmekriterien36 seien mehrheitlich erfüllt.
Das Bundesgericht rechtfertigte die Überwindbarkeitspraxis damals mit dem Ansatz, Schmerzstörungen und deren Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit liessen sich nicht beweisen. Damit schritt es zu einer Begriffspaarung, die inhaltlich nicht zusammenpasst. Es ist bis heute unerfindlich, warum Leiden, die man bildgebend oder labortechnisch nicht beweisen kann, im Regelfall überwindbarer sein sollten als bildgebend nachweisbare.
Der Rest ist Geschichte: Das Bundesgericht hatte in den folgenden elf Jahren bis zur Praxisänderung von BGE 141 V 281 kaum je auf Nichtüberwindbarkeit erkannt.37
Im Grundsatzentscheid BGE 141 V 281 gesteht das Bundesgericht offen ein, seine Überwindbarkeitspraxis sei als Korrektiv zu der damals starken Zunahme von IV-Renten für psychosomatische Krankheiten zu verstehen. Allein in der Zeit von Dezember 2000 bis Dezember 2005 habe die Zunahme 27 Prozent betragen. Die rechtsanwendenden Stellen hätten damals bei Schmerzsyndromen und vergleichbaren psychosomatischen Leiden häufig tel quel die Einschätzungen behandelnder Ärzte akzeptiert, welche verbreitet von der Diagnose direkt auf die Arbeitsunfähigkeit geschlossen hätten. Die Einhaltung der gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen sei offensichtlich nicht mehr gewährleistet gewesen. Erst das mit BGE 130 V 352 eingeführte Regel-Ausnahme-Modell habe die gesetzmässige Praxis wiederherstellen können.
Damit erklärt das Bundesgericht die Überwindbarkeitspraxis im Nachhinein als sozialpolitisches Korrektiv im Zusammenhang mit den Sparmassnahmen bei der Invalidenversicherung und nimmt damit in Verletzung der Gewaltenteilung eine politische Aufgabe wahr.
Die rechtspolitische Verortung, das Umsetzen der IV-Sparvorlage durch die Gerichte, ist im Ergebnis auch bei der Indikatorenpraxis zu spüren, setzte diese doch den Trend der restriktiven Rentenzusprache fort. Die im Zusammenhang mit BGE 141 V 281 aufkeimende Hoffnung, es würden gestützt auf die Indikatorenpraxis fortan mehr Teilrenten zugesprochen, weil der Alles-oder-nichts-Mechanismus der Überwindbarkeitsvermutung wegfalle, hat sich mittlerweile zerschlagen.38
5.2 Einschränkung des Rechts auf Beweis
Das Bundesgericht hat in BGE 137 V 210 zu Recht erkannt, im Verfahren um Sozialversicherungsleistungen bestehe ein relativ hohes Ausmass an Ungleichheit der Beteiligten zugunsten der Verwaltung. Der versicherten Person mit oftmals nur geringen finanziellen Mitteln stehe eine spezialisierte Fachverwaltung mit erheblichen Ressourcen und besonders ausgebildeten Sachbearbeitern sowie juristischen und medizinischen Fachpersonen gegenüber.39
Dieser ungleichen Tendenz leistet die Indikatorenpraxis Vorschub. Die Verwaltung erhält ein Instrument, jegliche Gutachten, die eine Arbeitsunfähigkeit attestieren, zu entkräften und im Anschluss darauf geltend zu machen, der Versicherte habe den Nachweis einer invaliditätsrelevanten Arbeitsunfähigkeit nicht erbringen können, wofür er die Beweislast trage und die Folgen der Beweislosigkeit zu vertreten habe.
Bei vorschnellem Abstellen auf die Indikatoren besteht die Gefahr, den Untersuchungsgrundsatz zu verletzen.40 Weder die Verwaltung noch das Gericht dürfen als medizinische Laien, ohne entsprechende Nachforschungen angestellt zu haben, einen Leistungsanspruch wegen Beweislosigkeit abweisen.41
5.3 Machtzuwachs bei Verwaltung und Gerichten
Die rechtsanwendenden Stellen erhalten mit der Indikatorenpraxis ein Instrument, fachärztliche Gutachten zu entkräften. Der Machtzuwachs bei der Verwaltung ist damit Programm und kritisch zu hinterfragen. Daniel Hell, ehemaliger Chefarzt der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, hat im Interview des «Tages-Anzeigers» vom 14. Dezember 2017 zu Recht darauf hingewiesen, die Entscheidungsmacht verschiebe sich weg von den Medizinern hin zur Verwaltung.
5.4 Therapieresistenz spielt weiterhin eine Rolle
Die neue Praxis wurde von der Lehre und der Presse begrüsst, weil das Bundesgericht dabei das widersinnige Argument der Therapieresistenz fallenliess.42 Zu bemerken bleibt, dass das Argument damit nicht vom Tisch ist, sondern über die Hintertüre des Indikators nach wie vor erhalten bleibt, wenn auch nicht mehr als Ausschlusskriterium.
6. Einschätzung aus Sicht des Praktikers
Dass die Kritik an der Umsetzung der Indikatorenpraxis berechtigt ist, ergeben die Feststellungen aus der Praxis:
Bei psychosomatischen Beschwerdebildern wurden auch seit der Praxisänderung von BGE 141 V 281 kaum je IV-Renten zugesprochen, was statistisch gegen ein ergebnisoffenes Indikatoren-Beweisverfahren spricht.43
Nach wie vor werden «Alles- oder-nichts-Entscheide» gefällt. Der aus der Überwindbarkeitspraxis bekannte Mechanismus ist keiner ergebnisoffeneren Beurteilung gewichen. Es kommt bei den unklaren Beschwerdebildern nach wie vor kaum zur Anerkennung einer rentenbegründenden Arbeitsunfähigkeit. Es wird dabei auch nicht auf Teilarbeitsunfähigkeit erkannt, wie nach BGE 141 V 281 in Aussicht gestellt.
Die Indikatoren dienen der IV-Sachbearbeitung vornehmlich dazu, ärztliche Gutachten, in denen eine IV-relevante Arbeitsunfähigkeit attestiert wird, mit dem Hinweis zu entkräften, es sei letztendlich der Rechtsanwender, welcher über das Ausmass der Arbeitsunfähigkeit zu entscheiden habe. Dies führt zu einer «Lose-lose»-Situation für die Versicherten. Entweder wird bereits im medizinischen Gutachten keine invaliditätsrelevante Arbeitsunfähigkeit attestiert oder es wird eine vom Gutachter attestierte Arbeitsunfähigkeit von der IV-Sachbearbeitung unter Hinweis auf eine andere Indikatorenwertung entkräftet, selbst wenn der Gutachter die Indikatoren bei seiner Einschätzung der Arbeitsfähigkeit bedient hatte.
Dass die Verwaltung umgekehrt aufgrund der Indikatoren eine im Gutachten attestierte Arbeitsfähigkeit hinterfragte, war bislang nie der Fall, obwohl dies aufgrund ihrer entscheidenden Rolle bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit ebenso möglich sein müsste.
Die IV-Sachbearbeitung zieht Indikatoren heran, die nicht symmetrisch zum Anforderungsprofil der abgefragten Arbeitsunfähigkeit stehen. Anstatt die Indikatoren zur Plausibilisierung einer vom Gutachter festgestellten Arbeitsunfähigkeit heranzuziehen, schreitet die Administration zu einer eigenen Beurteilung. Verbreitet ist dabei der Indikator «Familie» oder «Freunde und Bekannte», wonach jemandem, der in einer Familie mit Kindern lebt oder der Freunde und Bekannte hat, eine IV-relevante Arbeitsunfähigkeit mit dem Argument abgesprochen wird, wer zu Kindern schauen könne, könne auch arbeiten, und wer Freunde und Bekannte habe, könne daraus genügend Ressourcen ziehen, um die gesundheitliche Einschränkung zu kompensieren.
Bei der IV-Sachbearbeitung beliebt ist auch die Annahme einer Leidenskompensation wegen Hobbys, Autofahrten, Ferien und Fernsehen. Aber allein schon die Tatsache, dass jemand in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen, wurde schon dafür verwendet, eine Kompensation des Leidens anzunehmen. Eine solche Argumentation findet man auch im Zusammenhang mit Haustierhaltung. Ironisch überspitzt lässt sich kalauern, ähnlich wie Blindenhunde könne die IV Indikatoren- oder Kompensationshunde abgeben, um den Grundsatz «Eingliederung vor Rente» effizient umzusetzen.
Die ergebnisoffene Würdigung, ob die vorhandenen Funktionseinbussen durch die erhobenen Befunde abgedeckt und erklärbar sind,44 wird oft damit unterlaufen, dass eine Abarbeitung der Indikatorenliste stattfindet, ohne zu berücksichtigen, dass ein Indikator besonders ausgeprägt gegeben ist. Zu vermeiden ist, dass es auch hier zu einer schematischen Wertung nach Anzahl erfüllter und nicht erfüllter Indikatoren kommt, wie bei der Gerichtspraxis zur UVG-Adäquanz geschehen.45
Unklar bleibt, welche Kompetenzen die IV-Sachbearbeitung mit sich bringen muss, um ärztliche Einschätzungen zur Arbeitsunfähigkeit aus den Angeln zu heben. Zu fordern ist eine spezifische Ausbildung, auch im Sinne einer gleichen Rechtsanwendung.
Die Gerichte sehen in der Regel davon ab, die von der Verwaltung vorgenommene Indikatorenprüfung zu hinterfragen. Ähnlich wie bei der IV-Haushaltabklärung46 wird auf das Ermessen der Administration verwiesen. Da die Beantwortung der einzelnen Indikatoren als Tatfrage gilt, ist deren Bewertung in der Regel bloss vor kantonaler Instanz überprüfbar.
Dies bedeutet, dass der IV-Verwaltung im Administrativverfahren sehr viel Gewicht zukommt – als Gegenstück sollten die Parteirechte im Administrativverfahren ausgebaut werden, z.B. durch das Zulassen von Zeugeneinvernahmen47 im Administrativverfahren sowie das Gewähren eines unentgeltlichen Rechtsbeistands bei finanzieller Bedürftigkeit.48
Die Indikatorenprüfung erinnert zuweilen an ein «Jekami». Die Rollenteilung zwischen Gutachter und Administration erschien bislang wenig geklärt.
Das Bundesgericht hat dies erkannt und aktuell mit seinem Urteil 8C_260/2017 vom 1. Dezember 201749 die Kompetenz der Rechtsanwender etwas relativiert. Hinsichtlich der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit hätten sich sowohl die medizinischen Sachverständigen als auch die Organe der Rechtsanwendung bei ihrer Einschätzung des Leistungsvermögens an den normativen Vorgaben zu orientieren. Die Rechtsanwender müssen die medizinischen Angaben frei insbesondere daraufhin prüfen, ob sich die Ärzte an die massgebenden normativen Rahmenbedingungen hielten und ob und in welchem Umfang die ärztlichen Feststellungen anhand der rentenerheblichen Indikatoren auf Arbeitsunfähigkeit schliessen lassen. Gelange der Rechtsanwender dabei zum Schluss, ein Gutachten erfülle die versicherungsmedizinischen Massstäbe und die Arbeitsfähigkeit sei unter Berücksichtigung der Indikatoren geprüft, so sei das Gutachten beweiskräftig und die darin formulierten Stellungnahmen zur Arbeitsfähigkeit seien zu übernehmen. Eine davon losgelöste juristische Parallelprüfung nach Massgabe des strukturierten Beweisverfahrens solle nicht stattfinden.
7. Fazit
Begrüssenswert ist, dass das Bundesgericht das Argument der Therapieresistenz fallenliess und dabei auf die medizinische und juristische Kritik reagiert. Von erheblicher Bedeutung ist auch die Klarstellung beim Indikator Komorbidität. Der Einbezug sämtlicher diagnostizierbarer Leiden führt zu sachgerechteren Resultaten, zumal jedes der Leiden eine gesundheitliche Belastung darstellt.
Das Unterstellen aller psychischen Leiden unter die Indikatorenpraxis macht deren Stellenwert noch grösser. Umso wichtiger erscheint, auch die Indikatorenbewertung der Verwaltung auf Plausibilität zu prüfen – konkret auf das Tätigkeitsprofil bezogen, auf welches die Aussage zur Arbeitsfähigkeit gemacht wird.
Allgemeinplätze zu Familie oder Haustieren sollten nicht tel quel auf eine vollständige Leidenskompensation schliessen lassen. Bei der Indikatorenbewertung zu wenig berücksichtigt bleibt auch die Tatsache, dass die Indikatoren meist in einer Situation erhoben werden, in welcher der Versicherte keiner Arbeit nachgeht. Dabei bleibt aussen vor, wie die Indikatoren zu werten wären, wenn parallel dazu die Belastung einer Arbeitstätigkeit anfiele. Ein Fakt, welchen das Bundesgericht bei der Bemessung des Invaliditätsgrades unter Mitberücksichtigung des Haushaltes berücksichtigt.50
Beim Begriff der Arbeitsunfähigkeit sollte konsequent zwischen der Arbeitsunfähigkeit nach Art. 6 ATSG und der gesetzlich nicht beschriebenen Invaliditäts-Arbeitsunfähigkeit unterschieden werden.
Ein gewisser Widerspruch ist auszumachen, wenn das Bundesgericht für das Zuerkennen eines Leidens eine lege artis erhobene Diagnose abverlangt, gleichzeitig aber immer wieder ausführt, gerade bei psychischen Leiden sei die Diagnosestellung schwierig und einem steten Wandel unterzogen. Konsequent wäre diese «Diagnoseorthodoxie» zugunsten der Frage aufzugeben, ob eine funktionelle Beeinträchtigung überwiegend wahrscheinlich erscheint, auch wenn das eine oder andere Diagnosekriterium nach den Klassifikationen der Krankheiten51 nicht erfüllt ist.
Bemerkenswert ist schliesslich, dass das Bundesgericht mehrfach festhält, es sei eine Rechtsfrage, ob die Indikatoren auf eine Arbeitsunfähigkeit schliessen liessen. Damit besteht für diese wesentliche Frage bundesgerichtliche Überprüfungskognition.
Schliesslich sei der Hinweis erlaubt, dass auch mit der Indikatorenpraxis das grundsätzliche Problem der Leistungsprüfung nicht gelöst wird, nämlich die Frage nach der Neutralität und Unabhängigkeit der medizinischen Gutachter.52 Im Gegenteil, mit dem Auftreten der Verwaltung als zweitem Player für die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit hat sich auch die Frage nach der Neutralität verschärft.
Wünschenswert wäre, anstelle des immer komplexer und technokratischer anmutenden Abklärungsprozesses die paritätische Begutachtung einzuführen, mit von Versicherten wie auch Versicherungen bestellten medizinischen Gutachterstellen. Dabei würde es bei polydisziplinärem Ansatz genügen, bei der Konsensbeurteilung Parität walten zu lassen.
Die Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit bleibt letztlich eine ureigene medizinische Aufgabe. Kommt es dabei zu nicht plausiblen, inkonsistenten Resultaten, so konnte und kann der Rechtsanwender das Gutachten in freier Beweiswürdigung unter Angabe seiner Gründe für nicht beweiskräftig erachten. Möglich ist dies auch ohne schematisiertes Validierungsverfahren, welches die Gefahr birgt, eine Eigendynamik zu entwickeln und die massgebliche Fragestellung – die nach der Arbeitsunfähigkeit – zu verdrängen.
Unter verdankenswerten Hinweisen von Rechtsanwalt Kaspar Gehring und Rechtsanwalt Jürg Senn.
Publiziert am 19.12.2017.
Vgl. zur Invaliditätsarbeitsunfähigkeit David Husmann, «Schleudertrauma und Versicherungsleistungen», in: René Schaffhauser (Hrsg.), Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht, Zürich 2016, S. 6, ; Ueli Kieser, ATSG Kommentar, 3. Aufl., Zürich 2015, N 46 und 47 zu Art. 6 ATSG.
Vgl. Art. 7 Abs. 1 ATSG: «Erwerbsunfähigkeit ist der durch Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit verursachte und nach zumutbarer Behandlung und Eingliederung verbleibende ganze oder teilweise Verlust der Erwerbsmöglichkeiten auf dem in Betracht kommenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt.»
BGE 141 V 281, E. 6.
Vgl. Art. 6 ATSG: «Arbeitsunfähigkeit ist die durch Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit bedingte, volle oder teilweise Unfähigkeit, im bisherigen Beruf oder Aufgabenbereich zumutbare Arbeit zu leisten.»
BGer 8C_130/2017
vom 30.11.2017, E. 6.
Vgl. Art. 8 des Bundesgesetzes über die universitären Medizinalberufe (MedBG), SR 811.11.
BGE 127 V 299.
BGer 8C_130/2017
vom 30.11.2017, E. 7.2.
Bei der Schleudertraumapraxis hatte das Bundesgericht die damalige
IV-Schmerzrechtsprechung («Überwindbarkeitspraxis») auch auf die Berentung nach UVG angewandt. Konsequenz war, dass für eine UVG-Rente eine doppelte Hürde zu überwinden war: die schleudertraumaspezifischen Adäquanzkriterien und die Überwindbarkeitsvermutung. Nun wurden keine UVG-Schleudertrauma-Renten mehr zugesprochen. Ähnlich verhielt es sich bei der UVG-Psychopraxis.
BGer 9C_901/2005
vom 5.2.2010, E 3.2.
Roman Schleifer / Ueli Kieser et al., «Der Begriff der Therapieresistenz bei unipolaren depressiven Störungen aus medizinscher und aus rechtlicher Sicht – eine Standortbestimmung im
Nachgang zu BGE 9C_13/2016», in: HAVE 2017, S. 266.
Vgl. Eva Slavik, «Invalidenrentenanspruch bei depressiven Erkrankungen», in: Jusletter vom 4.9.2017; Rahel Sager, «Die bundesgerichtliche Rechtsprechung betreffend Depressionen»,
in: SZS 4/2015, S. 308 ff.
BGer 8C_841/2016
vom 30.11.2017, E. 4.2.1.
unter Hinweis auf Sager,
a.a.O., S. 308 ff.
Vgl. Slavik, a.a.O.
BGer 8C_841/2016
vom 30.11.2017, E. 4.4.
BGE 141 V 281, E. 4.1.3.
BGE 141 V 281, E. 2.7.1.
BGer 8C_841/2016
vom 30.11.2017, E. 5.2.1.
BGer 8C_130/2017
vom 30.11.2017, E. 7.2.
BGer 8C_308/2017
vom 27.9.2017, E. 2.2; BGer 8C_441/2015 vom 21.8.2015,
E. 3; BGer 8C_283/2015
vom 24.6.2015, E. 3.
BGer 8C_130/2017 vom 30.11.2017, E. 6. und E. 7.1.
BGE 105 V 156, E.1,
BGE 132 V 93, E. 4.
BGE 140 V 193.
BGer 8C_841/2016
vom 30.11.2017, E. 4.3. unter
Hinweis auf Peter Hennigsen,
«Probleme und offene Fragen in der Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit bei Probanden mit funktionellen Körperbeschwerdesyndromen», in: SZS 6/2014, S. 524.
BGer 8C_841/2016 vom 30.11.2017, E. 4.5.1, unter Hinweis auf Wolfgang Hausotter, Begutachtung somatoformer und funktioneller Störungen, München/Jena 2004, S. 36.
BGer 8C_130/2017
vom 30.11.2017, E. 7.1.
BGer 8C_130/2017
vom 30.11.2017, E. 7.1.
BGer 8C_130/2017
vom 30.11.2017, E. 7.2.
Ursprünglicher Anwendungsbereich: Somatoforme Schmerz-
störung und vergleichbare psychosomatische Leiden, als deren sind: Fibromyalgie, dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörung, dissoziative Bewegungsstörung, Chronic Fatigue Syndrome, Neurasthenie, HWS-Distorsion, leichte Persönlichkeitsänderung bei chronischem Schmerzsyndrom, posttraumatische Belastungsstörung und neu jetzt auch Depression.
BGer 8C_130/2017
vom 30.11.2017, E. 8.1.
BGer 8C_130/2017
vom 30.11.2017, E. 5.2.2.
BGer 8C_130/2017
vom 30.11.2017, E. 5.2.2.
BGer 8C_130/2017
vom 30.11.2017, E. 5.2.3.
Dazu zählten: chronische körperliche Begleiterkrankungen, mehrjähriger, chronifizierter Krankheitsverlauf mit unveränderter oder progredienter Symptomatik, vollständiger sozialer Rückzug, verfestigter, therapeutisch nicht mehr beeinflussbarer innerseelischer Verlauf einer an sich missglückten, psychisch aber entlastenden Konfliktbewältigung (sog. primärer Krankheitsgewinn), Scheitern einer konsequent durchgeführten ambulanten oder stationären Behandlung (auch mit unterschiedlichem therapeutischem Ansatz) trotz kooperativer Haltung.
Eine der wenigen Ausnahmen: BGer 9C_148/2012
vom 17.9.2012.
Vgl. Michael E. Meier, «Ein
Jahr neue Schmerzrechtsprechung», in: Jusletter vom 11.7.2016.
BGE 137 V 210, E. 2.1.2.2.
Art. 43 ATSG für das Verwaltungsverfahren und Art. 61 lit.c ATSG für das Sozialversicherungsgerichtsverfahren.
Erich Züblin, «Psychosomatische Gesundheitsstörungen im Sozialversicherungs-, Privatversicherungs- und Haftpflichtrecht», S. 315 und S. 321 f., in: Ueli Kieser (Hrsg.), Psychosomatische Störungen im Sozialversicherungsrecht, Zürich/
St. Gallen 2017.
Besonders deutlich: Thomas Gächter / Michael E. Meier,
«Praxisänderung zu Depressionen und anderen psychischen Leiden», in: Jusletter vom 15.1.2018.
Meier, a.a.O.
BGer 8C_841/2016
vom 30.11.2017.
BGE 134 V 109, E. 10.2.
BGer I 524/06
vom 25.5.2007, E. 2.2.3.
Massimo Aliotta, Begutachtungen im Bundessozialversicherungsrecht, Zürich 2017, S. 144 ff.
Ders., a.a.O., S. 268 f.
In Fünferbesetzung gefällt.
BGE 134 V 9.
ICD 10 oder DSM-5.
Vgl. Christian Haag, «Durchzogene Bilanz viereinhalb Jahre nach
dem Medas-Urteil», in: Jusletter vom 12.10.2015.