Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats-/Verwaltungsrecht
Ein Journalist hatte das Fedpol um Auskunft darüber ersucht, ob er im Schengener Informationssystem verzeichnet sei, weil er seit zwei Jahren bei jeder Einreise in den Schengenraum angehalten und eingehend befragt werde. Das Fedpol nahm Rücksprache mit den Behörden des ausschreibenden Staates Bulgarien und verwehrte ihm die Auskunft, weil deren Erteilung den Zweck eines Untersuchungsverfahrens in Frage stellen würde. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde des Journalisten teilweise gut. Das Schengen-System darf nicht für eine Überwachung missbraucht werden, zumal zahlreiche Berichte darauf hindeuten, dass eine Verschlechterung der Pressefreiheit im ausschreibenden Staat im Raum steht. Das Fedpol muss weitere Informationen über die Art und Dauer der laufenden Untersuchung einholen und überprüfen, ob sich eine Verweigerung der Auskunft rechtfertigen lässt.
1C_597/2020 vom 14.6.2021
Den politisch verantwortlichen Behörden muss beim Erlass von Coronamassnahmen ein relativ bedeutender Beurteilungsspielraum zugestanden werden. Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage, sie müssen insbesondere verhältnismässig sein. Dabei muss die Unbestimmtheit der gesetzlichen Grundlage (Art. 40 Epidemiengesetz) kompensiert werden durch erhöhte Anforderungen an die Prüfung der Verhältnismässigkeit. Es können nicht beliebig strenge Massnahmen ergriffen werden, um jegliche Krankheitsübertragung zu verhindern. Vielmehr ist nach dem akzeptablen Risiko zu fragen und eine Abwägung zwischen den involvierten Interessen vorzunehmen. Massnahmen müssen aufgrund des jeweils aktuellen Wissensstandes getroffen und mit fortschreitendem Wissensstand angepasst werden. Sie dürfen nur so lange dauern, wie es notwendig ist, um die Verbreitung der übertragbaren Krankheit zu verhindern.
2C_793/2020, 2C_941/2020 und 2C_8/2021 vom 8. Juli 2021
Gerichtsurteile in familienrechtlichen Verfahren sind der Öffentlichkeit in geeigneter Weise zugänglich zu machen. Anliegen des Persönlichkeitsschutzes kann in der Regel durch Anonymisierung genügt werden, auch in einem eher kleinen Kanton wie Zug. Das Argument, das eingereichte Einsichtsgesuch verursache zu viel Aufwand, lässt das Bundesgericht nicht gelten. Es ist zulässig, Urteile nicht systematisch zu veröffentlichen, hat aber zur Folge, dass Einsichtsgesuche einen gewissen Aufwand verursachen. Es besteht kein Anspruch auf Zustellung der Urteile; vielmehr ist in der Kanzlei Einsicht zu nehmen. Es ist zulässig, eine Gebühr zu verlangen; diese darf jedoch nicht übermässig sein, andernfalls könnte die Zielsetzung der Justizöffentlichkeit, nämlich für Transparenz in der Rechtsprechung zu sorgen, unterlaufen werden.
1C_307/2020 vom 16.6.2021
Zivilrecht
Das Bundesgericht hat die bisher offene Frage entschieden, ob ein Aktionär einen Anspruch auf die wertpapiermässige Verbriefung seiner Mitgliedschaft hat. Im Obligationenrecht ist die Frage nicht geregelt, in der Lehre umstritten. Lausanne hat nun entschieden, dass Aktionäre einen gesetzlichen Anspruch auf eine Verbriefung ihrer Mitgliedschaftsrechte in einem Wertpapier haben. Dieser grundsätzliche Anspruch kann jedoch zumindest bei Namenaktien in den Statuten ausgeschlossen werden.
4A_39/2021 vom 9.8.2021
Gestatten es die finanziellen Verhältnisse, bei der Unterhaltsberechnung über das betreibungsrechtliche Existenzminimum hinauszugehen, ist im Rahmen des familienrechtlichen Existenzminimums des Kindes – wie bei den Eltern – ein Steueranteil einzusetzen. Umstritten ist, wie dieser Steueranteil zu ermitteln ist. Einerseits führt der Anteil der Kinder – namentlich in einem progressiven Steuersystem – tendenziell zu höheren Steuern; umgekehrt gibt es allgemeine und spezielle Kinderabzüge und in den meisten Kantonen für alleinerziehende Eltern einen tieferen Steuertarif. Eine allen Aspekten Rechnung tragende mathematische Aufteilung ist nicht möglich und kaum praktikabel. Das Bundesgericht versucht es trotzdem: Die dem Kind zuzurechnenden, aber vom Empfängerelternteil zu versteuernden Einkünfte sind in das Verhältnis zu den vom Empfängerelternteil insgesamt zu versteuernden Einkünfte zu setzen und der ermittelte Anteil an der gesamten Steuerschuld des Empfängers im erweiterten Bedarf des Kindes zu berücksichtigen.
5A_816/2019 vom 25.6.2021
Der Unterhalt an die geschiedene Ehefrau und die Kinder ist grundsätzlich aus dem laufenden Einkommen – Erträge aus Arbeit und Vermögen – zu decken. Wenn die Mittel für die Deckung des Unterhalts nicht ausreichen, kann ausnahmsweise auf die Vermögenssubstanz zugegriffen werden. Ob und in welchem Umfang dies zumutbar ist, muss anhand sämtlicher Umstände des Einzelfalls beurteilt werden. Der Fall betraf einen arbeitslosen Millionärs mit einem Vermögen von 4,2 Millionen Franken, das aus einer Erbschaft stammt. Durch Erbanfall erworbenes Vermögen darf grundsätzlich nicht zur Sicherstellung des Unterhalts der Berechtigten (Frau und Kinder) beigezogen werden. Dabei spielt die Höhe des Vermögens keine Rolle. Im konkreten Fall war es – auch angesichts des Vermögens der Frau – nicht zulässig, den Ex-Mann zu verpflichten, den zuletzt gemeinsam gelebten Standard mit Unterhaltsbeiträgen aus dem ererbten Vermögen zu finanzieren.
5A_582/2018 und 5A/588/2018 vom 1.7.2021
Strafrecht
Die vorzeitige Aufhebung einer stationären Massnahme nach Art. 59 StGB betrifft deren Weiterbestand. Dabei handelt es sich nicht um eine Vorkehr des Vollzugsalltags, sondern um eine Angelegenheit mit erheblicher Tragweite für die Rechtsstellung der betroffenen Person und/oder das öffentliche Sicherheitsinteresse. Die vorzeitige Aufhebung einer stationären Massnahme muss deshalb von einem Gericht beurteilt werden. Entgegen der Auffassung der Zürcher Justiz fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage, um die Aufhebung einzelrichterlich zu beurteilen. Indem die Zürcher Justiz dies zuliess, verletzte sie die Garantie des verfassungsmässigen Richters.
6B_764/2021 vom 18.8.2021
In der Lehre wird die Auffassung vertreten, ein früheres Strafverfahren gegen einen Zeugen wegen falscher Aussage sei dazu geeignet, Bedenken an dessen Glaubwürdigkeit hervorzurufen. Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, Zeugen seien zwingend zu allfälligen Strafverfahren wegen Rechtspflegedelikte zu befragen. Eine solche Befragung hat nur mit Zurückhaltung und soweit nötig zu erfolgen. Entscheidend ist die Glaubhaftigkeit der konkreten Zeugenaussage und nicht die allgemeine Glaubwürdigkeit des Zeugen. Sind die konkreten Aussagen als glaubhaft zu qualifizieren, weil sie in sich stimmig sind, Realitätskriterien aufweisen und durch identische Aussagen weiterer Zeugen sowie weiterer Indizien bestätigt, erübrigen sich solche Abklärungen, sofern eine Absprache zwischen den Zeugen ausgeschlossen werden kann.
6B_323/2021 vom 11.8.2021
Sozialversicherungsrecht
Infolge der bundesrätlichen Massnahmen gegen das Coronavirus blieb ein Sex-Club während drei Monaten geschlossen. Die Betreiberfirma stellte ein Gesuch um Kurzarbeitsentschädigung für 30 Beschäftigte. Das Bundesgericht hat entschieden, dass für ausländische Sexarbeiterinnen, die als Angestellte in einem Club tätig und in der Schweiz im Meldeverfahren registriert sind, im Zusammenhang mit dem Coronavirus kein Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung besteht. Es betrachtet die Tätigkeit der Sexarbeiterinnen als Arbeit auf Abruf. In solchen Fällen besteht ein Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung nur bei Personen, die seit mindestens sechs Monaten in einem Betrieb arbeiten. Daran fehlt es bei den Sexarbeiterinnen im Meldeverfahren, sie dürfen nur maximal drei Monate in der Schweiz tätig sein.
8C_17/2021 vom 20.5.2021
Gemäss Art. 23 Abs. 1 AHVG haben Witwen und Witwer Anspruch auf eine Witwen- bzw. Witwerrente, sofern sie im Zeitpunkt der Verwitwung Kinder haben. Diese Rente erlischt u.a. mit der Wiederverheiratung und lebt wieder auf, wenn die neue Ehe geschieden oder als ungültig erklärt wird. Wenn sich eine Person mehrmals wieder verheiratet, kann die Rente laut Bundesgericht nur nach Auflösung der zweiten Ehe durch Scheidung oder Ungültigerklärung wieder aufleben. Bei weiteren Ehen und Scheidungen/Ungültigerklärungen ist ein Wiederaufleben der Rente ausgeschlossen.
9C_763/2020 vom 2.7.2021