Staats-/Verwaltungsrecht
In einem Grundsatzentscheid zu Schiessanlagen mit zu hoher Lärmbelastung und überschrittenen Emissionsgrenzwerten hält das Bundesgericht zur Frage der Gewährung von Erleichterungen fest: «Je länger eine befriedigende innerkantonale Lösung der Lärmproblematik nicht gefunden werden kann, desto mehr gebietet das erhebliche öffentliche Interesse an der Verminderung des Lärms und das private Interesse der Anwohnerinnen und Anwohner an der Einhaltung der Immissionsgrenzwerte eine stärkere Beschränkung des Schiessbetriebes.» Konsequenz: Reduzierung der Schiesshalbtage von 13,5 auf 11,5 Halbtage (Pegelkorrektur −20,3 dB) und Verkürzung der Sanierungserleichterungen um zwei Jahre.
1C_162/2020 vom 16.4.2021
Das neue Zuger Denkmalschutzgesetz (DMSG) verstösst gegen übergeordnetes Recht, genauer gesagt gegen das Übereinkommen zum Schutz des baugeschichtlichen Erbes in Europa (Granada-Übereinkommen von 1985). Konkret geht es um die Bestimmung von § 25 Abs. 4 des Gesetzes, wonach lokale Objekte, die jünger als 70 Jahre sind, nicht gegen den Willen der Eigentümerschaft unter Schutz gestellt werden können. Obwohl sich eine Schutzwürdigkeit häufig erst durch Zeitablauf ergibt, ist es laut Bundesgericht nicht zwingend, jüngere Objekte ganz vom Denkmalschutz auszuschliessen. «Mitunter kann eine Baute schon nach kurzer Zeit schutzwürdig sein, was ausnahmsweise auch für lokale und nicht nur nationale oder regionale Denkmäler zutreffen mag.»
1C_43/2020 vom 1.4.2021
Vor zehn Jahren sanktionierte die Wettbewerbskommission Unternehmen, welche im Kanton Aargau mit Absprachen nach Art. 5 des Kartellgesetzes den wirksamen Wettbewerb beseitigt hatten. Die Abreden betrafen öffentliche und private Submissionen. In der Folge verlangte der Kanton Aargau bei der Weko Einblick in diejenigen Verfahrensakten, in welchen der Kanton als Auftraggeber beteiligt war. Während die Weko Einsicht gewährte, verweigerte das Bundesverwaltungsgericht gestützt auf das Datenschutzgesetz die Einsichtnahme. Im umfangreichen Urteil zeigt nun das Bundesgericht auf, dass das Datenschutzgesetz einer Einsichtnahme seitens des Kantons Aargau nicht entgegensteht.
2C_1040/2018 und 2C_1051/2018 vom 18.3.2021
Anlässlich der «Klima-Aktionstage» in Basel hatten mehrere Personen an einer Blockade eines Bankgebäudes teilgenommen, mit Kohlestücken Parolen angebracht, Überwachungskameras abgeklebt und Eingänge blockiert. Gegen drei Aktivisten wurde ein Strafverfahren wegen des Verdachts auf Nötigung, Land- und Hausfriedensbruch und weitere Delikte eröffnet. Die Staatsanwaltschaft ordnete die Abnahme von Fingerabdrücken und von DNA-Proben sowie die Erstellung von DNA-Profilen an. Das Bundesgericht hat Beschwerden der drei Klima-Aktivisten gutgeheissen und die Löschung aller Fingerabdrücke sowie eines DNA-Profils angeordnet. Zur Abklärung der konkret untersuchten Delikte seien die DNA-Profile und die Fingerabdrücke nicht erforderlich. Eine systematische Registrierung politisch aktiver Personen, die von ihren Grundrechten Gebrauch machen, stehe in keinem vernünftigen Verhältnis zu den Zwecken, die mit der Erstellung eines DNA-Profils und der erkennungsdienstlichen Erfassung verfolgt werden.
1B_285/2020, 1B_286/2020, 1B_287/2020, 1B_293/2020 und 1B_294/2020 vom 22.4.2021
Gemäss Art. 122 des Gesetzes über das Bundesgericht BGG kann die Revision eines Entscheids des Bundesgerichts verlangt werden, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem endgültigen Urteil festgestellt hat, dass die EMRK oder die Protokolle dazu verletzt worden sind. Diese Voraussetzungen erachtet das Bundesgericht in einem Fall als gegeben, in welchem der Kanton Zürich und letztlich auch die Richter in Lausanne keine Ermächtigung zur Durchführung eines Strafverfahrens gegen fünf Polizeibeamte erteilt hatten. Konkret ging es um einen suizidgefährdeten Mann, der in eine Abstandszelle gesperrt worden war und sich dort aufgehängt hatte. Das Bundesgericht bejaht nunmehr, dass ein Anfangsverdacht – im Sinne des Grundsatzes «in dubio pro duriore» – für ein fehlerhaftes Verhalten der Polizeibeamten zu bejahen ist und dementsprechend die Ermächtigung zur Eröffnung eines Strafverfahrens wegen fahrlässiger Tötung zu erteilen ist.
1F_29/2020 vom 27.4.2021
Gemäss Art. 19 Abs. 2 StPO können Bund und Kantone unter anderem für bestimmte Bereiche als erstinstanzliches Gericht ein Einzelgericht vorsehen. Die Urteilskompetenz des Einzelrichters bei Freiheitsstrafen ist auf zwei Jahre begrenzt. Im Schrifttum wird der Kompetenzrahmen als zu weit kritisiert. Nun fordert das Bundesgericht eine restriktive Anwendung der entsprechenden Bestimmung. Die Grenze von zwei Jahren ist streng zu handhaben und darf «unter keinen Umständen überschritten werden». Im beanstandeten Fall auferlegte ein Einzelrichter dem Beschuldigten eine Freiheitsstrafe von 16 Monaten, hob gleichzeitig eine ambulante Massnahme eines andern Gerichts wegen Erfolglosigkeit auf und erklärte eine von diesem Gericht ausgesprochene 30-monatige Freiheitsstrafe für vollziehbar.
1B_370/2020 vom 10.5.2021
Zivilrecht
Bei Altbauten beurteilt sich die Frage, ob ein Mietzins missbräuchlich ist, anhand des Kriteriums der Orts- oder Quartierüblichkeit. In Präzisierung der bisherigen Rechtsprechung (BGE 139 III 13) ist von der Vermutung eines missbräuchlichen Mietzinses auszugehen, wenn der neue Mietzins gegenüber dem früheren massiv, das heisst um deutlich mehr als zehn Prozent erhöht wurde. Diese Vermutung kann jedoch vom Vermieter erschüttert werden, wenn es ihm gelingt, mittels Indizien an ihrer Richtigkeit begründete Zweifel zu wecken. Denkbar ist beispielsweise, dass der Vermieter auch inoffizielle Statistiken beizieht. Ein gewichtiges Indiz gegen die Vermutung eines missbräuchlichen Anfangsmietzinses ist zudem ein langes Vormietverhältnis (15 bis 20 Jahre) ohne laufende Mietzinserhöhung.
4A_183/2020 vom 6.5.2021
Strafrecht
Die Zürcher Justiz hat es laut Bundesgericht zu Recht abgelehnt, einen 74-jährigen pädophilen Täter bedingt zu entlassen. Das Alter des Verurteilten vermag angesichts des von ihm ausgehenden hohen Risikopotenzials die bedingte Entlassung nicht zu rechtfertigen. Der Massstab für eine bedingte Entlassung ist sehr streng; es muss eine hohe Wahrscheinlichkeit bestehen, dass sich der Verurteilte in Freiheit bewährt. Im konkreten Fall hatte der Verurteilte eine deliktorientierte Therapie verweigert. Für eine deliktfreie Lebensführung in Freiheit bedürfte es gemäss Gutachten einer engmaschigen Überwachung.
6B_124/2021 vom 24.3.2021
Grundsatzentscheid zum Sachverhaltsirrtum und zur rechtfertigenden Notwehr anhand eines Vorfalles, bei welchem ein an Schizophrenie leidender Mann mit einer Motorsäge zwei Personen verletzte. Die Schaffhauser Justiz verurteilte den Täter wegen mehrfacher versuchter vorsätzlicher Tötung im Zustand der nicht selbst verschuldeten Schuldunfähigkeit und ordnete eine stationäre therapeutische Massnahme an. Das Bundesgericht hat dieses Urteil bestätigt. In Weiterentwicklung seiner Rechtsprechung zu Art. 13 Abs. 1 StGB unterscheidet es zwischen krankheitsbedingtem und gewöhnlichem Irrtum: Der psychisch gesunde Irrende hat eine Fehlvorstellung über die objektive Wirklichkeit. Für eine an Schizophrenie leidende Person ist bereits diese objektive Wirklichkeit so nicht wahrnehmbar. Krankheitsbedingt hat sie eine eigene subjektive Wirklichkeit, die nicht mehr kritisch hinterfragt werden kann. Aus psychiatrischer Sicht ist die Rede vom Irrtum bei ihr deshalb bereits phänomenologisch verfehlt. Strafrechtlich kann dies nicht anders sein.
6B_1073/2020 vom 13.4.2021
Vor zwei Jahren verursachte ein Lenker übermüdet und alkoholisiert (0,92 Promille) einen Selbstunfall. Er war, nachdem er 24 Stunden nicht mehr geschlafen hatte, am Steuer eingeschlafen und verlor die Herrschaft über sein Fahrzeug. Er fuhr in einen Kandelaber und kam in einer Wiese zum Stillstand. Dem Bundesgericht stellte sich die Frage, ob der Lenker sowohl wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand als auch wegen Fahrunfähigkeit aus andern Gründen zu verurteilen ist. In der Lehre ist umstritten, ob zwischen Art. 91 Abs. 2 lit. a und 91 Abs. 2 lit. b SVG echte Konkurrenz anzunehmen ist. Das Bundesgericht hat diese Frage bejaht. Art. 49 Abs. 1 des Strafgesetzbuches ist anwendbar und der Lenker entsprechend härter zu bestrafen.
6B_1429/2020 vom 8.4.2021
Sozialversicherungsrecht
Steht mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit fest, dass eine rentenberechtigte Person auch ohne den erlittenen Unfall ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr länger erwerbstätig wäre, so besteht in Anwendung der allgemeinen Definition des natürlichen Kausalzusammenhangs keine Kausalität zwischen dem Unfall und dem Erwerbsausfall mehr. Vor Bundesgericht war umstritten, ob ein solcher Wegfall der Kausalität für die Invalidenrente nach UVG einen Revisionsgrund darstellt. Für den überaus häufigsten Fall – nämlich jenen der altersbedingten Aufgabe der Erwerbstätigkeit – hat der Gesetzgeber die hier interessierende Frage klar negativ beantwortet. Es würde deshalb dem gesetzgeberischen Willen und der damit verbundenen Konzeption der unfallversicherungsrechtlichen Invalidenrente als lebenslange Rente zuwiderlaufen, wenn eine vollständige Erwerbsunfähigkeit aufgrund einer unfallfremden Erkrankung des Nervensystems einen Revisionsgrund nach Art. 17 Abs. 1 ATSG darstellen würde.
8C_268/2020 vom 19.4.2021
Eine Frau hatte vor bald 20 Jahren 60 000 Franken ihres Pensionskassenguthabens zum Kauf einer Eigentumswohnung bezogen (sogenannter WEF-Vorbezug). Bis zum Jahr 2016 wohnte die Frau selber in der Wohnung, zog dann aber zu ihrem Freund und vermietete die Wohnung in der Folge. Die Pensionskasse klagte daraufhin auf Rückzahlung der vorbezogenen 60 000 Franken. Zu Unrecht. Gemäss Art. 30d BVG ist eine versicherte Person zur Rückzahlung des WEF-Vorbezugs unter anderem dann verpflichtet, wenn sie Dritten Rechte am Wohneigentum einräumt, die wirtschaftlich einer Veräusserung gleichkommen. Im konkreten Fall verneinte das Bundesgericht die Rückzahlungspflicht. Wer eine Wohnung jahrelang selber genutzt hat und später mit einer beidseitigen Kündigungsfrist von drei Monaten vermietet, untersteht keiner Rückzahlungspflicht.
9C_293/2020 vom 1.7.2021