Staats-/ Verwaltungsrecht
Präzisierung zur Frage der Überhaft: In zwei Fällen aus dem Jahr 2000, in denen die Prognose der bedingten Entlassung unsicher schien, hat das Bundesgericht die Aufrechterhaltung der Sicherheitshaft nach Ablauf von drei Vierteln der Strafe als unverhältnismässig angesehen. Auch im neueren Entscheid wies das Bundesgericht auf das Mass von drei Vierteln hin. Laut Bundesgericht ist dies jedoch keine Regel, wonach nach Ablauf von drei Vierteln der Strafe automatisch von Überhaft auszugehen wäre. «Im Sinne einer Klarstellung ist deshalb zu bestätigen, dass der Verhältnismässigkeitsgrundsatz von den Behörden verlangt, umso zurückhaltender zu sein, als sich die Haft der zu erwartenden Freiheitsstrafe nähert. Dabei ist jedoch nicht das Verhältnis der erstandenen Haftdauer zur zu erwartenden Freiheitsstrafe als solches entscheidend, sondern ist vielmehr auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen.»
1B_116/2019 vom 11.4.2019
Zivilrecht
Im Schrifttum zu Art. 31 ZPO (örtliche Zuständigkeit/charakteristische Leistung) wird kontrovers diskutiert, was zu gelten hat, wenn ein Vertrag mehrere Nichtgeldleistungen zum Inhalt hat, von denen nicht ohne Weiteres eine allein als charakteristisch erscheint. Eine Mehrheit der Autoren nimmt an, dass zumindest in bestimmten Fällen mehrere Leistungen eines Vertrages charakteristisch sein können. Sie postulieren deshalb, mehr als einen zuständigkeitsbegründenden Erfüllungsort anzuerkennen. Demgegenüber lehnen es einzelne Autoren generell ab, mehr als eine Leistung als charakteristisch zu qualifizieren. Sie argumentieren: Wo es nicht möglich sei, eine einzige charakteristische Leistung zu identifizieren, sei ganz auf den Gerichtsstand des Erfüllungsorts zu verzichten. Dadurch könne eine unerwünschte Vervielfachung der Gerichtsstände verhindert werden. Das Bundesgericht hat sich in dieser Streitfrage jetzt der Mehrheit angeschlossen: Ein Vertrag kann mehrere charakteristische Leistungen enthalten, die je gemäss Art. 31 ZPO (gilt auch für Art. 113 IPRG) einen Gerichtsstand am Erfüllungsort begründen.
4A_444/2018 vom 13.3.2019
Hat ein Mietgericht auf Antrag eines Vermieters in einem Urteil ausdrücklich festgestellt, dass eine Kündigung des Mietvertrages nicht missbräuchlich ist, darf es in einem zweiten Entscheid nicht darauf zurückkommen. Diese Feststellung bindet das Gericht im zweiten Prozess, wenn im Rahmen einer Klage auf Schadenersatz erneut geltend gemacht wird, die Kündigung verstosse gegen Treu und Glauben. Das Argument des Zürcher Obergerichts, beim Kündigungsschutzverfahren und im Schadenersatzprozess seien «zwei verschiedene Streitfragen des Lebenssachverhalts» zu beurteilen, trifft nicht zu. Im Schadenersatzprozess war wie bereits im Anfechtungsverfahren zu entscheiden, ob der Eigenbedarf der Vermieter im Zeitpunkt der Kündigung vorgelegen hatte oder ob dieser Kündigungsgrund vorgeschoben war. Da das Gericht befunden hatte, der Eigenbedarf sei ausgewiesen, setzt es sich über die Rechtskraftwirkung des ersten Urteils hinweg.
4A_563/2017 vom 19.2.2019
Das Bundesgericht hat die Streitfrage entschieden, ob es sich mit Art. 9 BV verträgt, im Beschwerdeverfahren gegen den Arresteinspracheentscheid unechte Noven zuzulassen. Es bejahte diese Frage. Gesetzessystematische und teleologische Überlegungen legen den Schluss nahe, dass zu den «neuen Tatsachen», die gemäss Art. 278 Abs. 3 Satz 2 SchKG vor der Rechtsmittelinstanz geltend gemacht werden können, gleichermassen echte und unechte Noven zählen, wobei mit den Letzteren diejenigen Tatsachen und Beweismittel gemeint sind, die bereits vor dem Einspracheentscheid bestanden haben. Diese Auslegung steht im Einklang mit zahlreichen Lehrmeinungen, die sich mit schlüssigen Argumenten für die Zulassung unechter Noven aussprechen. Allerdings müssen die unechten Noven ohne Verzug vorgebracht werden. Zudem dürfen sie von der Beschwerdeinstanz nur berücksichtigt werden, wenn sie trotz zumutbarer Sorgfalt nicht schon vor erster Instanz vorgebracht werden konnten.
5A_626/2018 vom 3.4.2019
Mit der auf den 1. Januar 2017 in Kraft getretenen Scheidungsrechtsrevision wurde unter anderem Artikel 122 ZGB geändert und der für die Teilung der beruflichen Vorsorge massgebliche Stichtag von der Rechtskraft des Scheidungsurteils auf die Einleitung der Scheidungsklage vorverlegt. «Teilungsmasse» bilden somit nicht mehr die während der Ehe bis zum Zeitpunkt des Scheidungsurteils, sondern nur noch die bis zum Zeitpunkt der Einleitung des Scheidungsverfahrens erworbenen Ansprüche aus der beruflichen Vorsorge. In diesem Zusammenhang ist umstritten, ob dadurch eine rechtlich relevante Vorsorgelücke entsteht, welche durch Zuspruch von Vorsorgeunterhalt während des Scheidungsverfahrens im Rahmen vorsorglicher Massnahmen auszugleichen ist. Wie bereits das Obergericht des Kantons Aargau hat nun auch das Bundesgericht entschieden, dass es keine gesetzliche Grundlage für den Zuspruch von Vorsorgeunterhalt gibt.
5A_14/2019 vom 9.4.2019
Strafrecht
Es gibt keine absolute Frist, ab der die Verspätung einer Partei oder eines Anwalts zwangsläufig dazu führt, dass das Recht auf Teilnahme an einer Verhandlung verweigert werden darf. Vielmehr ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles zu prüfen, ob ein schutzwürdiges Interesse die strikte Anwendung der Rechtsfolgen bei einer Nichteinhaltung des vereinbarten Zeitplans erfordert. Das Bundesgericht erkannte in einem Fall auf überspitzten Formalismus, in dem der Praktikant eines Rechtsanwaltes von der Verhandlung ausgeschlossen wurde, weil er 17 Minuten zu spät erschienen war. Der ordnungsgemässe Ablauf am Gericht wäre nicht gestört worden, wenn der Praktikant sein Plädoyer hätte halten können, da sich der Präsident des Polizeigerichts und der Schreiber noch im Saal befanden und die nächste Verhandlung erst 40 Minuten später anberaumt war.
6B_1298/2018 vom 21.3.2019
Ein Amateur-Fussballer beging mit gestrecktem Bein ein gefährliches Tackling und erhielt dafür die gelbe Karte. Der getroffene Gegner erlitt einen Knöchelbruch. Die Freiburger Justiz hat den Fussballer zu Recht wegen einfacher fahrlässiger Körperverletzung zu einer bedingt ausgesprochenen Strafe von 40 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Angesichts der Gefährlichkeit des begangenen Tacklings ist die Verletzung der zum Schutz der anderen Spieler aufgestellten Spielregeln als schwer einzustufen.
6B_52/2019 vom 5.3.2019
Sozialversicherungsrecht
Per E-Mail erhobene Einsprachen gegen Entscheide von Sozialversicherungsträgern sind gemäss Praxis des Bundesgerichts nicht zulässig. Der Nachweis der Arbeitsbemühungen stellt jedoch – anders als eine Einsprache – keine Verfahrenshandlung dar und ist auch nicht an eine besondere Form gebunden. Dementsprechend kann die Zustellung auf elektronischem Weg erfolgen. «Zu beachten sind jedoch die mangelnde Zuverlässigkeit des elektronischen Verkehrs im Allgemeinen und die Schwierigkeiten beim Nachweis des Eingangs eines E-Mails beim Empfänger im Besonderen.» Der Absender tut deshalb gut daran, sich den Empfang der elektronisch verschickten Nachweise seiner Arbeitsbemühungen vom Adressaten bestätigen zu lassen, um den fristgerechten Eingang der Nachricht beim RAV beweisen zu können.
8C_239/2018 vom 12.2.2019
Die Krankenkasse muss die Kosten für die Spitalbehandlung eines Mannes übernehmen, der für eine Knieoperation in ein Spital eingetreten war und nach dem Eingriff einen Herzinfarkt, ein Nierenversagen und weitere zahlreiche lebensbedrohliche Komplikationen erlitt und deshalb 421 Tage im Spital verbrachte. Es besteht keine absolute Obergrenze für die von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu tragenden Kosten der Spitalbehandlung. Die Krankenkasse hatte argumentiert, es bestehe eine Obergrenze für den Einsatz finanzieller Mittel, welche sich anhand der «Qaly-Methode» bestimme. Im konkreten Fall wollte die Krankenkasse gestützt auf dieses Modell bei Kosten von 1,08 Millionen Franken lediglich knapp 300 000 Franken übernehmen. Gemäss KVG besteht jedoch laut Bundesgericht eine unbeschränkte Leistungspflicht, solange jede einzelne Massnahme der Spitalbehandlung die Voraussetzung der Wirksamkeit, der Zweckmässigkeit und der Wirtschaftlichkeit erfüllt.
9C_744/2018 vom 1.4.2019