Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats- / Verwaltungsrecht
Die Staatsanwaltschaft als Garantin des Strafverfahrens hat dafür besorgt zu sein, dass dessen Fortführung durch die Freilassung der beschuldigten Person nicht erschwert oder sogar vereitelt wird, sondern dass – wenn nötig – diejenigen Zwangsmassnahmen getroffen werden, die erforderlich sind, um das Strafverfahren zielführend voranzutreiben. Erachtet sie somit in einem konkreten Einzelfall Ersatzmassnahmen für die Durchführung des Strafverfahrens als ausreichend, kann sich das Zwangsmassnahmengericht nicht darüber hinwegsetzen und an deren Stelle Untersuchungshaft anordnen.
1B_419 / 2015 vom 21.12.2015
Ein türkischer Staatsangehöriger wird an Deutschland ausgeliefert. Ihm wird vorgeworfen, Mitglied bzw. Unterstützer einer terroristischen Vereinigung zu sein. Er soll leitender Funktionär in den Auslandsorganisationen der Kommunistischen Partei der Türkei / Marxisten-Leninisten sein, der die bewaffnete Kampforganisation Tikko unterstellt ist. Das Bundesgericht räumt ein, dass die Differenzierung zwischen «legitimem» politischem Widerstandskampf und terroristischer Kriminalität delikat ist. Im konkreten Fall konnten die dem Türken vorgeworfenen Taten nicht mehr als politisches Delikt qualifiziert werden.
1C_644 / 2015 vom 23.2.2016
Zivilrecht
Die Bestimmung von Art. 99 Abs. 1 der Zivilprozessordnung will unter dem Titel «Sicherheit für die Parteientschädigung» die in den Prozess gezwungene beklagte Partei für den Fall, dass das spätere Eintreiben einer Parteientschädigung aus bestimmten Gründen – etwa kein Sitz in der Schweiz – schwierig erscheint, gegen das Risiko absichern, dass die ihr zugesprochene Parteientschädigung uneinbringlich ist. Diese Bestimmung gilt auch im Rechtsmittelverfahren. Das Bundesgericht erklärt in diesem Entscheid in E. 2.5, wie der Konflikt mit Art. 312 Abs. 2 ZPO gelöst werden kann.
4A_216 / 2015 vom 21.12.2015
Aufwendungen der Kindesvertretung in einem Scheidungsprozess sind nur so weit zu entschädigen, wie sie im Einzelfall erforderlich waren, wobei etwa den erschwerenden Rahmenbedingungen von Gesprächen mit Kindern Rechnung zu tragen ist. Bei der nichtanwaltlichen Kindesvertretung kommen grundsätzlich die Entschädigungsrichtlinien zum Zuge, wie sie bei der Beistandschaft gelten. Nimmt ein Anwalt die Kindesvertretung wahr, so erfolgt die Entschädigung regelmässig nach den Ansätzen für anwaltliche Parteivertretungen.
5A_52 / 2015 vom 17.12.2015
Die ISO-Zertifizierung eines Unternehmens, welche bezeugt, dass ein Unternehmen über ein Qualitätsmanagement verfügt, entbindet einen Anleger nicht davor, bei der Investition seiner Gelder wachsam zu sein. Die Tatsache allein, dass eine Zertifizierungsgesellschaft ein ISO-Zertifikat ausgestellt hat, führt nicht zu einer Haftung aus erwecktem und enttäuschtem Vertrauen. Andernfalls würde die Vertrauenshaftung leicht zu einer Haftung sämtlicher Zertifizierungsgesellschaften gegenüber jedem der geschädigten Kunden einer zertifizierten Gesellschaft ausufern.
4A_299 / 2015 vom 2.2.2016
Strafrecht
Polizeiliches Handeln auf dem Gebiet eines andern Kantons ist nicht schlechterdings ausgeschlossen. Gemäss Art. 216 Abs. 1 StPO ist die Polizei berechtigt, in dringenden Fällen den eigenen örtlichen Zuständigkeitsbereich zu überschreiten und eine einer Straftat verdächtige Person auf dem Gebiet eines andern Kantons zu verfolgen und anzuhalten. Das entschied das Bundesgericht in einem Fall der St. Galler Polizei, die dem Fahrzeug eines Barbesuchers bis in den Kanton Appenzell folgte und beim Lenker eine Blutprobe anordnete. Die Blutprobe darf als Nachweis der Fahrunfähigkeit verwendet werden.
6B_553 / 2015 vom 18.1.2016
Das Zürcher Obergericht hat ein Strafverfahren gegen einen Lenker wegen Überschreitens der Höchstgeschwindigkeit, die mehr als drei Jahre vor dem Urteil des Bezirksgerichts stattgefunden hatte, zu Recht wegen Eintritts der Verfolgungsverjährung eingestellt. Die neue StPO regelt einheitlich, dass der Strafbefehl ohne gültige Einsprache zum rechtskräftigen Urteil wird. Die Einsprache ist kein Rechtsmittel, sondern ein Rechtsbehelf. Wird sie erhoben, fällt der Strafbefehl dahin. Einem Strafbefehl, gegen den Einsprache erhoben wurde, fehlt demnach die Urteilsqualität. Die bisherige Rechtsprechung in Bezug auf Strafverfügungen trug den Besonderheiten des damals noch kantonalen Strafprozessrechts Rechnung und ist seit Inkrafttreten der StPO nicht mehr anwendbar.
6B_608 / 2015 vom 15.1.2016
Zwischen der bedingten Entlassung aus dem Vollzug einer Freiheitsstrafe bei gleichzeitig angeordneter Verwahrung einerseits und der bedingten Entlassung aus dem Vollzug der Freiheitsstrafe ohne gleichzeitig angeordnete Verwahrung andererseits bestehen diverse Unterschiede. Für die Erstere ist das Gericht zuständig, das die Verwahrung angeordnet hat, für Letztere die zuständige Behörde. Dabei setzt eine Entlassung voraus, dass der Täter sich in Freiheit bewährt. Als Entscheidungsgrundlage bei der Entlassung aus dem Vollzug einer Freiheitsstrafe bei gleichzeitig angeordneter Verwahrung muss sich das Gericht auf einen Bericht der Anstaltsleitung, auf eine unabhängige sachverständige Begutachtung sowie auf die Anhörung einer Kommission stützen.
6B_513 / 2015 vom 4.2.2016
Der Erlass von Strafbefehlen nach Artikel 352 ff. StPO fällt in die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft. Die Verfolgung und die Beurteilung von Übertretungen können jedoch Verwaltungsbehörden übertragen werden. Allerdings ist hierfür eine gesetzliche Grundlage vonnöten; eine solche fehlt im Kanton Basel-Landschaft. Die in einer Dienstordnung vorgesehene Delegation an Untersuchungsbeauftragte, Strafbefehle in Übertretungssachen zu erlassen, beruht nicht auf einer genügenden gesetzlichen Grundlage. Entsprechende Strafbefehle sind deshalb ungültig.
6B_845 / 2015 vom 1.2.2016
Sozialversicherungsrecht
Bei der periodischen Überprüfung von Arzneimitteln der Spezialitätenliste darf sich das Bundesamt für Gesundheit nicht darauf beschränken, die Wirtschaftlichkeit anhand von Auslandpreisen zu prüfen. Dies läuft der Zielsetzung zuwider, wonach diese Arzneimittel jederzeit die Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit erfüllen müssen. Das Bundesamt muss deshalb auch einen therapeutischen Quervergleich durchführen und die Medikamente mit anderen Produkten gleicher Indikation beziehungsweise ähnlicher Wirkungsweise vergleichen.
9C_417 / 2015 vom 14.12.2015
Richtet eine Pensionskasse zu Unrecht eine Altersrente an eine bereits verstorbene Person aus, kann sie die zu viel bezahlte Summe zurückfordern. Nach Artikel 35 a Abs. 2 BVG verjährt der Rückforderungsanspruch mit Ablauf eines Jahres, nachdem die Vorsorgeeinrichtung davon Kenntnis erhalten hat, spätestens aber mit Ablauf von fünf Jahren seit der Auszahlung der Leistung. Die Fristen nach Art. 35a Abs. 2 BVG sind keine Verwirkungsfristen, sondern sind als Verjährungsfristen im obligationenrechtlichen Sinn zu verstehen.
9C_563 / 2015 vom 7.1.2016
Hat die Ausgleichskasse einem Unternehmen zu hohe Erwerbsausfallentschädigungen für einen Mitarbeiter ausgerichtet, kann das Unternehmen zur Rückerstattung für den zu viel ausgezahlten Betrag verpflichtet werden. Einem Arbeitgeber, der während der Dienstleistung Lohn ausrichtet, kommen – anders als im Bereich der Familienzulagen – eigene Rechte und Pflichten aus dem Leistungsverhältnis zu. Er fungiert mit andern Worten nicht als blosse Zahlstelle.
9C_498 / 2015 vom 7.1.2016
Für die Ausrichtung von Ergänzungsleistungen zu Altersrenten ist jener Kanton zuständig, in welchem die versicherte Person unmittelbar vor dem Heim- oder Anstaltseintritt beziehungsweise der Versorgung in der Familienpflege ihren zivilrechtlichen Wohnsitz hatte. Ob der Anspruch auf Ergänzungsleistungen schon vor dem Eintritt ins Heim, einen Spital oder eine andere Anstalt entstanden ist oder aber erst während des Aufenthalts in der entsprechenden Institution bleibt für die örtliche Zuständigkeit der EL-Behörden ebenso bedeutungslos wie die Frage nach einer allfälligen Wohnsitznahme am Ort der Einrichtung.
9C_181 / 2015 vom 10.2.2016