Staats-/Verwaltungsrecht
Nach der Abstimmung über die Konzerninitiative rügten mehrere Personen in zwei Beschwerden, die Ablehnung der Initiative verstosse gegen die Grundprinzipien der Demokratie und gegen den Grundsatz der formellen Gleichbehandlung aller Stimmen. Die Initiative wurde zwar mit 50,74 Prozent der Stimmen angenommen, scheiterte jedoch am Ständemehr. Das Bundesgericht trat auf die Beschwerden nicht ein. Nach dem Grundsatz von Treu und Glauben darf vom Stimmbürger erwartet werden, dass er die Anwendung eines seiner Ansicht nach verfassungswidrigen Wahl- oder Abstimmungssystems noch vor der Wahl oder Abstimmung rügt und nicht vorerst widerspruchslos hinnimmt, um hinterher die Wahl oder Abstimmung anzufechten, soweit deren Ergebnis nicht seinen Erwartungen entspricht.
1C_713 und 1C_715/2020 vom 23.3.2021
Der durch eine Fernsehsendung von SRF zum «Fall Carlos» wohl zurzeit bekannteste Häftling der Schweiz ist mit einer Beschwerde beim Bundesgericht abgeblitzt. Er wollte von der Justizvollzugsanstalt Pöschwies in ein Untersuchungsgefängnis verlegt werden. Die Zürcher Staatsanwaltschaft führt gegen den jungen Mann aktuell eine Strafuntersuchung wegen Körperverletzung und Drohung. Aus der Unschuldsvermutung ergibt sich, dass Häftlinge in strafprozessualer Haft (Untersuchungshaft oder Sicherheitshaft) grundsätzlich getrennt von verurteilten Straftätern unterzubringen sind. Der Vollzug in einer Strafanstalt darf nur als letzte Möglichkeit in Frage kommen. Angesichts der besonderen Umstände und der von ihm ausgehenden Gefährdung Dritter – übermässige Gewaltanwendung gegenüber Einrichtung und Personen – lasse sich die Unterbringung in der Pöschwies noch rechtfertigen. Auf Dauer könne sich bei unverändertem Haftregime jedoch die Frage eines menschenwürdigen Haftvollzugs stellen.
1B_52/2021 vom 24.3.2021
In einer Strafuntersuchung wegen Drogendelikten beantragte die Staatsanwaltschaft dem Zwangsmassnahmengericht, der mutmassliche Täter sei für zwei Monate in Untersuchungshaft zu stecken. Das Gericht ordnete in der Folge nicht zwei, sondern drei Monate Untersuchungshaft an. Dagegen führte der mutmassliche Täter erfolgreich Beschwerde am Bundesgericht. Gemäss Art. 226 StPO legt das Zwangsmassnahmengericht zwar die Höchstdauer der Untersuchungshaft fest. Aufgrund Art. 16 und 61 StPO ist aber der Staatsanwalt für die Verfahrensleitung zuständig. Das Zwangsmassnahmengericht ist deshalb grundsätzlich an die getroffenen Beschlüsse der Staatsanwaltschaft gebunden und darf nicht über den Antrag der Staatsanwaltschaft hinausgehen.
1B_26/2021 vom 6.4.2021
Zivilrecht
Bei einem Mangel an gemieteten unbeweglichen Sachen wie Wohn- und Geschäftsräumen kann der Mieter den Mietzins gemäss Art. 259g OR bei der zuständigen Stelle hinterlegen. Zuvor muss der Mieter dem Vermieter schriftlich eine Frist zur Behebung des Mangels ansetzen und ihm die Hinterlegung androhen. Jetzt hat das Bundesgericht die Frage geklärt, ob auch ein bereits fälliger Mietzins (der also vom Mieter bereits zu bezahlen gewesen wäre) mit der Wirkung einer Bezahlung gegenüber dem Vermieter hinterlegt werden kann. Das Bundesgericht hat diese Frage verneint. Wer Mietzinse hinterlegt, die bereits zu zahlen (fällig) gewesen seien, riskiert eine Kündigung wegen Zahlungsverzugs. Es können – mit der Wirkung einer Bezahlung – nur künftige Mietzinse hinterlegt werden.
4A_571/2020 vom 23.3.2021
Nach Art. 123 Abs. 2 lit. a Bundesgerichtsgesetz kann eine Partei in Zivilsachen und in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten Revision verlangen, wenn sie nachträglich erhebliche Tatsachen erfährt oder entscheidende Beweismittel auffindet, die sie im früheren Verfahren nicht beibringen konnte. In der Lehre wird der Anwendungsbereich dieser Bestimmung unterschiedlich ausgelegt – es gibt etwa vier verschiedene Lehrmeinungen. Das Bundesgericht hat einiges klargestellt. Für eine Revision nach Art. 123 Abs. 2 lit. a BGG aufgrund nachträglich entdeckter Tatsachen oder Beweismittel müssen fünf Voraussetzungen erfüllt sein. Wird das Revisionsgesuch gutgeheissen, weist das Bundesgericht die Sache grundsätzlich an die kantonale Instanz zur Neubeurteilung zurück. Es kann aber auch selbst über die Sache befinden, insbesondere wenn der Sachverhalt ohne weiteres feststeht.
4F_7/2020 vom 22.2.2021
Nachdem zwei Frauen ihre Partnerschaft hatten eintragen lassen, gebar eine der Frauen nach künstlicher Befruchtung im Ausland insgesamt drei Kinder. Später trennte sich das Paar. Das Kindes- und Erwachsenenschutzgericht des Kantons Genf gewährte der Ex-Partnerin der Mutter ein Besuchsrecht für die Kinder. Als der Genfer Gerichtshof dieses Besuchsrecht aufhob, rief die Ex-Partnerin das Bundesgericht an. Dieses hat nun entschieden, dass Ex-Partnern ein Besuchsrecht gewährt werden kann, wenn sich zum Kind eine «soziale» Elternbeziehung entwickelt hat, das Kind im Rahmen eines gemeinsamen Elternprojekts gezeugt wurde und innerhalb der Paarbeziehung aufwuchs. Das Gericht verweist auf Art. 274a ZGB, wonach andern Personen als den Eltern ein Anspruch auf persönlichen Verkehr eingeräumt werden kann, wenn ausserordentliche Umstände vorliegen und dies dem Wohl des Kindes dient.
5A_755/2020 vom 16.3.2021
Seit dem 1. Januar 2011 gilt laut Art. 138 Abs. 1 ZPO: Wenn die Verjährung durch Schlichtungsgesuch, Klage oder Einrede unterbrochen wird, beginnt die Verjährung von Neuem, falls der Rechtsstreit vor der befassten Instanz abgeschlossen ist. Das Gesetz schweigt zur – in der Lehre heftig umstrittenen – Frage, wann der «Abschluss des Rechtsstreits vor der befassten Instanz» eintritt. Das Bundesgericht hat jetzt entschieden, dass der Abschluss dann eintritt, wenn der Instanzenzug ausgeschöpft ist. Dies bedeutet, dass die Verjährung von Neuem läuft, wenn die befasste Instanz einen Endentscheid gefällt hat, der nicht durch Berufung oder Beschwerde angefochten werden kann. Die Verjährung beginnt nicht von Neuem, wenn das Bundesgericht die Sache an die Vorinstanz zurückweist.
4A_428/2020 vom 1.4.2021
Strafrecht
Nach einer Hausbesetzung in Luzern hatte die Eigentümerin der besetzten Villa einen Strafantrag gegen unbekannte Täterschaft wegen Hausfriedensbruchs eingereicht. Um für einen Zeitungsartikel mit den Besetzern zu reden, begab sich eine Journalistin für mehrere Stunden ins Gebäude. Tags darauf veröffentlichte die Journalistin den Beitrag über die Hausbesetzung. Die Luzerner Justiz verurteilte die Frau wegen Hausfriedensbruchs zu 500 Franken Busse. Das Bundesgericht hat dieses Urteil aufgehoben. Die Hausbesetzung wurde als Lebenssachverhalt zur Anzeige gebracht; die Journalistin beteiligte sich an diesem Dauerdelikt nach materiell-rechtlichen Grundsätzen nicht. Sie betrat die Liegenschaft nicht mit dem Vorsatz, an der Hausbesetzung als Mittäterin mitzuwirken oder als Gehilfin akzessorisch daran teilzunehmen. Die Verurteilung erweist sich mangels Strafantrag als unzulässig und das Verfahren ist einzustellen.
6B_1214/2020 vom 25.3.2021
Die Ausschreibung einer Landesverweisung im Schengener Informationssystem SIS setzt unter anderem eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung voraus. Für deren Annahme sind keine allzu hohen Anforderungen zu stellen. Insbesondere ist nicht erforderlich, dass von der betroffenen Person eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung ausgehen würde, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Die Annahme einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung setzt auch nicht zwingend ein schweres oder besonders schweres Delikt voraus. Es genügt, wenn die betroffene Person wegen einer oder mehrerer Straftaten verurteilt wurde, welche die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden und die einzeln oder gemeinsam betrachtet von einer gewissen Schwere sind. Entscheidend ist zudem nicht das Strafmass, sondern in erster Linie Art und Häufigkeit der Straftaten, die Tatumstände sowie das übrige Verhalten der Person. Eine bedingt ausgesprochene Strafe steht einer Ausschreibung im SIS nicht entgegen.
6B_1178/2019 vom 10.3.2021
Das Zürcher Bezirksgericht verurteilte einen Täter wegen sexueller Nötigung zu vier Jahren Freiheitsstrafe. Als der Verurteilte ans Obergericht gelangte und einen Freispruch forderte, führte die Staatsanwaltschaft Anschlussberufung und forderte eine Bestrafung von 4½ Jahren. An der Berufungsverhandlung beschloss das Obergericht, die Staatsanwaltschaft zur Ergänzung der Anklage einzuladen. Gestützt auf die erweiterte Anklage verurteilte es den Täter zusätzlich wegen versuchter sexueller Nötigung. Der Täter rügte in Lausanne unter anderem eine Verletzung des Verschlechterungsgebots. Laut Bundesgericht war das Obergericht unter keinem Titel befugt, die Anklage ergänzen zu lassen und gestützt darauf einen zusätzlichen Schuldspruch zu fällen.
6B_1370/2019 vom 11.3.3021
Wird eine stationäre therapeutische Massnahme aufgrund von festgestellter Aussichtslosigkeit aufgehoben, kann der therapeutische Zweck nicht weiterverfolgt werden. Stattdessen tritt der Sicherungsgedanke stärker in den Vordergrund. Es ist anerkannt, dass bei der Umwandlung einer aussichtslosen therapeutischen Massnahme in eine Verwahrung der im ursprünglichen Strafurteil beurteilten Delinquenz Rechnung zu tragen ist, bei welcher es sich um die Anlasstat im Sinne von Art. 64 Abs. 1 StGB handeln kann. Für die Umwandlung der stationären therapeutischen Massnahme in eine Verwahrung genügt folglich eine ernsthafte Gefahr für weitere Straftaten. Nicht erforderlich ist, dass die während der Probezeit neu begangenen Taten bei isolierter Betrachtung von einer die Verwahrung rechtfertigenden Schwere sind.
6B_82/2021 vom 1.4.2021
Sozialversicherungsrecht
Gemäss Art. 19a Abs. 1 lit. a der Krankenpflege-Leistungsverordnung übernimmt die obligatorische Grundversicherung die Kosten der zahnärztlichen Behandlung, die durch ein Geburtsgebrechen bedingt sind, nur unter der Voraussetzung, dass «die Behandlungen nach dem 20. Lebensjahr notwendig sind». Dem Bundesgericht stellte sich die Frage, ob gestützt darauf eine Leistungspflicht aus der Grundversicherung für Folgebehandlungen entfällt, wenn eine Erstbehandlung – zulasten eines andern Kostenträgers – ohne ersichtliche medizinische Gründe erst nach vollendetem 20. Altersjahr erfolgt ist. Das Bundesgericht hat dies bejaht und die Swica Krankenkasse verpflichtet, die Behandlungskosten im Falle einer 48-jährigen Frau für Zahnprothesen zu übernehmen, die am Geburtsgebrechen der «multiplen Nichtanlagen» (bloss 4 von 32 Zähnen) leidet.
9C_388/2020 vom 3.3.2021