Staats-/Verwaltungsrecht
Aufgrund des Territorialprinzips darf ein Staat keine Ermittlungs- und strafrechtlichen Verfolgungsmassnahmen in einem anderen Staat vornehmen, ohne dass dieser zustimmt. Eine technische Überwachungsmassnahme auf dem Gebiet eines anderen Staates muss in Anwendung des internationalen Rechts oder, falls keine solche völkerrechtliche Grundlage vorliegt, nach Massgabe der vorgängigen Zustimmung des betroffenen Staates in die Wege geleitet werden. Aufzeichnungen im Rahmen geheimer, in der Schweiz bewilligter technischer Überwachungsmassnahmen dürfen deshalb im Strafverfahren nicht verwendet werden, sofern die Aufzeichnungen ausserhalb der Schweiz erfolgten. Es handelt sich um unerlaubte Beweismittel, die zu vernichten sind. Im konkreten Fall hatten die Behörden GPS-Tracker und Mikrofone in Fahrzeugen eines internationalen Rauschgifthändlerrings angebracht. Auch Aufzeichnungen, die nicht lokalisiert werden können, sind zu vernichten.
1B_164/2019 vom 15.11.2019
Das Bundesgericht hat insgesamt fünf Urteile zur Frage der Landesverweisung von straffälligen Ausländern und zur Abgrenzung der Kompetenzen der Verwaltungs- und Strafbehörden gefällt. Die seit dem 1. Oktober 2016 geltenden neuen Bestimmungen sind nur auf Delikte anwendbar, die nach diesem Datum begangen worden sind. Der Strafrichter kann jedoch im Rahmen der Härtefallprüfung auch die vorher begangenen Straftaten berücksichtigen, wobei er gestützt darauf zwar nicht eine Landesverweisung anordnen, jedoch die Rückfallgefahr beurteilen darf. Hat ein Strafgericht alle strafbaren Handlungen eines Ausländers, die vor und nach Inkrafttreten der neuen Bestimmungen begangen wurden, in Erwägung gezogen und ausdrücklich wegen Vorliegens eines Härtefalles von einer Landesverweisung abgesehen, verliert die Migrationsbehörde die Kompetenz für den Widerruf einer Bewilligung gestützt auf diejenigen Tatsachen, welche das Strafgericht bereits gewürdigt hat.
2C_305/2018, 2C_1154/2018, 2C_358/2019, 2C_468/2019 und 2C_628/2019 vom 18.11.2019
Zivilrecht
Steht die Zivilprozessordnung einem Nichteintretensentscheid der paritätischen Schlichtungsbehörde im Sinne von Art. 200 Abs. 1 ZPO entgegen, wenn diese – ausserhalb des Entscheidverfahrens nach Art. 212 ZPO – zum Schluss gelangt, dass keine Streitigkeit aus Miete und Pacht von Wohn- und Geschäftsräumen vorliegt? Das Bundesgericht hat diese Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung wie folgt beantwortet: «Für die Beurteilung der sachlichen Zuständigkeit der paritätischen Schlichtungsbehörde im Sinne von Art. 200 Abs. 1 ZPO ist im reinen Schlichtungsverfahren grundsätzlich von den tatsächlichen Behauptungen der klagenden Partei auszugehen. Ergibt sich, dass die paritätische Schlichtungsbehörde sachlich offensichtlich nicht zuständig ist, darf sie das Verfahren durch Nichteintretensentscheid beenden.» Der juristisch interessante Streit drehte sich um ein sogenanntes «Mobilheim» auf einer gemieteten Parzelle auf einem Campingplatz.
4A_191/2019 vom 5.11.2019
Das Bundesgericht hat zwei Grundsatzurteile zur Entschädigung von Asbestopfern gefällt. In einem Fall lag die Asbeststaubexposition der betroffenen Person 37 Jahre zurück, weshalb Genugtuungsansprüche der Erben wegen absoluter Verjährung (früher zehn Jahre; ab 1. Januar 2020 sind es zwanzig Jahre) nicht mehr geltend gemacht werden können. Im zweiten Fall geht die Sache zur Abklärung der absoluten Verjährungsfrist an die Vorinstanz zurück. Diese muss prüfen, ob Massnahmen des Arbeitsgebers zum Schutz der Mitarbeitenden entsprechend dem damaligen Kenntnisstand erforderlich gewesen wären. Von der Frage, ob und bis wann eine Pflichtverletzung von Seiten des Arbeitgebers vorliegen könnte, hängt auch der Beginn des Laufs der Verjährungsfrist ab.
4A_299/2013 und 4A_554/2013 vom 6.11.2019
Die Bestimmung von Art. 426 Abs. 1 ZGB bildet keine genügende gesetzliche Grundlage für die Anordnung einer fürsorgerischen Unterbringung allein wegen Fremdgefährdung. Um eine freiheitsentziehende Massnahme gegen psychisch gestörte oder geistig behinderte Personen wegen Fremdgefährdung zu ergreifen, braucht es eine klare gesetzliche Grundlage, worin die Bedingungen für die Ergreifung dieser Massnahme ausdrücklich geregelt sind. Das Bundesgericht fordert den Gesetzgeber im Nachgang zu einem Urteil des EGMR (Urteil Nr. 1760/15 vom 30. April 2019 i.S. T.B. c. Schweiz) auf, eine entsprechende klare gesetzliche Grundlage zu schaffen.
5A_407/2019 vom 28.10.2019
Mit der Hinterlegung im Mietrecht steht dem Mieter ein Rechtsbehelf zu, die Beseitigung des Mangels zu bewirken und kumulativ eine Klärung über weitere Mängelansprüche herbeizuführen. Die Hinterlegung kann mit anderen Worten auch für Mängelrechte als Druckmittel wirken. Auch der Begriff der «Hinterlegung des Mietzinses» in Art. 243 Abs. 2 lit. c ZPO ist zum Schutz des Mieters weit zu fassen. Er umfasst nicht nur die blosse Streitigkeit um den hinterlegten Mietzins und den damit unmittelbar zusammenhängenden Beseitigungsanspruch, sondern auch streitwertunabhängig alle Mängelrechte nach Art. 259a Abs. 1 OR, welche der Mieter im Rahmen des Hinterlegungsverfahrens durchsetzen will und für die ihm die Hinterlegung als Druckmittel unmittelbar dient. Diese Rechtsprechung ist wesentlich im Hinblick auf die Anwendung des vereinfachten Verfahrens, das bei der «Hinterlegung von Miet- und Pachtzinsen» ohne Rücksicht auf den Streitwert (30 000 Franken) zur Anwendung gelangt.
4A_182/2019 vom 4.11.2019
Strafrecht
Bei der Landesverweisung nach Art. 66a des StGB ist die Härtefallregelung zu beachten. Dabei ist der besonderen Situation von Ausländern Rechnung zu tragen, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind. Ob ein Härtefall vorliegt, bestimmt sich weder anhand von starren Altersvorgaben, noch führt eine bestimmte Anwesenheitsdauer automatisch zur Annahme eines Härtefalles. Im Einzelfall ist die Härtefallprüfung anhand der gängigen Integrationskriterien durchzuführen. Der Fall betraf einen 28-jährigen Chilenen, der mit 13 Jahren in die Schweiz gekommen und wegen schwerer Körperverletzung verurteilt worden ist. Seine soziale Einbettung und Integration ist unterdurchschnittlich bis normal, eine dauerhafte Eingliederung im hiesigen Arbeitsmarkt fraglich. Da er voraussichtlich aufgrund seiner perfekten Zweisprachigkeit auf dem chilenischen Arbeitsmarkt Fuss fassen kann, erweist sich die Landesverweisung als angemessen.
6B_690/2019 vom 4.12.2019
Das Bundesstrafgericht hat mehrere Personen aus dem Umfeld der tamilischen Organisation «Liberation Tigers of Tamil Eelam» LTTE zu Recht vom Vorwurf der Unterstützung und/oder Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation freigesprochen. Ihnen war von der Bundesanwaltschaft vorgeworfen worden, in den Jahren 1999 bis 2009 die mutmasslich als Terrororganisation zu betrachtenden LTTE von der Schweiz aus finanziell unterstützt zu haben. Laut Bundesgericht wurde Art. 260ter StGB ursprünglich zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität mafiöser Prägung konzipiert und später auch auf terroristische Organisationen angewendet. Nicht angelegt wurde die Norm im Hinblick auf Organisationen, die am Rande zwar terroristische Akte begehen, sonst aber überwiegend andere Ziele verfolgen. Die bloss finanzielle Unterstützung der LTTE diente nicht direkt kriminellen Zielen. Eine Verurteilung würde deshalb gegen das Legalitätsprinzip verstossen.
6B_383/2019 und 6B_394/2019 vom 8.11.2019
Aus den strafprozessualen Bestimmungen über die Durchführung der Hauptverhandlung ergibt sich, dass die ordnungsgemässe Durchführung des Strafverfahrens grundsätzlich die persönliche Teilnahme der beschuldigten Person voraussetzt. Ist ein Abwesenheitsverfahren durchgeführt worden und sind die Voraussetzungen für eine neue Verhandlung erfüllt, setzt die Verfahrensleitung eine neue Hauptverhandlung an, an welcher das Gericht über das Gesuch um neue Beurteilung entscheidet und gegebenenfalls ein neues Urteil fällt. Dabei hat das Gericht die beschuldigte Person eingehend zu ihrer Person, zur Anklage und zu den Ergebnissen des Vorverfahrens zu befragen. Es wird auch die übrigen, allenfalls bereits abgenommenen Beweise erneut zu erheben haben. Das Gericht darf deshalb im Neubeurteilungsverfahren nicht unbesehen auf die im Abwesenheitsverfahren erhobenen Beweise abstellen, zumal die beschuldigte Person dazu vor Gericht nicht Stellung nehmen konnte.
6B_389/2019 vom 28.10.2019
Sozialversicherungsrecht
Wegen gesundheitlichen Problemen musste ein Angestellter sein Arbeitsverhältnis auflösen. Bereits zuvor hatte er sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet. Die Arbeitslosenkasse erbrachte im Rahmen ihrer Vorleistungspflicht (Art. 70 Abs. 2 lit. b ATSG) Taggelder. Sie stellte ihre Leistungen jedoch ein, als ihr die Invalidenversicherung verwaltungsintern mitteilte, dass der Versicherte Anspruch auf eine halbe Invalidenrente habe. Das Bundesgericht beanstandete dieses Vorgehen: Solange ein Schwebezustand besteht und die Mindesthöhe des Invaliditätsgrades noch nicht verbindlich feststeht, wird die Arbeitslosenkasse nicht von ihrer Vorleistungspflicht befreit. Ein rein verwaltungsinterner Beschluss über das Leistungsbegehren entfaltet gegenüber dem Versicherten keine verbindliche Aussenwirkung; diese wird erst durch eine entsprechende Verfügung über den Leistungsanspruch erreicht.
8C_357/2019 vom 24.10.2019