Zur Publikation vorgesehen
Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats-/Verwaltungsrecht
In Gemeinden mit einem Zweitwohnungsanteil von mehr als 20 Prozent ist nur noch der Bau von touristisch bewirtschafteten Zweitwohnungen zulässig. Als solche gelten neben «Einliegerwohnungen» auch Wohnungen, die durch einen strukturierten, einheitlichen Beherbergungsbetrieb bewirtschaftet werden. Das Kriterium des einheitlichen Betriebs setzt einen gewissen räumlichen Zusammenhang voraus. Zwei Ferienhäuser in einer Entfernung von 3,5 km zum damit verbundenen Hotel erfüllen aufgrund der grossen räumlichen Entfernung das gesetzliche Erfordernis nicht. Es ist anzunehmen, dass Feriengäste das Hotel nur am Anfang und am Ende des Aufenthaltes zur Schlüsselübergabe aufsuchen.
1C_511/2018 vom 3.9.2019
Bei der Lancierung neuer Parkplätze am Zürcher Flughafen sind Umweltverträglichkeitsprüfungen vorzunehmen. Das Bundesgericht hat nun geklärt, ob bei Erstellung eines neuen Parkplatzes auf dem Flughafenareal auch sogenannte Off-Airport-Parkplätze im Umfeld des Flughafens bei der UVP-Pflicht einzubeziehen sind. Bei der Frage, inwieweit die Emissionen des Individualverkehrs bei diesen Off-Airport-Parkplätzen dem Flughafen zuzurechnen sind, sei «eine differenzierte Sichtweise» geboten. Fazit: Die Off-Airport-Parkplätze von Unternehmen, denen die Flughafen Zürich AG auf dem Flughafenareal eine eigene Infrastruktur – Umschlagparkplätze und Schalter – zur Verfügung stellt, sind in die UVP-Pflicht einzubeziehen. Fehlt diese Infrastruktur, ist ein Einbezug in die UVP nicht geboten.
1C_308/2018 vom 9.10.2019
Zivilrecht
Laut Arbeitsgesetz können Kantone höchstens acht Feiertage im Jahr den Sonntagen gleichstellen. Angestellte geniessen an diesen Feiertagen den gleichen Schutz wie an Sonntagen. Ausnahmen vom Sonntagsarbeitsverbot sind damit sehr begrenzt, wie ein Urteil des Bundesgerichts zeigt: Das Freiburger Arbeitsinspektorat hatte Detailhändlern die Bewilligung erteilt, am 8. Dezember 2018 (Unbefleckte Empfängnis und Freiburger Feiertag) Personal in Geschäften in der Nähe des Weihnachtsmarkts einzusetzen. Die Lausanner Richter erinnern daran, dass das Sonntagsarbeitsverbot nicht aus rein kommerziellen Zwecken geritzt werden darf. Es hob deshalb die Ausnahmebewilligung auf. Ist ein bestimmter Tag einmal durch das kantonale Recht als Feiertag bestimmt, erfüllt er die gleiche Funktion wie ein Sonntag.
2C_70/2019 vom 16.9.2019
Jeder Aktionär kann der Generalversammlung beantragen, Sachverhalte durch eine Sonderprüfung abklären zu lassen. Art. 697e Abs. 3 OR räumt dem Aktionär und der geprüften Gesellschaft dabei Mitwirkungsrechte ein. Sie können dem Sonderprüfer Ergänzungsfragen stellen und eine Stellungnahme zu seinem Bericht einreichen. Das Bundesgericht hat die in diesem Zusammenhang strittige Frage entschieden, ob der Richter der geprüften Gesellschaft und den Gesuchstellern ausdrücklich Frist anzusetzen hat, um diese Rechte wahrnehmen zu können. Es hat diese Frage bejaht: Ein Gericht kommt seinen richterlichen Pflichten durch die blosse Zustellung des Sonderprüfungsberichts nicht hinreichend nach. Vielmehr muss es den Berechtigten ausdrücklich die Gelegenheit einräumen, Ergänzungsfragen zum Sonderprüfungsbericht zu stellen und eine Stellungnahme dazu einzureichen.
4A_223/2019 vom 16.10.2019
Strafrecht
Ist ein Ladendiebstahl in Verbindung mit einem Hausfriedensbruch eine sogenannte Katalogtat, die zu einer Landesverweisung führt? Nein, meint das Bundesgericht: Der über die «Ausschaffungsinitiative» in die Verfassung eingeführte politisierte kriminologische Begriff des «Einbruchsdelikts» ist – wie jener des Drogenhandels – ohne strafrechtlich bestimmten Inhalt. Nach dem Verhältnismässigkeitsprinzip ist nicht anzunehmen, dass ein Ladendiebstahl zu einer obligatorischen Landesverweisung führt. Art. 66 a Abs. 1 lit. d des StGB ist im Sinne der BV als «Einschleich- oder Einbruchdiebstahl» auszulegen. Der gemeinübliche Ladendiebstahl mit Hausfriedensbruch, der bei Verletzung eines Hausverbots in einem Kaufhaus vorliegt, fällt nicht darunter.
6B_1221/2018 vom 27.9.2019
Die Zürcher Justiz hatte eine Fahrzeuglenkerin auf Basis von Dash-Cam-Aufzeichnungen eines anderen Verkehrsteilnehmers der mehrfachen Verletzung von Verkehrsregeln schuldig gesprochen. Zu Unrecht: Die privaten Dash-Cam-Bilder wurden in Missachtung des Datenschutzgesetzes und damit rechtswidrig erlangt. Es handelt sich um eine heimliche Datenverarbeitung, die eine Persönlichkeitsverletzung darstellt, zumal die Erstellung von Aufnahmen aus einem Fahrzeug heraus für andere Lenker nicht erkennbar ist. Rechtswidrig erlangte Beweismittel dürfen nur verwendet werden, wenn die Beweismittel von den Strafverfolgungsbehörden rechtmässig hätten erlangt werden können und eine Interessenabwägung für deren Verwertung spricht. Das wäre nur bei einer – hier nicht vorliegenden – schweren Straftat der Fall.
6B_1188/2018 vom 26.9.2019
Schwere Eingriffe in das Recht auf informelle Selbstbestimmung gemäss Art. 13 Abs. 2 der Bundesverfassung bedürfen einer klaren und ausdrücklichen Grundlage in einem formellen Gesetz. Dementsprechend bedarf es für den Einsatz der automatischen Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung einer detaillierten Regelung in einem Gesetz. Bei dieser Fahndungsart erfasst eine Kamera das Kontrollschild, das System eruiert den Halter und führt andere automatische Abgleiche mit Datensammlungen durch. Das Thurgauer Polizeigesetz bildet keine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage für eine solche Überwachung. Ferner fehlt es auch an einer Regelung über die Aufbewahrung und Vernichtung der Daten. Die Verwertung der Aufzeichnungen als Beweis ist deshalb nur zulässig, wenn es um die Aufklärung einer schweren Straftat geht. Das Fahren ohne Berechtigung fällt nicht in diese Kategorie.
6B_908/2018 vom 7.10.2019
Sozialversicherungsrecht
Das Bundesgericht hat einen Grundsatzentscheid zur unfall-ähnlichen Körperschädigung gefällt. Mit der Änderung vom 1. Januar 2017 zu Art. 6 Abs. 2 des UVG wollte der Gesetzgeber die Abgrenzung zwischen Krankheit und Unfall vereinfachen. Der Hauptzweck der Revision liegt in der Beweiserleichterung zugunsten der Versicherten durch eine gesetzliche Vermutung: Dem Grundsatz nach soll der Versicherer bei Vorliegen einer Listenverletzung leistungspflichtig werden, sofern ihm nicht der Entlastungsbeweis gelingt. Art. 6 Abs. 2 UVG lit. a–h listet die Körperschädigungen auf, bei denen die Versicherung Leistungen erbringen muss, sofern sie nicht vorwiegend auf Abnützung oder Erkrankung zurückzuführen sind. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass für die Anwendung von Art. 6 Abs. 2 UVG kein äusserer Faktor und damit kein unfallähnliches Ereignis oder eine allgemein gesteigerte Gefahrenlage mehr vorausgesetzt ist.
8C_22/2019 vom 24.9.2019
Rechtskräftige Steuerveranlagungen können nur unter engen Voraussetzungen rückgängig gemacht werden. Nur bei krasser Willkür sind sie nichtig. Schwere inhaltliche Mängel genügen nicht. Es ist vielmehr nötig, dass aussergewöhnlich schwere und krasse Verstösse der Veranlagungsbehörde gegen die ihr obliegende Untersuchungs- und Überprüfungspflicht hinzukommen. Diese Grundsätze gelten sinngemäss auch bei Verfügungen über AHV-Beiträge aus selbständiger Erwerbstätigkeit, welche auf einer Ermessenveranlagung der Steuerbehörde beruhen. Im konkreten Fall hatte ein Versicherter der zuständigen Ausgleichskasse mehrmals mitgeteilt, er übe keine selbständige Erwerbstätigkeit mehr aus und arbeite seit Jahren zu 100 Prozent als Angestellter. Obwohl er einen Lohnausweis seines Arbeitgebers einreichte, veranlagte ihn die Ausgleichskasse – aufgrund der Angaben der Steuerbehörden – für ein geschätztes Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit von 150 000 Franken. Das Bundesgericht wirft der Ausgleichkasse vor, ihre Verfahrenspflichten – Vorladung und nähere Befragung des Betroffenen – vernachlässigt zu haben. Es liegt eine bewusste und willkürliche Fehleinschätzung vor, die nichtig ist.
9C_329/2019 vom 17.10.2019