Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats-/Verwaltungsrecht
Das Ergebnis eines Augenscheins muss den Parteien mitgeteilt werden, wenn dabei erhebliche Sachverhaltsfeststellungen getroffen wurden. Im konkreten Fall ging es um Fotos der Zufahrt zu einem privaten Grundstück. Die Parteien müssen sich zu den Bildern – Ausschnitt, Standort des Fotografen etc. – vor der Urteilsfällung äussern können.
1C_457/2015 vom 3.5.2016
Das Staatssekretariat für Migration hat einen Afghanen, auf dessen Asylgesuch nicht eingetreten wurde, da er zuvor in Bulgarien ein Asylgesuch gestellt hatte, zu Unrecht inhaftiert. Laut Bundesgericht darf die Inhaftierung in einem Dublin-Verfahren nicht allein deshalb angeordnet werden, weil die betroffene Person bereits anderswo ein Asylgesuch gestellt hat. Zudem muss die erstmalige richterliche Prüfung einer Dublin-Haft in der Regel innert 96 Stunden erfolgen.
2C_207/2016 vom 2.5.2016
Weder Art. 321 Ziff. 2 StGB noch Art. 13 des Bundesgesetzes über die Freizügigkeit der Anwälte (BGFA) nennen Kriterien für die Entbindung eines Anwalts vom Berufsgeheimnis. Laut Bundesgericht sind ausschliesslich Kriterien des Bundesrechts anzuwenden. Der Umfang der Geheimhaltungspflicht kann somit nicht von einem Kanton zum andern variieren.
2C_586/2015 vom 9.5.2016
Die Festhaltung von drei potenziellen Teilnehmern der Nachdemonstration vom 1. Mai 2011 in der Stadt Zürich über mehrere Stunden war verhältnismässig. Der Polizeigewahrsam diente der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der Verhinderung von Straftaten und der Abwehr unmittelbar drohender Gefahren. Die gesetzliche Grundlage des Polizeieinsatzes liegt im Zürcher Polizeigesetz.
1C_230/2015 vom 20.4.2016
Zivilrecht
Will ein Mieter den Anfangsmietzins anfechten, muss er nur nachweisen, dass Wohnungsnot herrscht. Der Nachweis, dass sich der Mieter selber in einer Not- oder Zwangslage befindet, ist nicht notwendig. Das Bundesgericht hat seine Rechtsprechung präzisiert. Im konkreten Fall ging es um eine 3,5-Zimmer-Maisonettewohnung in Zürich. Wohnungsnot erachtete das Gericht bei einem Leerwohnungsbestand von 0,1 Prozent als gegeben.
4A_691/2015 vom 18.5.2016
Art. 317 Abs. 1 ZPO nennt keinen Verfahrenszeitpunkt, bis zu dem echte oder unechte Noven im Berufungsverfahren vorgebracht werden müssen. Die Lehre ist sich uneinig. Nun hat das Bundesgericht entschieden, dass neue Tatsachen und Beweismittel, die bis zu Beginn der oberinstanzlichen Beratungsphase entstehen, im Berufungsprozess vorgebracht werden können. Nachher können solche Noven nur noch in einer Revision nach Art. 328 Abs. lit a ZPO geltend gemacht werden. Noven, die nach Beginn der oberinstanzlichen Beratung entstehen, können auch mittels Revision nicht mehr geltend gemacht werden.
4A_619/2015 vom 25.5.2016
Eine Mietzinserhöhung wegen wertvermehrenden Investitionen ist genügend klar, wenn im Formular auf die (den Mietern bekannte) Baukostenabrechnung verwiesen wird und der Mieter so die Möglichkeit hat, die Plausibilität abzuschätzen. Der Hinweis «wertvermehrende Investition – infolge Totalsanierung» genügt.
4A_366/2015 und 4A_368/2015 vom 13.4.2016
Die Kantone sind nicht befugt, für zivilrechtliche Abwehransprüche eigene Verfahrensordnungen aufzustellen und so die im Bundesgesetz (Zivilprozessordnung) aufgestellte Ordnung zu derogieren, etwa durch ein verwaltungsrechtliches Präliminarverfahren. Der Kanton Schwyz argumentierte, sein privatrechtliches Baueinspracheverfahren sei «ein im Bundesrecht nicht existierendes, einzig im kantonalen öffentlichen Recht geregeltes Verfahren».
5A_948/2015 vom 12.4.2016
Art. 5 SchKG sieht keine Zinspflicht vor. Die Festlegung des Zinses liegt somit in der Hand der Kantone, weil es ihnen obliegt, als Depositenanstalt ein Institut oder mehrere Institute zu bezeichnen. Gegen den Beschluss der Depositenanstalt (hier Zuger Kantonalbank), für Guthaben aus einer Nachlassliquidation 0,75 Prozent Negativzins zu belasten, ist keine Beschwerde möglich.
5A_555/2015 vom 7.4.2016
Eine gemeinsame elterliche Sorge ist nicht immer möglich und kann zu rechtlichen Ergebnissen führen, die wenig billig sind. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die gemeinsame elterliche Sorge an der Blockade durch die Mutter scheitert. Die alleinige Sorge der Mutter war jedoch hinzunehmen, weil ein gemeinsames Sorgerecht das Kind anhaltenden behördlichen Interventionen ausgesetzt hätte, die seinem Wohl abträglich gewesen wären.
5A_400/2015 vom 25.2.2016
Strafrecht
Wird ein Beschuldigter freigesprochen, müssen die Strafbehörden für den Schaden aus dem Verlust der Arbeitsstelle aufkommen – sofern die Entlassung von den Strafbehörden zu verantworten ist. Fall eines Lehrers, der auf blossen Verdacht hin nach Einleitung eines Strafverfahrens wegen sexuellen Missbrauchs einer Schülerin entlassen worden war.
6B_1061/2014 vom 18.4.2016
Sozialversicherungsrecht
Ein Verstorbener setzte im Testament seine Lebenspartnerin als Alleinerbin ein, hatte es aber unterlassen, das Konkubinatsverhältnis der Pensionskasse zu melden. Diese weigerte sich laut Bundesgericht zu Recht, der Lebenspartnerin die Todesfallsumme auszuzahlen. Letztwillige Verfügungen, mit denen die Lebenspartnerin des Versicherten (bloss) als Erbin eingesetzt wird, lassen nicht auf einen berufsvorsorgerechtlichen Begünstigungswillen schliessen.
9C_284/2015 vom 22.4.2016
Gemäss Art. 25 Abs. 1 ATSG sind unrechtmässig bezogene Leistungen zurückzuerstatten. Dabei hat die wiedererwägungsweise Rentenaufhebung oder -herabsetzung in der sozialen Unfallversicherung nicht analog zu Art. 88bis Abs. 2 IVV zu erfolgen. Sie kann rückwirkend («ex tunc») erfolgen. Zu Unrecht bezogene Renten sind zurückzuerstatten. Eine Meldepflichtverletzung ist dafür nicht erforderlich.
8C_792/2015 vom 31.5.2016
Die Invaliditätsbemessungsmethode gemäss BGE 131 V 51 ist dahingehend zu präzisieren, dass bei teilerwerbstätigen Versicherten ohne Aufgabenbereich die anhand der Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG) zu ermittelnde Einschränkung im allein versicherten erwerblichen Bereich proportional – im Umfang der hypothetischen Teilerwerbstätigkeit – zu berücksichtigen ist.
9C_178/2015 vom 4.5.2016
Die Pflicht zur Übernahme der Kosten einer Fruchtbarkeitsbehandlung bei Frauen endet für die obligatorische Krankenversicherung nicht bei einer fixen Altersobergrenze, weil der medizinischen Doktrin nicht zu entnehmen ist, ab genau welchem Alter die Chancen auf die Geburt eines Kindes nicht mehr realistisch sind.
9C_435/2015 vom 10.5.2016