Staats-/Verwaltungsrecht
Die Ausgrenzung eines Ausländers – etwa das Verbot, eine bestimmte Stadt zu betreten – bezweckt in erster Linie, ihn von (weiterer) deliktischer Tätigkeit wie Drogenhandel an den allfälligen Tatorten abzuhalten. Die verfügende Behörde kann beim Erlass einer Ausgrenzung auch in Rechnung stellen, dass die Gefahr von Delinquenz in der Anonymität grosser Städte höher ist als in der Agglomeration oder – der stärkeren sozialen Kontrolle wegen – auf dem Land.
2C_383/2015 vom 22.11.2015
Der Einzelrichter des Bezirks Uster verbot Gerichtsberichterstattern unter Busse bis zu 1000 Franken gewisse Angaben über den Kristallnacht-Twitterer zu verbreiten. Für das Bundesgericht spricht viel dafür, dass es sich um einen schweren Eingriff in die Medienfreiheit handelt, wofür eine klare und ausdrückliche Grundlage in einem formellen Gesetz erforderlich wäre. Die Verhandlung war öffentlich, an sich hatte jedermann Zutritt. Es geht nicht an, Gerichtsberichterstatter schlechter zu stellen als das übrige Prozesspublikum.
1B_169/2015 und 1B_177/2015 vom 6.11.2015
Die Behörden des Kantons Freiburg haben dem Islamischen Zentralrat Schweiz (IZRS) zu Unrecht die Bewilligung für die Jahreskonferenz verweigert. Das Versammlungsverbot lässt sich weder auf das kantonale Gesetz über öffentliche Gaststätten noch auf die polizeiliche Generalklausel stützen. Versammlungen auf privatem Grund dürfen nur aus besonders schwerwiegenden Gründen verweigert werden. Im konkreten Fall war nicht erstellt, dass ein erhebliches, von der Polizei mit verhältnismässigen Mitteln kaum beherrschbares Risiko für die öffentliche Sicherheit und Ordnung bestand.
1C_35/2015 vom 28.12.2015
Zivilrecht
Eltern haben ihre Rechte und Pflichten, die mit dem Sorgerecht verbunden sind, zum Wohle des Kindes auszuüben und im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles zu unternehmen, was zur gedeihlichen Entwicklung des Kindes erforderlich ist. Kinder sind deshalb aus den elterlichen Konflikten herauszuhalten. Eine von der Mutter befürchtete Ausweitung eines Konflikts mit dem Vater bei gemeinsamem Sorgerecht bildet keinen Grund, die alleinige elterliche Sorge für das Kind der Mutter zu übertragen.
5A_202/2015 vom 26.11.2015
Gemäss Art. 699 Abs. 3 Obligationenrecht kann die Einberufung einer Generalversammlung von einem oder mehreren Aktionären, die zusammen mindestens zehn Prozent des Aktienkapitals vertreten, verlangt werden. Aktionäre, die Aktien im Nennwert von 1 Million Franken vertreten, können die Traktandierung eines Verhandlungsgegenstands verlangen. Laut einem neuen Urteil des Bundesgerichts müssen aber jene «Aktionäre, die eine Einberufung der Generalversammlung verlangen können, auch zur Traktandierung eines Verhandlungsgegenstands berechtigt sein». Ein Traktandierungsrecht steht mithin Aktionären zu, die zehn Prozent des Aktienkapitals oder Aktien im Nennwert von 1Million Franken besitzen.
4A_296/2015 vom 27.11.2015
Klagen auf Schadenersatz oder Genugtuung von Asbestopfern und ihren Angehörigen, die unter Hinweis auf die Verjährung abgewiesen wurden, müssen neu beurteilt werden. Im Rahmen eines Revisionsverfahrens hat das Bundesgericht eine Klage zweier Töchter eines Asbestopfers gutgeheissen, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Schweiz im März 2014 wegen der Verjährungsproblematik bei Asbestfällen gerügt hatte.
4F_15/2014 vom 11.11.2015
Weil das einzige Verwaltungsratsmitglied eines konkursiten Unternehmens trotz dreimaliger Vorladung unentschuldigt nicht erschien, forderte das Konkursamt Kriens LU die Aargauer Behörden zu einer rechtshilfeweisen Einvernahme auf. Die Aargauer Konkursbehörden fanden aber, die Luzerner Behörden müssten die polizeiliche Zuführung nach Kriens organisieren. Das Bundesgericht hat nun aufgrund Art. 4 Abs. 1 SchKG entschieden, dass das Aargauer Konkursamt zur Einvernahme verpflichtet ist.
5A_80/2015 vom 19.10.2015
Art. 125 ZGB sieht keine Befristung des nachehelichen Unterhalts vor. Erreicht der unterhaltsansprechende Ehegatte das Rentenalter zuerst, hat er über diesen Zeitpunkt hinaus Anspruch darauf, den während der häuslichen Gemeinschaft gelebten Standard weiterzuführen oder zumindest auf gleichem Niveau leben zu können wie der noch erwerbstätige Ehegatte. Dies gilt laut einem neuen Urteil des Bundesgerichts auch dann, wenn der unterhaltsansprechende Ehegatte nach Beendigung des ehelichen Zusammenlebens während Jahren selber für den gebührenden Unterhalt aufgekommen ist.
5A_43/2015 vom 13.10.2015
Strafrecht
Das Bundesgericht hält daran fest, dass es nicht zulässig ist, eine Berufung wegen fehlender rechtsgültiger Unterzeichnung der Berufungserklärung mit Nichteintreten zu erledigen, ohne eine Nachfrist zur Verbesserung anzusetzen. Die Vorschriften des Zivil-, des Strafprozessrechts und des Verwaltungsverfahrensrechts haben der Verwirklichung des materiellen Rechts zu dienen, weshalb die zur Rechtspflege berufenen Behörden verpflichtet sind, sich innerhalb des ihnen vom Gesetz vorgegebenen Rahmens gegenüber den Rechtsuchenden so zu verhalten, dass deren Rechtsschutzinteresse materiell gewahrt werden kann.
6B_218/2015 vom 16.12.2015
Ein Versuch, Stalking unter Strafe zu stellen, scheiterte im Ständerat, weil beim Stalking typisches Verhalten durch andere Straftatbestände ausreichend abgedeckt ist. Dazu zählen etwa Verletzung der Privatsphäre, Missbrauch einer Fernmeldeanlage, Drohung und Hausfriedensbruch. Im konkreten Fall bejahte das Bundesgericht, dass Stalking als Nötigung bestraft werden kann. Den ernstlichen Nachteil erblickte das Gericht im Umstand, dass private und intime Details einer gescheiterten Beziehung (auf Facebook) publik gemacht wurden und E-Mails auch an Personen aus dem privaten und beruflichen Umfeld des Stalking-Opfers geschickt wurden.
6B_492/2015 vom 2.12.2015
Der Urheber von 13 Notzuchtsdelikten ist zu Unrecht lebenslang verwahrt worden. Das Gesetz verlangt für eine lebenslange Verwahrung, dass der Täter die physische, psychische oder sexuelle Integrität des Opfers «besonders schwer» beeinträchtigt hat oder beeinträchtigen wollte. Eine lebenslange Verwahrung kann nicht mit der Betäubung der Opfer begründet werden. Die Opfer wurden nicht besonders schwer beeinträchtigt. Nicht zu entscheiden war, ob beim Täter die Voraussetzungen einer ordentlichen Verwahrung erfüllt wären, die bei andauernder Gefährlichkeit zeitlich ebenfalls unbeschränkt ist.
6B_217/2015 vom 5.11.2015
Sozialversicherungsrecht
Die neue bundesgerichtliche Praxis bei einer somatoformen Schmerzstörung und vergleichbaren psychosomatischen Leiden bringt nicht den Vorteil, dass bereits rechtskräftig beurteilte Fälle bei der Invalidenversicherung (IV) neu angemeldet werden können. Vielmehr ist weiterhin von der grundsätzlichen «Validität» der beweispflichtigen Person auszugehen. Unter der früheren Praxis erfolgte Rentenablehnungen erscheinen daher aus der heutigen Perspektive nicht ohne weiteres als rechtswidrig, sachfremd oder schlechterdings nicht vertretbar.
8C_590/2015 vom 24.11.2015
Art. 18c Abs. 1 AVIG sieht im Rahmen der Leistungskoordination eine Anrechnung der beruflichen Vorsorge an die Arbeitslosenentschädigung bei gleichzeitigem Bezug von berufsvorsorgerechtlichen Altersleistungen und Taggeldern der Arbeitslosenversicherung vor. Ein Abzug ist dann vorzunehmen, wenn die versicherte Person für den gleichen Zeitraum einen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung und Altersleistungen erworben hat. Als erworben gelten dabei die Altersleistungen, wenn diese bezogen werden oder die Verfügbarkeit in der Dispositionsfreiheit der versicherten Person liegt. Auch wenn die versicherte Person das erworbene Vorsorgekapital angelegt oder verzehrt hat, wird die Altersleistung von der Arbeitslosenentschädigung abgezogen.
8C_422/2015 vom 18.12.2015
Die im Bundesrecht getroffene Regelung der privilegierten Dividendenbesteuerung stimmt vom Gehalt her mit der in den Kantonen Obwalden und Nidwalden bereits früher eingeführten Regelung überein. Deshalb ist die in BGE 134 V 297 entwickelte Rechtsprechung zur privilegierten Dividendenbesteuerung nach dem Unternehmenssteuerreformgesetz II weiterhin anwendbar. Von der durch die Gesellschaft gewählten Aufteilung von Lohn und Dividenden ist nur abzuweichen, wenn ein Missverhältnis zwischen Arbeit und Lohn oder eingesetztem Vermögen und Dividende besteht.
9C_327/2015 vom 3.12.2015