Staats-/ Verwaltungsrecht
Die Zürcher Regelung, wonach Richter der obersten kantonalen Instanz nicht mehr zur Wiederwahl vorgeschlagen werden, wenn sie zu Beginn der neuen Amtsperiode das 65. Altersjahr bereits vollendet haben, kann dazu führen, dass manche Richter bis fast 71 richten können, während andere mit 65 Jahren ausscheiden müssen. Eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung liegt im Fall eines Richters, der mit 67 Jahren noch einmal gewählt werden wollte, der aber nicht mehr vorgeschlagen wurde, trotzdem nicht vor. Auch einen Verstoss gegen das Diskriminierungsverbot verneint das Bundesgericht: Da die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit des Menschen mit zunehmendem Alter abnimmt, trägt die Regelung einer geeigneten Besetzung der obersten kantonalen Gerichte Rechnung.
1C_295/2019 und 1C_357/2019 vom 16.7.2020
Ein Kroate wurde zwischen 1999 und 2017 wiederholt strafrechtlich belangt. Zuletzt erhielt er eine Freiheitsstrafe von 42 Monaten für Taten, die er zwischen 2011 und 2016 begangen hatte. Das Urteil behandelte die Frage der strafrechtlichen Landesverweisung nicht. Im Jahr 2019 widerrief die Ausländerbehörde die Niederlassungsbewilligung und wies den Kroaten aus der Schweiz weg. Dieses Vorgehen ist unzulässig: Hat der Strafrichter keine Landesverweisung ausgesprochen, ist es nicht an den Ausländerbehörden, allfällige Fehler zu korrigieren. Dies gilt auch, wenn der Verzicht des Strafrichters auf einem Versehen beruht.
2C_744/2019 vom 20.8.2020
Eine Tessiner Studentin mit italienischer Muttersprache darf eine Prüfung im Bachelor-Studiengang Biologie an der ETH Zürich wiederholen. Der Tessinerin war zu Unrecht der Gebrauch eines Wörterbuches Deutsch-Italienisch verweigert worden. Die Verweigerung des Gebrauchs eines Wörterbuchs stellt einen Verstoss gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit im Prüfungsrecht dar und kommt einer (indirekten) Diskriminierung gleich. Bei der Prüfungswiederholung ist der Studentin der Gebrauch eines Wörterbuches zu gestatten.
2C_769/2019 vom 27.7.2020
Zivilrecht
Eine an einer psychischen Erkrankung leidende Frau aus dem Kanton St. Gallen musste mehrfach in einer psychiatrischen Klinik stationär behandelt werden. Während eines Aufenthalts im Kanton Schwyz erlitt die Frau einen Rückfall. Ein dort frei praktizierender Arzt ordnete ihre fürsorgerische Unterbringung in der psychiatrischen Klinik im Kanton St. Gallen an, aus der sie kurz zuvor entlassen worden war. Die Frau erhob gegen die ärztlich angeordnete fürsorgerische Unterbringung eine Beschwerde. Dem Bundesgericht stellte sich die Frage, welcher Kanton für die Beurteilung der Beschwerde zuständig ist. Die fürsorgerische Unterbringung einer Person ist in jenem Kanton gerichtlich zu beurteilen, auf dessen Hoheitsgebiet sie angeordnet wurde – im konkreten Fall also Schwyz.
5A_175/2020 vom 25.8.2020
2013 verpflichtete das Zivilgericht Basel-Stadt einen Mann im Eheschutzverfahren, seiner Ehefrau einen monatlich vorauszahlbaren Unterhaltsbeitrag von 20 000 Franken zu bezahlen. Vier Jahre später wurde die Ehe geschieden und das Appellationsgericht wies das Unterhaltsbegehren der Frau im Juli 2018 ab. Es stellte fest, dass sich die Parteien gegenseitig keine nachehelichen Unterhaltsbeiträge schulden. Die Frau akzeptierte den Entscheid nicht; vor Bundesgericht war zu diesem Zeitpunkt eine Beschwerde in Zivilsachen hängig. Da der Mann den Unterhaltsbeitrag im August 2018 nicht bezahlte, betrieb die Frau ihren Ex-Gatten und verlangte nach erfolgtem Rechtsvorschlag die Rechtsöffnung. Das Gericht erteilte die definitive Rechtsöffnung. Zu Unrecht. Anders als die Berufung ist die Beschwerde in Zivilsachen gemäss BGG ein ausserordentliches Rechtsmittel. Die Verpflichtung des Ehemannes zur Zahlung der 20 000 Franken entfiel deshalb mit dem Urteil des Appellationsgerichts vom Juli 2018.
5A_714/2019 vom 3.6.2020
Im vereinfachten Verfahren nach Art. 243 ff. muss die Klage im Zeitpunkt der Einreichung nicht begründet werden. Enthält sie keine den Anforderungen von Art. 221 ZPO genügende Begründung, so stellt das Gericht sie nach Art. 245 Abs. 1 ZPO der beklagten Partei zu und lädt die Parteien zur Verhandlung vor. Wie vorzugehen ist, wenn die beklagte Partei nicht zur Verhandlung erscheint, sagt das Gesetz nicht ausdrücklich. Eine Lehrmeinung geht dahin, dass das Gericht bei Säumnis einer Partei an der Hauptverhandlung die Eingaben berücksichtigt, die nach Massgabe der ZPO eingereicht worden sind. Ein anderer Teil der Lehre spricht sich für eine analoge Anwendung von Art. 223 Abs. 1 ZPO aus, gemäss dem das Gericht bei versäumter Klageantwort der beklagten Partei eine kurze Nachfrist setzt und zu einer zweiten mündlichen Verhandlung einlädt. Für das Bundesgericht widerspricht Letzteres dem Zweck des vereinfachten Verfahrens. Es hat entschieden, dass die beklagte Partei, die der Verhandlung unentschuldigt fernbleibt, nicht zu einem neuen Gerichtstermin vorzuladen ist.
4A_85/2020 vom 20.5.2020
Nach dem Willen des Gesetzgebers stehen Eltern bei gemeinsamem Sorgerecht in der Pflicht, alle Kinderbelange selbst zu regeln, ohne dass ein Elternteil Vorrang hat. Können sich Eltern nicht über die Impfung der Kinder gegen Masern einigen, muss bei Gefährdung des Kindeswohls das Gericht oder die Kindesschutzbehörde entscheiden. Von einer Gefährdung des Kindeswohls ist auszugehen, wenn die ernstliche Möglichkeit einer körperlichen Beeinträchtigung des Kindeswohls besteht. Richtschnur für den Entscheid ist dabei die Empfehlung des Bundesamts für Gesundheit zur Masernimpfung.
5A_789/2019 vom 16.6.2020
Strafrecht
Die Walliser Justiz hat eine Frau zu Recht wegen Förderung der rechtswidrigen Einreise in einem leichten Fall zu einer Busse von 800 Franken verurteilt. Die Frau hat einem nach Italien weggewiesenen Flüchtling die Einreise ermöglichen wollen, war aber bei der Zollkontrolle angehalten worden. Die Frau machte vor Bundesgericht geltend, Notstandshilfe geleistet und berechtigte Interessen gewahrt zu haben. Ein Notstand setzt voraus, dass die Gefahr nicht anders abgewendet werden kann. Der übergesetzliche Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen kann nur angerufen werden, wenn die Tat notwendig und angemessen ist. Laut Bundesgericht lag keine derart gravierende Situation vor, die unter das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung fallen würde.
6B_1162/2019 vom 30.6.2020
Wird eine beschuldigte Person freigesprochen oder wird das Verfahren gegen sie eingestellt, hat sie Anspruch auf Genugtuung für besonders schwere Verletzung ihrer persönlichen Verhältnisse, insbesondere bei Freiheitsentzug. Der Fall betraf einen freigesprochenen Mann aus Basel, dem die Freiheit mehr als achtzehneinhalb Stunden entzogen worden war. Der Auffassung der Vorinstanz, bei einem kurzen Freiheitsentzug komme eine Genugtuung nur in Frage, wenn der Freiheitsentzug ohne jeglichen Grund erfolgt sei, folgte das Bundesgericht nicht. Bei der Beurteilung der Auswirkungen auf seine Persönlichkeit gilt es zu beachten, dass der Mann im Verdacht stand, bei einem homophob motivierten Übergriff seiner Kollegen mitbeteiligt gewesen zu sein
6B_491/2020 vom 13.7.2020
Die Rechtsauffassung der Bündner Justiz, für den Geldwäscher bestehe hinsichtlich des durch die Vortat verursachten Schadens lediglich eine subsidiäre zivilrechtliche Verantwortlichkeit, verletzt Bundesrecht. Der Tatbestand der Geldwäscherei im Sinne von Art. 305bis Ziff. 1 StGB schützt zwar in erster Linie die Rechtspflege in der Durchsetzung des staatlichen Einziehungsanspruchs bzw. das öffentliche Interesse an einem reibungslosen Funktionieren der Strafrechtspflege. Doch dient der Tatbestand in Fällen, in denen die fraglichen Vermögenswerte aus Delikten gegen das Vermögen herrühren, auch dem Schutz der individuell durch die Vortat Geschädigten. Ist eine Schadenersatzforderung hinreichend beziffert und begründet, muss das Strafgericht über diese Forderung entscheiden und darf sie nicht auf den Zivilweg verweisen. Die Haftung des Geldwäschers erstreckt sich mit anderen Worten auch auf den durch die Vortat verursachten Schaden im Umfang der Vermögenswerte, deren Einziehung durch die Geldwäscherei vereitelt worden ist.
6B_1202/2019 vom 9.7.2020
Sozialversicherungsrecht
Das mit der Hilflosenentschädigung für lebenspraktische Begleitung verfolgte Ziel liegt darin, behinderten Menschen mit Assistenzbedürfnissen eine grössere Autonomie und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Mit der Verbesserung der individuellen Entschädigung für Betreuung und Begleitung soll der Eintritt von zu Hause lebenden Versicherten in stationäre Einrichtungen nach Möglichkeit verhindert oder wenigstens hinausgeschoben werden. Dieses Ziel würde torpediert, wenn kollektives Wohnen mit einer Betreuungsleistung von weniger als zwei Stunden pro Woche bereits als Heim im Sinne der Invalidenversicherung zu qualifizieren wären und eine Entschädigung für lebenspraktische Begleitung aus diesem Grunde versagt bliebe. Bei der Prüfung der Frage, ob eine Person in einem Heim lebt, darf nicht bloss in abstrakter Weise auf die Abgrenzungskriterien des Art. 35ter Abs. 1 und 4 IVV abgestellt werden.
9C_763/2019 vom 17.8.2020
Nach einem Arbeitsunfall mit Verletzungen an der Hand erbrachte die Suva Leistungen. Acht Jahre nach dem Unfall berechnete die Suva ihre Leistungen neu als Komplementärrente und verwies darauf, dass der Versicherte seine Mitwirkungspflicht im IV-Verfahren verletzt hatte. Das Bundesgericht kommt unter Auslegung von Art. 51 Abs. 2 UVV zum Schluss, dass der Unfallversicherer nicht mehr Leistungen erbringen muss, als er bei pflichtgemässem Verhalten des Versicherten im IV-Verfahren mutmasslich hätte erbringen müssen. Die Aufforderung, sich bei einem möglicherweise leistungspflichtigen anderen Sozialversicherer anzumelden, kann auch nach erstmaliger Leistungszusprechung erfolgen.
8C_72/2020 vom 26.8.2020
2014 wurde eine Fussgängerin von einem Radfahrer von hinten angefahren. Sie erlitt ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, das andauernde Pflegebedürftigkeit zur Folge hatte. Die Suva erbrachte die gesetzlichen Leistungen, nahm im Laufe der Zeit aber Änderungen vor. Vor Bundesgericht war strittig, ob die 2017 revidierte Fassung von Art. 18 Abs. 2 UVV über die Hilfe und Pflege zu Hause auf einen Unfall von 2014 Anwendung findet. Das Gericht hat diese Frage bejaht.
8C_706/2019 vom 28.8.2020