Staats-/Verwaltungsrecht
In Literatur und Rechtsprechung war bislang streitig, ob Art. 41c Abs. 2 der Gewässerschutzverordnung (GSchV) bei zonenwidrigen Bauten ausserhalb der Bauzone eigenständige Bedeutung zukommt oder ob sich der Besitzstandsschutz nach Art. 24c RPG richtet. Abweichend von Entscheid 1C_345/2014 vom 17.6.2015, E. 4, hat das Bundesgericht entschieden, dass der Bestimmung gemäss Art. 41c Abs. 2 GSchV eigenständige Bedeutung zukommt. Altrechtliche Bauten im Gewässerraum sind nur «in ihrem Bestand» geschützt. Eine Änderung, Erweiterung oder ein Wiederaufbau sind unzulässig. Bauten und Anlagen müssen auf einen Standort im Wasser angewiesen sein und im öffentlichen Interesse liegen, damit sie bewilligt werden können.
1C_22/2019 und 1C_476/2019 vom 6.4.2020
Der Führerausweis auf Probe verfällt mit der zweiten Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz (Art. 15a Abs. 4 SVG). Die erste Widerhandlung braucht rechtskräftig zu sein. Entscheidend ist, dass die zweite Widerhandlung ebenfalls einen Ausweisentzug zur Folge hat. Konkret ging es um einen Neulenker, der beim Rückwärtsfahren eine Velofahrerin übersah und drei Monate später einen Selbstunfall mit Verletzten verursachte. Keine analoge Anwendung von Art. 49 StGB (Gesamtmassnahme), wie es ein Teil der Lehre vertritt.
1C_621/2019 vom 23.4.2020
Die Klimaseniorinnen Schweiz sind mit ihrem Anliegen an den Bundesrat nach einem verstärkten Engagement im Klimaschutz vor Bundesgericht abgeblitzt. Zwar können Bürger laut Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren von den Behörden unter bestimmten Voraussetzungen verlangen, widerrechtliche Handlungen zu unterlassen. Das Vorgehen nach Art. 25a VwVG ist jedoch keine Grundlage für eine Popularbeschwerde. Gesuchsteller müssen in ihren Rechten hinreichend berührt werden. Dies ist bei den Klimaseniorinnen bezüglich Grundrecht auf Leben und auf Achtung des Privat- und Familienlebens nicht der Fall.
1C_37/2019 vom 5.5.2020
Der Luzerner Kantonsrat beschloss für 2020 einen Steuerfusstausch: Der Kanton erhöht den Steuerfuss von 1,60 Einheiten um 0,1 Einheiten auf 1,7 Einheiten; im Gegenzug müssen die Gemeinden ihre jeweiligen Steuerfüsse um 0,1 Einheiten senken. Den Gemeinden wurde verboten, für das Jahr 2020 einen anderen Steuerfuss als im Jahr 2019 festzusetzen. Zwei Stimmbürger, die Stadt Luzern und die Gemeinden Meggen und Vitznau erhoben dagegen eine Beschwerde, die das Bundesgericht gutgeheissen hat. Der Steuerfussabtausch verletzt die verfassungsmässige Finanzautonomie der Gemeinden.
2C_610/2019 vom 18.5.2020
Der in der Bündner Gemeinde Trin geplante Weg in der Talsohle der Rheinschlucht (Ruinaulta) darf nicht gebaut werden. Natur- und Tierschutzorganisationen hatten sich gegen den im Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung zu erstellenden Weg, der auch ein Auengebiet von nationaler Bedeutung tangiert, gewehrt. Das Bundesgericht äussert sich im Urteil auch zum Flussuferläufer, der im fraglichen Gebiet brütet. Die geschützte Vogelart ist stark gefährdet. Zu ihrem Lebensraum sind 75 Meter Abstand einzuhalten. Ob ein Wanderweg unter Einhaltung dieser Vorgaben angelegt werden könne, sei zweifelhaft.
1C_595/2018 vom 24.3.2020
Im Streit um eine Einbürgerung eines Mannes aus Kasachstan hat das Bundesgericht entschieden, dass ein Kanton nicht legitimiert ist, Beschwerde gegen einen Entscheid des kantonalen Verwaltungsgerichts zu erheben. Der einbürgerungswillige Mann war als Student in die Schweiz gekommen und hätte unser Land nach Abschluss des Studiums verlassen müssen. Er ersuchte jedoch darum, eingebürgert zu werden. Der Genfer Staatsrat verweigerte die Einbürgerung und bezweifelte eine gute Integration, nachdem der Kasache wegen Trunkenheit am Steuer verurteilt worden war. Das Genfer Verwaltungsgericht hiess den Rekurs des Mannes gut, worauf der Staatsrat das Bundesgericht anrief.
1D_4/2019 vom 10.3.2020
Sozialversicherungsrecht
Art. 11 Abs. 3bis BVG sieht vor, dass die Auflösung eines Anschlusses und der Anschluss an eine neue Vorsorgeeinrichtung durch den Arbeitgeber im Einverständnis mit dem Personal oder der allfälligen Arbeitnehmervertretung zu erfolgen hat. Angestellten wird damit beim Wechsel in eine andere Pensionskasse ein besonderes Mitbestimmungsrecht eingeräumt. Es reicht nicht, das Personal nach der Kündigung zu orientieren oder anzuhören. Vielmehr ist dessen Zustimmung zum Anschlusswechsel nötig. Wurde das Personal nicht einbezogen, ist die Kündigung ungültig.
9C_409/2019 vom 5.5.2020
Mit Revisionsverfügung hob die IV-Stelle des Kantons St. Gallen die Invalidenrente eines Mannes auf. Dennoch zahlte die Schweizerische Ausgleichskasse die monatliche Rente weiter aus. Erst vier Jahre später zeigte sich, dass die Rentenaufhebung der Ausgleichskasse nie mitgeteilt worden war. In der Folge forderte die Ausgleichskasse Auszahlungen von 190 000 Franken zurück. Das Bundesgericht entschied, dass die Rückforderung bis auf 15 000 Franken verwirkt ist. Grund: Der Streit über die Rückerstattung war bereits im Mai 2015 Gegenstand eines Verfahrens vor dem kantonalen Versicherungsgericht. Über solche Verfahren muss das jeweils andere Durchführungsorgan gemäss einem Kreisschreiben informiert werden. Hätte die IV-Stelle diese Verwaltungsanweisung befolgt, wäre die Ausgleichskasse auf die Fehlzahlungen aufmerksam geworden.
9C_625/2019 vom 18.5.2020
Die Tätigkeit als privater Fachbeistand für die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde ist AHV-rechtlich gesehen eine selbständige Tätigkeit. Es kann nicht von einem eigentlichen wirtschaftlichen respektive arbeitsorganisatorischen Abhängigkeitsverhältnis ausgegangen werden. Der behördlichen Aufsicht sowie den möglichen Massnahmen zur Einflussnahme ist primär eine Sicherungsfunktion zugunsten der Interessen der verbeiständeten Person beizumessen. Eine weitgehend selbständige Mandatsführung durch den Beistand ist geradezu charakteristisch für das zur Erwachsenenschutzbehörde bestehende Verhältnis. Solche Personen sind als Selbständigerwerbende einzustufen.
9C_669/2019 vom 7.4.2020
Vor rund 15 Jahren wurde die Führung der Militärversicherung an die Suva übertragen. Dabei unterliess es der Gesetzgeber, die Frage der Beschwerdebefugnis der Suva an das Bundesgericht zu thematisieren. Dem Bundesgericht stellte sich deshalb kürzlich die Frage, ob die Suva/MV gegen Entscheide der kantonalen Versicherungsgerichte überhaupt Beschwerde erheben kann. Es gibt keine Hinweise dafür, dass der Gesetzgeber in Abweichung von der früheren Regelung der Suva/MV die Beschwerdebefugnis entziehen wollte und deshalb keine gesetzliche Grundlage schuf. Laut Bundesgericht liegt kein qualifiziertes Schweigen vor: «Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Anpassung der gesetzlichen Regelung versehentlich unterblieben ist.» Ein gerichtliches Eingreifen ist unter diesen Umständen möglich und geboten. Der Suva/MV steht deshalb die Befugnis zu, gegen Entscheide kantonaler Versicherungsgerichte Beschwerde zu führen.
8C_641/2019 vom 8.4.2020
Zivilrecht
Gemäss Art. 681 Abs. 2 ZGB entfällt das Vorkaufsrecht, wenn das Grundstück an eine Person veräussert wird, der ein Vorkaufsrecht im gleichen oder in einem vorderen Rang zusteht. Strittig war, in welchem Zeitpunkt das gleich oder vorrangige Vorkaufsrecht der erwerbenden Person bestehen muss, damit das Vorkaufsrecht entfällt. Gemäss Bundesgericht kann nur vorkaufsberechtigt sein, wer bereits gemeinschaftliches Eigentum hat. Das Vorkaufsrecht setzt voraus, dass bereits eine dingliche und nicht bloss eine obligatorische Verbindung mit der Sache besteht. Wer im Zeitpunkt des Vorkaufsfalls nicht im Grundbuch eingetragener Miteigentümer ist, hat kein Vorkaufsrecht und gilt als Nichtmiteigentümer. Wer einen Miteigentumsanteil erwirbt, kann das gesetzliche Vorkaufsrecht ausüben.
5A_127/2019 vom 4.5.2020
Die Vizepräsidentin des Handelsgerichts Zürich ordnete nach Ausbruch der Coronavirus-Pandemie gegen den Willen einer Partei an, dass die für den 7. April 2020 vorgesehene mündliche Verhandlung per Videokonferenz mit der Smartphone-Applikation «Zoom Cloud Meetings» durchgeführt wird. Dies war unzulässig. Die Durchführung der Hauptverhandlung per Videokonferenz gegen den Willen einer Partei verletzt die Zivilprozessordnung. Es gibt hierfür keine gesetzliche Grundlage. Das Handelsgericht kann sich auch nicht auf die ausserordentliche Lage infolge der Coronavirus-Pandemie stützen. Die bundesrätliche Verordnung über Massnahmen in der Justiz und im Verfahrensrecht mit dem Coronavirus (SR 272.81), welche unter gewissen Bedingungen eine Videokonferenz ermöglicht, trat erst am 20. April 2020 in Kraft, war im konkreten Fall also noch nicht anwendbar.
4A_180/2020 vom 6.7.2020
Eine Genfer Privatbank muss einem Kunden nicht 320 000 Euro und 185 000 US-Dollar vergüten, weil es Hackern gelungen war, sich Zugang zum E-Mail-Konto des Kunden zu verschaffen und Überweisungen zu veranlassen. Das Kantonsgericht warf der Bank vor, die betrügerischen Zahlungsaufträge hätten auffallen müssen. Der Bank sei somit ein grober Fehler unterlaufen, für den sie hafte. Anders sieht es das Bundesgericht. Der Kunde hatte stets per E-Mail oder Telefon mit der Bank kommuniziert. Da die betrügerischen Überweisungen an bekannte Banken in England gingen, musste die Bank keinen Verdacht schöpfen.
4A_9/2020 vom 9.7.2020
Strafrecht
Entgegen der Auffassung eines Teils der Lehre hat das Bundesgericht mit BGE 138 IV 130 die Strafbarkeit der Falschbeurkundung nicht ausgeweitet. Rechnungen sind nur unter besonderen Umständen Urkunden, da sie in der Regel blosse Behauptungen des Ausstellers über die vom Empfänger geschuldete Leistung enthalten. Konkret ging es um den Verkauf einer Snackbar. Im schriftlichen Vertrag war von einem Kaufpreis von 10 000 Franken die Rede, in Wirklichkeit wurden 150 000 Franken bezahlt. Dass der simulierte Vertrag im Hinblick auf die Liquidation des Ehevermögens des in Scheidung stehenden Verkäufers verfasst wurde, genügt nicht für eine Verurteilung wegen Falschbeurkundung.
6B_1406/2019 vom 19.5.2020