Zur Publikation vorgesehen
Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats-/Verwaltungsrecht
Das im Kanton Graubünden bei Grossratswahlen angewandte Majorzsystem verträgt sich nicht mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Mit der in Art. 34 Abs. 2 der Bundesverfassung garantierten Stimmkraftgleichheit lässt sich die Grösse des kleinsten Wahlkreises Avers mit nur 160 Stimmberechtigten nicht vereinbaren. Im Durchschnitt repräsentiert ein Mitglied des Grossen Rates 1342 Personen. Als minimale Grösse eines Wahlkreises ist nach Meinung des Bundesgerichts von der Hälfte dieser Repräsentationsziffer auszugehen. Die Anwendung des Majorzsystems lässt sich auch in den sechs bevölkerungsreichsten Wahlkreisen Chur, Fünf Dörfer, Oberengadin, Davos, Ilanz und Rhäzüns sachlich nicht rechtfertigen, weil bei den dort zu vergebenden Sitzen nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass den Kandidaten eine Mehrzahl der Stimmberechtigten persönlich bekannt ist. Vielmehr ist hier die Parteizugehörigkeit ausschlaggebend.
1C_495/2017 vom 29.7.2019
Zivilrecht
Umfassendes Urteil zu Fragen rund um den nachehelichen Unterhalt in einem Ehevertrag: Das Gesetz enthält keine spezielle Regel, die es einem Ehegatten verbietet, sich vor oder nach dem Eingehen einer Ehe vertraglich zu verpflichten, dem andern im Fall einer Scheidung einen bestimmten Beitrag an dessen Unterhalt zu leisten. Grundsätzlich bindet eine solche Vertragsabrede daher die Vertragsparteien, freilich unter Vorbehalt der späteren Genehmigung durch das Scheidungsgericht. Für die inhaltliche Kontrolle einer strittigen Scheidungsklausel ist nicht auf das Einkommen und Vermögen abzustellen, über das die Parteien im Zeitpunkt des Abschlusses des Ehevertrages verfügten. Entscheidend sind die Einkommens- und Vermögensverhältnisse im Zeitpunkt der Genehmigung durch das Scheidungsgericht.
5A_778/2018 vom 23.8.2019
Das Bundesgericht hält an seiner Praxis fest, wonach es zulässig ist, in einem Konkurrenzverbot «jede konkurrenzierende Tätigkeit» zu verbieten. Diese Umschreibung hat sich in der Rechtspraxis etabliert, ernsthafte sachliche Gründe für eine
Praxisänderung sind nicht ersichtlich. Das Verbot der «konkurrenzierenden Tätigkeit» erfüllt das Gebot der Form. Es ist genügend bestimmt und anhand der allgemeinen Auslegungsmethoden hinreichend bestimmbar. Das Konkurrenzverbot muss sich nicht zum konkreten Umfang äussern, wie ein Teil der Lehre annimmt. Da ein Konkurrenzverbot nicht jede Tätigkeit untersagen darf, sondern nur eine konkurrenzierende, kann das Verbot nicht über den effektiven Geschäftsbereich hinausreichen.
4A_210/2018 vom 2.4.2019
Bei einem Taxitransfer vom Flughafen zum Hotel ereignete sich ein schwerer Unfall. Der Transfer war im Rahmen einer Pauschalreise vom Reisebüro gebucht worden. Beim Unfall starb die Ehefrau, der Ehemann erlitt schwere Verletzungen und klagte in der Folge gestützt auf das Pauschalreisegesetz auf Zahlung einer Genugtuung. Anders als die Genfer Justiz kommt das Bundesgericht zum Ergebnis, dass keine Haftung des Veranstalters besteht. Einerseits war nicht bekannt, wie sich der tragische Unfall im Detail ereignet hatte. Andererseits stellt der Eintritt des Verkehrsunfalles – so schwer er auch war – als solcher noch keine Vertragsverletzung dar. Auch konnte dem Reiseveranstalter keine Verletzung der Vertragspflichten vorgeworfen werden.
4A_396/2018 vom 29.8.2019
Strafrecht
Erstes Urteil des Bundesgerichts zum Recht des Opfers und weiterer Personen, von den Behörden über die Entlassung des Täters aus dem Strafvollzug informiert zu werden. Art. 92a des Strafgesetzbuches, in Kraft seit dem 1. Januar 2016, räumt dem Opfer und seinen Angehörigen sowie Personen mit einem schutzwürdigen Interesse ein Recht auf Information zum Strafvollzug der Täterin oder des Täters ein. Primär geht es darum, über den Zeitpunkt der Entlassung oder eine Flucht informiert zu werden. Die Information kann verweigert werden, wenn es überwiegende Interessen der verurteilten Person rechtfertigen. Die Information setzt nicht voraus, dass die verurteilte Person gegenüber der ersuchenden Person ein «negatives Verhalten» an den Tag gelegt hat.
6B_630/2019 vom 29.7.2019
Das Bundesgericht hält daran fest, dass 12 Gramm Heroin, 18 Gramm Kokain, 200 LSD-Trips und 36 Gramm Amphetamin die Gesundheit vieler Menschen gefährden können und somit ein schweres Drogendelikt vorliegt. Daran ändert die seit Juli 2011 geltende Fassung von Art. 19 Abs. 2 BetmG nichts, obwohl darin das Kriterium der Menge nicht mehr genannt wird. Mit der neuen Fassung (… wenn der Täter «weiss oder annehmen muss, dass die Widerhandlung mittelbar oder unmittelbar die Gesundheit vieler Menschen in Gefahr bringen kann») soll ermöglicht werden, dass auch andere Elemente als die Menge berücksichtigt werden können. Neu hat das Bundesgericht entschieden, dass bei Crystal Meth (Methamphetamin) die Grenze für einen schweren Fall bei 12 Gramm liegt.
6B_504/2019 vom 29.7.2019
Urteile und andere verfahrensleitende Entscheide müssen, sofern sie anfechtbar sind, eine Rechtsmittelbelehrung enthalten. Das Gebot der Fairness und der Waffengleichheit erfordert bei Adressaten mit Wohnsitz im Ausland einen Hinweis zur Fristwahrung. Bei kantonalen Strafverfahren, die teils kurze Fristen kennen, muss die Rechtsmittelbelehrung bei Zustellungsempfängern im Ausland einen Hinweis auf Art. 91 Abs. 2 der Strafprozessordnung enthalten. Diese Bestimmung besagt, dass die betroffene Person ihr Rechtsmittel im Ausland innert Frist auch einer schweizerischen diplomatischen oder konsularischen Vertretung übergeben kann.
6B_315/2019 vom 5.7.2019
Art. 5 Abs. 1 Anhang 1 des Freizügigkeitsabkommens (FZA) –Einschränkung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit – ist im Bereich des Strafrechts nicht eng auszulegen, sondern gemäss dem Wortsinn der Bestimmung. Zu berücksichtigen ist, dass es sich beim FZA im Wesentlichen um ein wirtschaftsrechtliches und nicht um ein strafrechtliches Abkommen handelt. Im Einzelfall haben die Gerichte zu prüfen, ob das FZA eine strafrechtliche Landesverweisung verhindern kann. Konkret ging es um einen Spanier, bei dem 590 Gramm Kokaingemisch gefunden wurde. Der Mann erhielt wegen qualifizierten Drogenhandels eine Freiheitsstrafe von 19 Monaten und wurde für sieben Jahre des Landes verwiesen. Zu Recht, wie das Bundesgericht festgestellt hat. Es ist der gesetzgeberische Wille, dem Drogenhandel durch Ausländer einen Riegel zu schieben.
6B_378/2018 vom 22.5.2019
Das Motorfahrrad (Töffli oder Moped) untersteht laut einem neuen Urteil des Bundesgerichts der Kategorie Motorfahrzeuge. Es hat entschieden, dass ein betrunkener Mopedlenker gleich bestraft wird wie ein alkoholisierter Autofahrer. Im konkreten Fall war ein Töfflilenker aus dem Waadtland stark alkoholisiert unterwegs, obschon ihm der Führerausweis für alle Kategorien schon vor Jahren entzogen worden war. Diese Fahrt war eine von zahlreichen Verurteilungen wegen ähnlicher Verstösse gegen das Strassenverkehrsgesetz. Das Waadtländer Obergericht lehnte es ab, die Strafbestimmungen für motorlose Fahrzeuge (Art. 91 Abs. 1 lit. c SVG) anzuwenden und den Lenker – wie zuvor die Vorinstanz – bloss mit einer Busse zu bestrafen. Es verurteilte den Mann wegen Lenkens eines Motorfahrzeuges unter Alkoholeinfluss (Art. 91 Abs. 2 lit. a SVG) zu sechs Monaten Freiheitsstrafe und 300 Franken Busse.
6B_451/2019 vom 18.6.2019
Sozialversicherungsrecht
Personen ohne Wohnsitz und Erwerbstätigkeit in der Schweiz, deren Invalidenrente aufgehoben wurde, dürfen vom Anspruch auf Wiedereingliederungsmassnahmen und vom akzessorischen Anspruch auf Weiterausrichtung der bisherigen Rente ausgeschlossen werden. Das Bundesgericht vermochte darin keinen Verstoss gegen das in Zusammenhang mit dem Freizügigkeitsabkommen mit der Europäischen Union übernommenen Gemeinschaftsrecht, insbesondere dem Diskriminierungsverbot zu erkennen. Der Fall betraf einen Portugiesen, der 20 Jahre in der Schweiz arbeitete, ab dem Jahr 2000 eine halbe Invalidenrente erhielt und 2004 in seine Heimat zurückkehrte. Wenig später wurde seine Invalidenrente revisionsweise aufgehoben. Durch die Rückkehr nach Portugal verlor er den Anspruch auf Wiedereingliederungsmassnahmen und auf eine akzessorische Rente. Das Gesetz sieht ausdrücklich vor, dass Massnahmen nur in Ausnahmefällen im Ausland gewährt werden. Dies gilt auch für Schweizer im Ausland, die nicht mehr IV-unterstellt sind.
9C_760/2018 vom 17.7.2019