Staats-/Verwaltungsrecht
Das Bundesgericht ändert seine Praxis bei vorsorglichen Massnahmen im Zusammenhang mit dem Führerausweisentzug. Die erstinstanzliche Behörde ist befugt, gegen den Entscheid der zweiten Instanz Beschwerde zu führen, wenn diese – anders als die erste Instanz – auf eine Fahreignungsprüfung inklusive vorsorglichem Führerausweisentzug verzichtet und die sofortige Aushändigung des Führerausweises anordnet. Mit einem solchen Entscheid ist die vorsorgliche Massnahme endgültig abgeschlossen, weshalb es sich um einen Endentscheid handelt. Allerdings kann aufgrund von Art. 98 BGG nur die Verletzung verfassungsmässiger Rechte gerügt werden. Im konkreten Fall hatte die erste Instanz einzig eine Verletzung von Art. 15 d SVG (Fahren unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln) und von Art. 30 VZV (vorsorglicher Ausweisentzug) geltend gemacht, weshalb das Bundesgericht nicht auf die Beschwerde eingetreten ist.
1C_42/2020 vom 14.9.2020
Ist eine Ausreise aufgrund der Coronapandemie in absehbarer Zeit objektiv unmöglich, dann ist eine Durchsetzungshaft gegen eine ausländische Person aufzuheben. Im konkreten Fall war eine Ausreise eines Betroffenen nach Mali nicht möglich, weil coronabedingt keine Flüge stattfanden und weil Ein- und Ausreisesperren bestanden. Der Betroffene konnte weder freiwillig in seine Heimat reisen, noch konnten ihn die Behörden zwangsweise dorthin bringen. Nicht massgebend ist in solchen Fällen, ob die betreffende Person bei der Papierbeschaffung oder bei der Feststellung ihrer Identität kooperiert hat. Es lagen technische Hindernisse vor, die auch bei einer Kooperation des Mannes eine Rückkehr nicht erlauben würden.
2C_408/2020 vom 21.7.2020
Ein Schaffhauser Hausarzt meldete der Staatsanwaltschaft von sich aus den dringenden Tatverdacht eines sexuellen Kindsmissbrauchs. Der Verteidiger des Beschuldigten warf in der Folge die Frage der ärztlichen Schweigepflicht auf. Ein Behördenvertreter erklärte hierauf, es handle sich um einen «Paradefall» der Anwendung von Art. 15 Abs. 2 lit. c des kantonalen Gesundheitsgesetzes, wonach ärztliches Personal gegenüber den Strafverfolgungsbehörden von der Schweigepflicht befreit sei in Bezug auf Wahrnehmungen, die auf ein verübtes oder drohendes Verbrechen oder Vergehen gegen die sexuelle Integrität schliessen lassen. Diese Auffassung drang beim Bundesgericht nicht durch. Kantonale Verwaltungsnormen dürfen die bundesgesetzlichen Bestimmungen über die Entbindung vom Berufsgeheimnis nicht unterlaufen und das Arztgeheimnis aushöhlen. Die genannte Schaffhauser Bestimmung kann nicht als gesetzliche Grundlage für eine pauschale ärztliche Auskunfts- und Editionspflicht – ohne eine gültige Entbindung vom Arztgeheimnis auf ärztlichen Antrag hin – interpretiert werden.
1B_545/2019 vom 14.10.2020
Die Anwaltskammer des Kantons Bern sprach gegen einen Rechtsanwalt eine Verwarnung aus, weil er in einem Gerichtsverfahren eine Stundungsvereinbarung als Beweismittel eingereicht hatte, die in wesentlichen Punkten vom Original abwich. Der Anwalt beschwerte sich beim Verwaltungsgericht und beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Das Gericht wies die Beschwerde ab, ohne eine mündliche Verhandlung durchzuführen. Das Bundesgericht hat dieses Vorgehen nun beanstandet und erinnert daran, dass der Begriff der «civil rights» nicht nur zivilrechtliche Streitigkeiten, sondern auch Verwaltungsakte einer hoheitlich handelnden Behörde umfasst, sofern sie massgeblich in Rechte und Verpflichtungen privatrechtlicher Natur eingreifen. Das anwaltliche Disziplinarverfahren stellt eine Streitigkeit über zivilrechtliche Ansprüche nach Art. 6 Ziffer 1 EMRK dar. Gründe, unter diesen Umständen auf die Durchführung einer mündlichen beziehungsweise öffentlichen Verhandlung zu verzichten, sind nicht ersichtlich.
2C_204/2020 vom 3.8.2020
Gemäss Art. 83 lit. w BGG ist eine Beschwerde gegen Entscheide auf dem Gebiet des Elektrizitätsrechts betreffend Plangenehmigung von Stark- und Schwachstromleitungen und die Entscheide auf diesem Gebiet betreffend Enteignung für den Bau oder Betrieb solcher Anlagen notwendigen Rechte ausgeschlossen, wenn sich keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt. In einem Streit zwischen der Swissgrid und zwei Grundeigentümern um Überleitungsrechte für eine Freileitung bejaht das Bundesgericht das Vorliegen einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, da es um hohe Enteignungsentschädigungen geht. Die Swissgrid spricht von 5300 Fällen und Kosten von über einer Milliarde Franken, was die Netzkosten erheblich verteuern würde.
1C_647/2019 vom 8.10.2020
Eine libanesische Staatsangehörige hatte im Rahmen des umgekehrten Familiennachzugs zum Verbleib bei ihrem zehnjährigen Sohn um eine Aufenthaltsbewilligung ersucht. Die Zürcher Migrationsbehörden – zuletzt das Verwaltungsgericht – wiesen das Gesuch ab, ohne den Sohn zum Thema zu befragen. Dies hat das Bundesgericht beanstandet. Aus Art. 8 EMRK folgt ein Anspruch und eine Verpflichtung der staatlichen Behörden, in allen Belangen, welche das Familienleben und das Kindswohl betreffen, diese Aspekte gebührend in die Beurteilung einzubeziehen. Auch das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (KRK) verlangt, dass die Meinung des Kindes angemessen und seinem Alter und seiner Reife entsprechend zu berücksichtigen ist. Im konkreten Fall hatte der Sohn gar keine Möglichkeit, seinen Standpunkt zum Verhältnis seiner Eltern einzubringen. Dies hätte aber entscheidend zur Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts beitragen können, umso mehr, als das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn ausschlaggebend für einen allfälligen Bewilligungsanspruch der Mutter ist.
2C_1026/2019 vom 16.7.2020
Zivilrecht
Im Rahmen eines Betreibungsverfahrens über den Betrag von 1,85 Millionen Franken pfändete das Betreibungsamt zwei im Eigentum des Betriebenen stehende Grundstücke provisorisch. Kurze Zeit später wurde ein Inhaberschuldbrief (Eigentümerschuldbrief) über 2,1 Millionen Franken, lastend an erster Pfandstelle, auf den beiden Grundstücken, errichtet. Das Betreibungsamt pfändete den Schuldbrief. Später gelangten die beiden Grundstücke infolge Scheidung an die Ehefrau des Betriebenen. Als das Betreibungsamt die Verwertung des Schuldbriefes verfügte, hielt es in den Steigerungsbedingungen fest, dass die Bestimmung von Art. 156 Abs. 2 SchKG, wonach zu Faustpfand begebene Eigentümer- und Inhabertitel auf den Betrag des Erlöses herabgesetzt werden, keine Anwendung findet. Anders sah es das Zürcher Obergericht. Es schloss auf eine echte Lücke im Gesetz und verfügte, dass die Bestimmung für gepfändete Schuldbriefe analog anwendbar ist. Das Bundesgericht kann keine Gesetzeslücke erkennen und hat entschieden, dass die Bestimmung nicht – und zwar auch nicht analog – anwendbar ist.
5A_806/2019 vom 14.9.2020
Strafrecht
Ausführliches Urteil zum Numerus clausus der Verfahrens- und Erledigungsformen im Strafverfahren. In der Strafprozessordnung nicht vorgesehene Verfahren sind nicht zulässig und können auch nicht von den Kantonen eingeführt werden. Angesichts der Tragweite eines Strafverfahrens und der Auswirkungen, die es auf die daran beteiligten beziehungsweise die davon betroffenen Personen hat, ist es unerlässlich, dass die Strafbehörden das Strafverfahren nach den vom Gesetzgeber vorgesehenen Formen durchführen. Es handelt sich um einen fundamentalen Grundsatz des Strafprozessrechts. Im konkreten Fall hat das Bundesgericht Verfahrensfragen im Strafverfahren gegen eine schuldunfähige Person zu beurteilen, die im Wahn ein Tötungsdelikt begangen hatte. Die erste Instanz hatte zwei verschiedenen Verfahrensformen miteinander vermischt, was vom Obergericht zwingend hätte korrigiert werden müssen.
6B_360/2020 vom 8.10.2020
Das Bundesgericht hält an seiner Rechtsprechung fest, wonach Fahrerflucht auch fahrlässig begangen werden kann. Ein Lenker, der ein Motorrad und ein Auto mit Wohnanhänger überholen wollte und dabei seitlich mit dem ebenfalls zum Überholen ansetzenden Motorrad kollidierte, hatte argumentiert, der Tatbestand der Führerflucht könne nicht fahrlässig begangen werden. Gemäss SVG sind alle gemäss diesem Gesetz verbotenen Handlungen auch bei fahrlässiger Begehung strafbar, sofern das SVG selber nicht etwas anderes bestimmt. Würde Führerflucht nur bei vorsätzlichem Handeln geahndet, könnte der Zweck dieser Bestimmung – Bewahrung vor gesundheitlicher und wirtschaftlicher Gefährdung und Aufklärung der Unfallursachen – nicht erreicht werden. Das Argument des Lenkers, er habe den Unfall nicht bemerkt, liess das Gericht nicht gelten. Wer aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit einen Verkehrsunfall nicht bemerkt, macht sich der fahrlässigen Führerflucht schuldig.
6B_1452/2019 vom 25.9.2020
Gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO dürfen Beweise, die Strafbehörden in strafbarer Weise erhoben haben, nicht verwertet werden, es sei denn, ihre Verwertung sei zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich. Von Privaten rechtswidrig erlangte Beweismittel sind nur verwertbar, wenn sie von den Strafverfolgungsbehörden rechtmässig hätten erlangt werden können und kumulativ dazu eine Interessenabwägung für deren Verwertung spricht. Obschon der Tatbestand des Landfriedensbruchs ein Vergehen ist, kann dieser als schwere Straftat qualifiziert werden. Das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung und der Verwertbarkeit von Beweismitteln wiegt – bezogen auf den Landfriedensbruch – grundsätzlich schwer, wenn es zu schwerwiegenden Gewalttätigkeiten gegen Menschen und Sachen gekommen ist.
6B_1468/2019 vom 1.9.2020
Gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO hat eine beschuldigte Person bei Freispruch oder Einstellung des Verfahrens Anspruch auf Entschädigung ihrer Aufwendungen für die angemessene Ausübung ihrer Verfahrensrechte. Fordert die Staatsanwaltschaft die Person oder deren Rechtsvertreter auf, allfällige Entschädigungsansprüche zu beziffern, und setzt dafür eine Frist von 14 Tagen, reagiert die Partei jedoch nicht innert dieser Frist, darf die Staatsanwaltschaft ohne Weiteres von einem Verzicht auf die Geltendmachung von Ansprüchen ausgehen. Es besteht keine Pflicht der Behörde, die Entschädigung nach Ermessen festzusetzen. Ebenso ist es auch nicht erforderlich, die Partei auf die Säumnisfolgen hinzuweisen oder ihr eine Nachfrist anzusetzen. Vielmehr kann eine Partei, die eine Frist unverschuldet versäumt hat, ein Wiederherstellungsgesuch nach Art. 94 StPO stellen.
6B_130/2020 vom 17.9.2020
Sozialversicherungsrecht
Gemäss Art. 16 Abs. 2 der Freizügigkeitsverordnung (FZV) kann eine versicherte Person die vorzeitige Auszahlung der Altersrente verlangen, wenn sie eine ganze Rente der Eidgenössischen Invalidenversicherung bezieht. In diesem Zusammenhang stellte sich die Frage, ob das Guthaben eines Freizügigkeitskontos bei rückwirkender Zusprechung einer ganzen Invalidenrente und Ergänzungsleistungen in der Berechnung des Ergänzungsleistungsanspruchs rückwirkend als (verzehrbares) Vermögen zu berücksichtigen ist. Das Bundesgericht hat jetzt entschieden, dass Art. 16 Abs. 2 FZV dahingehend auszulegen ist, dass der Anspruch auf Auszahlung des Guthabens eines Freizügigkeitskontos bei rückwirkender Zusprache einer ganzen Rente der Invalidenversicherung mit deren Rechtskraft entsteht. Erst ab diesem Zeitpunkt kann das Guthaben als verzehrbarer Vermögenswert angerechnet werden.
9C_135/2020 vom 30.9.2020