Staats-/Verwaltungsrecht
Als Minimalanforderung an ein rechtsstaatliches Verfahren gewährleistet Art. 29 Bundesverfassung den Erlass eines Entscheids innerhalb einer angemessen Frist. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt, wenn ein Asylverfahren mehr als 2½ Jahre dauert. Das Bundesgericht hat deshalb bei der Behandlung einer Aufsichtsanzeige das Bundesverwaltungsgericht eingeladen zu prüfen, wie in Verfahren, für welche kurze gesetzliche Behandlungsfristen gelten, Mechanismen für eine rasche Entscheidfindung bereitgestellt werden können. Zu denken ist etwa an Regeln, wann und mit welchen Fristen anstelle von sequenziellen Zirkulationsverfahren Sitzungen anzuberaumen sind. Sitzungen, die innert angemessener kurzer Frist angesetzt werden, sind grundsätzlich geeignet, zu einer raschen Entscheidung zu kommen.
12T_4/2017 vom 26.6.2018
Die im Mai 2014 gestartete HIV-Präventionskampagne «LOVE LIVE – bereue nichts» ist rechtlich unantastbar. 35 Kinder und Jugendliche, vertreten durch ihre Eltern, hatten im Juli 2014 vom Bundesamt für Gesundheit den Erlass einer anfechtbaren Verfügung verlangt, um gegen die Kampagne vorzugehen. Das Bundesamt trat auf das Gesuch nicht ein, was vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt wurde. Eine dagegen erhobene Beschwerde der Betroffenen hat das Bundesgericht nun ebenfalls abgewiesen. Bei der Informationskampagne handelt es sich um sogenanntes «Realhandeln» einer Behörde. Die Berufung der Eltern auf Art. 11 der Bundesverfassung, welcher Kindern und Jugendlichen Anspruch auf besonderen Schutz gewährt, nützte nichts. Bei entsprechender Erziehung könnten Kinder und Jugendliche die gezeigten Bilder und Videosequenzen der Kampagne korrekt einordnen, meint das Bundesgericht.
2C_601/2016 vom 15.6.2018
Die im Urnengang vom 11. März 2012 angenommene Begrenzung des Baus von neuen Zweitwohnungen stellt keine Beschränkung des Eigentums dar, die einen Anspruch auf eine Entschädigung für Enteignung auslösen könnte. Das Eigentum ist nicht unbeschränkt garantiert, sondern nur innerhalb der Grenzen der Rechtsordnung. Eine Entschädigung kann nur bei krassen Ungleichheiten erfolgen. Im konkreten Fall hatte ein Unternehmen von einer Walliser Gemeinde wegen materieller Enteignung eine Entschädigung von 500 000 Franken gefordert, weil sie nach dem Ja zur Initiative die Bewilligung für den Bau eines Chalets mit vier Wohnungen verweigert hatte.
1C_216/2017 vom 6.8.2018
Das Bundesamt für Kommunikation ist verpflichtet, einem Betroffenen die Mehrwertsteuern zurückzuerstatten, die bei ihm auf Empfangsgebühren für Radio und Fernsehen erhoben worden sind. Allerdings besteht nur insoweit ein Anspruch, als noch keine Verjährung eingetreten ist. Im konkreten Fall hatte ein Radiohörer bzw. Fernsehzuschauer die Rückerstattung der illegal erhobenen Mehrwertsteuern unmittelbar nach dem BGE 141 II 182 im April 2015 und damit rechtzeitig innerhalb der einjährigen Frist seit Kenntnis seines Anspruchs verlangt. Er erhält die Mehrwertsteuer pro rata temporis zurück.
2C_240/2017 vom 18.9.2018
Zivilrecht
Nach der Scheidung wurde die elterliche Sorge für die beiden Töchter beiden Elternteilen belassen, wobei der Mutter die Obhut übertragen wurde. Als die Mutter verstarb, wünschte die noch minderjährige Tochter, weiterhin zusammen mit ihrer älteren Schwester beim früheren Lebenspartner der verstorbenen Mutter leben zu dürfen. Die Kesb entzog darauf dem Vater das Aufenthaltsbestimmungsrecht über die Tochter. Eine Beschwerde hat das Bundesgericht abgewiesen. Im Vordergrund steht das Wohl des Kindes. Dem klaren Willen des Mädchens ist grosses Gewicht beizumessen.
5A_463/2017 vom 10.7.2018
Beim Betreuungsunterhalt gilt neu das Schulstufenmodel. Der hauptbetreuende Elternteil muss ab Einschulung des jüngsten Kindes zu 50 Prozent eine Erwerbstätigkeit ausüben, ab dessen Eintritt in die Sekundarstufe zu 80 Prozent und ab seinem vollendeten 16. Lebensjahr zu 100 Prozent. Dies gilt auch beim ehelichen und nachehelichen Unterhalt. Aus zureichenden Gründen kann im Einzelfall davon abgewichen werden.
5A_384/2018 vom 21.9.2018
Die Luzerner Behörden haben zu Recht auf eine Täuschungsgefahr erkannt und der Lozärner Bier AG befohlen, auf der Etikette anzugeben, dass das Bier nicht in Luzern, wie auf der Etikette suggeriert, sondern in Schaffhausen gebraut wird. Das «Lozärner Bier» stellt mit diversen Gestaltungselementen einen engen Bezugsrahmen zum geografischen Raum «Luzern» her. Beim durchschnittlichen Konsumenten entsteht dadurch der Eindruck, das Bier stamme aus dieser Gegend.
2C_761/2017 vom 25.6.2018
Strafrecht
Der Begriff «Behörde» in Art. 104 Abs. 2 StPO ist in einschränkendem Sinne zu verstehen, wobei nicht auszuschliessen ist, dass auch privatrechtliche Organisationen darunterfallen. Entscheidend ist, dass einer Organisation die Erfüllung einer dem Gemeinwesen zustehenden öffentlich-rechtlichen Aufgabe übertragen wurde und ihr dabei hoheitliche Befugnisse zukommen. Dementsprechend haben private Tierschutzorganisationen wie der «Dachverband Berner Tierschutzorganisationen» keine Parteirechte in einem Strafverfahren wegen Tierschutzdelikten.
6B_982/2017 vom 14.6.2018
Gemäss Art. 6 des Ordnungsbussengesetzes kann eine Ordnungsbusse (bis 300 Franken) dem im Fahrzeugausweis eingetragenen Halter auferlegt werden, wenn der tatsächliche Lenker nicht bekannt ist. Mangels einer ausreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage darf diese Regelung jedoch nicht auf Unternehmen als Fahrzeughalter angewendet werden, da das Strafgesetzbuch eine strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen ausschliesst, wenn es sich um eine Übertretung handelt.
6B_252/2017 vom 20.6.2018
Vor elf Jahren verurteilte das Zürcher Obergericht einen Mann wegen mehrfachen versuchten Mordes und weiterer Straftaten zu 12 Jahren Freiheitsstrafe. Das Bundesgericht hat einen Entscheid des Obergerichts aufgehoben, mit dem dieses im Juni 2018 ein Revisionsverfahren zur Prüfung der nachträglichen Verwahrung eröffnet hatte. Die gesetzlichen Anforderungen für eine Revision des 2007 gegen den Mann gefällten Strafurteils sind nicht erfüllt, da sämtliche Voraussetzungen für eine Verwahrung bereits Gegenstand des damaligen Verfahrens bildeten und auf eine Verwahrung verzichtet wurde. Ein neues Gutachten, welches nur eine andere Meinung vertritt und auf eine abweichende Diagnose und Prognose schliesst, bildet keinen Revisionsgrund.
6B_714/2018 vom 14.8.2018
Der Direktor einer Vermögensverwaltungsgesellschaft hatte in den Jahren 2007 und 2008 von einer Depotbank Retrozessionen und Vergütungen für die Kundenzuführung von rund 400 000 Franken kassiert, ohne seine Klienten zu informieren. Der Mann ist für dieses Verhalten zu Recht wegen ungetreuer Geschäftsbesorgung zu einer Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt worden. Laut Bundesgericht hat ein Vermögensverwalter als beauftragte Person dem Klienten als Auftraggeber von Gesetzes wegen Rechenschaft über seine Geschäftsführung abzulegen und alles herauszugeben, was ihm in diesem Rahmen zugekommen ist.
6B_689/2016 vom 14.8.2018
Sozialversicherungsrecht
Dienstaltersgeschenke und Treueprämien gehören zum versicherten Verdienst und sind bei der Berechnung der Taggelder bei Arbeitslosigkeit zu berücksichtigen. Für eine Praxisänderung besteht keine Veranlassung. Das Bundesgericht hat eine Weisung des Seco teilweise für gesetzeswidrig bezeichnet. Diese sah vor, dass Treueprämien und Dienstaltersgeschenke nur dann als regelmässige Zulagen und somit als «normalerweise» erzielt anzusehen sind, wenn sie in kürzeren Zeitabschnitten – wie jährlich – ausgerichtet werden.
8C_902/2017 vom 12.6.2018
Wer Angehörige mit mittlerer Hilflosigkeit betreut, hat Anspruch auf die Anrechnung von Betreuungsgutschriften bei der AHV. Lebt die hilflose Person in einem Pflegeheim, wo Pflege und Betreuung durch das Heimpersonal erbracht wird, besteht kein Anspruch auf Betreuungsgutschriften, da eine Beeinträchtigung der Erwerbsmöglichkeiten von Angehörigen entfällt. Eine andere Sichtweise wäre nur einzunehmen, wenn der erforderliche Pflegeaufwand selbst vom Personal nur unter intensiver Mitbetreuung durch Angehörige geleistet werden kann.
9C_377/2017 vom 11.6.2018