Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats-/Verwaltungsrecht
Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Verfahren vor staatlichen Gerichten bedeutet eine Absage an jegliche Form der Kabinettsjustiz. Der Ausschluss der Öffentlichkeit von Verfahren ist sehr restriktiv zu handhaben. Dies gilt auch im Verfahren vor der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen. Gemäss Art. 97 des Bundesgesetzes über Radio und Fernsehen sind die Beratungen «öffentlich, es sei denn, schützenswerte Privatinteressen stehen entgegen». Fall eines wegen Urkundenfälschung erstinstanzlich verurteilten Genfer Anwalts. Dieser hatte sich darüber beklagt, dass es die UBI abgelehnt hatte, sein Verfahren im Streit um eine Berichterstattung im Westschweizer Fernsehen unter Ausschluss des Publikums durchzuführen. Das Bundesgericht sieht keine Gefahr der Persönlichkeitsverletzung, da das Dossier der UBI keine persönlichen Informationen des Anwalts enthält und sein Name in der Beratung nicht genannt wird.
2C_327/2021 vom 5.10.2021
Die Vogelwarte Sempach darf im Wallis zwei landwirtschaftliche Grundstücke im Umfang von rund 7100 Quadratmetern kaufen. Ziel ist der Schutz von Zwergohreulen, die sich in diesem Biotop aufhalten. Der Walliser Staatsrat wollte den Kauf aufgrund des Bundesgesetzes über das bäuerliche Bodenrecht (BGBB) verbieten, weil die Vogelwarte das Areal nicht selber bewirtschafte. Das Walliser Kantonsgericht hiess eine Beschwerde der Vogelwarte gut und erlaubte dieser, die beiden Parzellen zu kaufen. Das Gericht ging davon aus, dass die seltene und in ihrer Art bedrohte Zwergohreule, die in diesem Biotop lebt, ein «Objekt des Naturschutzes» im Sinne des BGBB darstellt und deshalb eine Ausnahme von der Selbstbewirtschaftung zu gewähren ist. Eine Beschwerde des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements hat das Bundesgericht abgewiesen.
2C_1069/2020 vom 27.10.2021
Anfang 2019 trat die neue Regelung zur Rückstufung im Ausländer- und Integrationsgesetz in Kraft (Art. 63 Abs. 2 AIG). Sie sieht vor, bei Missachtung der Integrationskriterien eine Niederlassungsbewilligung in eine Aufenthaltsbewilligung umzuwandeln. Wie jedes staatliche Handeln hat diese Rückstufung verhältnismässig zu sein, weshalb vorgängig eine Verwarnung zu prüfen ist. Eine Rückstufung ist auch dann möglich, wenn das Strafgericht auf eine Landesverweisung verzichtet hat. Nur ernsthafte Integrationsdefizite sollen zu einer Rückstufung führen, wobei sie sich primär auf Vorkommnisse nach 2019 abstützen muss. Fall eines Kosovaren, der vor 2013 mit Drogen gehandelt (ein Jahr Gefängnis) und zahlreiche Strassenverkehrsdelikte begangen hatte. Da es sich um Delikte eher untergeordneter Bedeutung handelte und der Mann die letzte Straftat 2018 beging, hiess das Bundesgericht dessen Beschwerde gut und verfügte eine Verwarnung.
2C_667/2020 vom 19.10.2021
Zivilrecht
Im Streit um das Architektenhonorar für den Bau des Freiburger Theaters «Equilibre» hatte der Instruktionsrichter einen Experten bestellt, welcher der Gemeinde Freiburg nicht genehm war. Vor Bundesgericht argumentierte die Gemeinde, die Freiburger Richter hätten einen juristischen Fehler begangen, indem sie es zuliessen, dass einzig der Delegationsrichter und nicht das Zivilgericht in corpore über die Frage des Ausstands des Experten entschieden habe. Die Gemeinde berief sich auf Art. 50 der ZPO, wo es heisst: «Wird der geltend gemachte Ausstandsgrund bestritten, so entscheidet das Gericht.» Laut dem Urteil aus Lausanne bedeutet das Wort «Gericht» lediglich, dass die Kantone eine juristische Autorität zu bestimmen haben, wo ein Entscheid angefochten werden kann. Gemäss Art. 4 ZPO können die Kantone die sachliche und funktionelle Zuständigkeit der Gerichte frei regeln, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt. Auch die Nomination des Experten durch den Delegationsrichter war korrekt (Art. 124 Abs. 1 ZPO).
4A_155/2021 vom 30.9.2021
Gemäss Art. 99 der ZPO hat die klagende Partei auf Antrag der beklagten Partei für deren Parteientschädigung Sicherheiten zu leisten, wenn etwa kein Wohnsitz in der Schweiz besteht oder Gründe für eine erhebliche Gefährdung der Parteientschädigung bestehen. Bei einer notwendigen Streitgenossenschaft ist laut Abs. 2 nur dann Sicherheit zu leisten, wenn bei allen Streitgenossen eine der in Abs. 1 umschriebenen Voraussetzungen gegeben ist. Bildet eine Gruppe von Klägern hingegen eine einfache Streitgenossenschaft und erfüllt jeder der Kläger eine der in Art. 99 Abs. 1 genannten Voraussetzungen, ist der Richter gehalten, jeden der Kläger zu einer Sicherheitsleistung zu verpflichten, welche das ihn betreffende Kostenrisiko abdeckt.
4A_497/2020 vom 19.10.2021
Was kann ein Gericht unternehmen, wenn der auf Scheidung klagende Ehegatte den ihm zugunsten des andern Ehegatten auferlegten Prozesskostenvorschuss nicht bezahlt? Das Zürcher Obergericht erachtete es als recht- und zweckmässig, gestützt auf Art. 147 ZPO für den Fall der Nichtleistung das Nichteintreten auf die Scheidungsklage anzudrohen und in der Folge nicht auf die Klage einzutreten. Dies ist unzulässig. Die Verpflichtung zur Leistung eines Prozesskostenvorschusses an den andern Ehegatten ist Ausfluss der zivilrechtlichen Unterhalts- und Beistandspflicht. Es ist nicht Aufgabe des Gerichts, sondern Sache der Privaten (hier des vorschussberechtigten Ehegatten), sich um die Durchsetzung der privatrechtlichen Forderung zu kümmern. Mangels entsprechender gesetzlicher Grundlage darf die Begleichung der Pflicht zur Bezahlung eines Prozesskostenvorschusses nicht zur Prozessvoraussetzung erhoben werden, und zwar auch nicht über den Weg des Säumnisrechts.
5A_568/2020 vom 13.9.2021
Unter bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen darf eine Person, die an einer psychischen Störung leidet, fürsorglich untergebracht werden. Bei ärztlich angeordneter Unterbringung kann die betroffene oder eine ihr nahestehende Person schriftlich das zuständige Gericht anrufen. Gemäss Art. 450e Abs. 3 ZGB muss das Gericht bei psychischen Störungen gestützt auf das Gutachten einer sachverständigen Person entscheiden. Dabei geht die bundesgerichtliche Praxis davon aus, dass ein Fachrichter den Beizug eines unabhängigen Gutachters nicht zu ersetzen vermag. Die Berner Justiz wollte diese Praxis umstossen und zulassen, dass ein Mitglied der entscheidenden Instanz (ein Fachrichter) gleichzeitig als sachverständige Person amten darf. Andererseits sollte eine ärztlich angeordnete fürsorgerische Unterbringung auch ohne Beizug eines unabhängigen Sachverständigen überprüft werden können. Das Bundesgericht lehnt es ab, eine Praxisänderung vorzunehmen.
5A_640/2021 vom 13.10.2021
Strafrecht
Ein Mann hatte gegen die Einstellung eines Strafverfahrens eine Beschwerde erhoben. Sein Anwalt warf die Eingabe am letzten Tag der zehntägigen Frist abends um 22.05 Uhr in einen Briefkasten der Post. Um zu beweisen, dass die Einreichung der Beschwerde fristgerecht erfolgte, schickte der Anwalt dem Gericht einen USB-Stick mit einer Videoaufnahme. Das Kantonsgericht trat auf die Beschwerde, welche den Poststempel des Folgetages trug, wegen Fristversäumnis nicht ein, da die Videoaufnahme keinen wirksamen Beweis für die fristgerechte Einreichung darstelle. Das Bundesgericht ist anderer Auffassung und hat die Videoaufnahme als Beweis für eine fristgerechte Eingabe zugelassen. Zwar räumt das Gericht ein, dass eine Videoaufnahme relativ leicht zu manipulieren ist. Für einen Anwalt wäre ein solches Vorgehen allerdings ein schwerer Verstoss gegen die Berufspflichten. Dem Anwalt können die Kosten für den Mehraufwand – Sichtung des Videos – auferlegt werden.
6B_1247/2020 vom 7.10.2021
Der Verwaltungsratspräsident einer Vermögensverwaltungsgesellschaft ist zu Recht wegen verbotener Handlung für einen fremden Staat zu einer Busse von 10 000 Franken verurteilt worden. Im Zuge des Steuerstreits zwischen den USA und der Schweiz ergab eine Prüfung der Kundenstruktur, dass die Vermögensverwaltungsgesellschaft und ihre Tochterfirmen 109 heikle Kundendossiers hatten. Im Hinblick auf ein Non-Prosecution-Agreement reiste der Verwaltungsratspräsident in die USA und überreichte den US-Behörden einen USB-Stick mit den heiklen Daten. Laut dem Urteil aus Lausanne war er nicht berechtigt, die Drittpersonen betreffenden Unterlagen direkt an die US-Behörden zu übermitteln. Vielmehr hätten Letztere den Rechtshilfeweg beschreiten müssen. Indem der Verwaltungsratspräsident die Unterlagen in Umgehung des Amts- und Rechtshilfewegs direkt übermittelte, nahm er eine Handlung für einen fremden Staat vor, die den schweizerischen Behörden vorbehalten ist.
6B_216/2020 vom 1.11.2021
Sozialversicherungsrecht
Eine selbständig praktizierende Ärztin hatte sich im April 2020 bei der zuständigen Ausgleichskasse zum Bezug von Covid-Erwerbsausfallentschädigungen angemeldet. Sie hatte einen Umsatzrückgang zu verzeichnen, weil die ärztliche Tätigkeit auf dringliche Eingriffe beschränkt war. Mangels Erfüllung der Voraussetzungen verwehrte die Kasse die Ausgleichszahlungen. Die Ärztin hatte im Jahr 2019 ein Erwerbseinkommen von über 90 000 Franken erzielt und damit den Schwellenwert für eine Auszahlung überschritten. Das Bundesgericht schützte dieses Vorgehen. Die von Mitte März bis Mitte September 2020 in Kraft gestandenen Bestimmungen zur Entschädigung von coronabedingten Erwerbsausfallentschädigungen für Selbständigerwerbende seien abschliessend. Die Schwelle von 90 000 Franken verstosse weder gegen das Gebot der Rechtsgleichheit, noch sei sie willkürlich.
9C_132/2021 vom 15.9.2021
Seit Inkrafttreten der Neuordnung der Pflegefinanzierung Anfang 2011 leistet die obligatorische Krankenpflegeversicherung einen Beitrag an die Pflegeversicherung. Zudem haben sich die Versicherten (im Umfang von maximal 20 Prozent des höchsten vom Bundesrat festgesetzten Pflegebeitrags) und die öffentliche Hand (Restfinanzierung) an den Pflegekosten zu beteiligen. Im Streit zwischen einem Verein als Betreiber eine Pflegeheims und der Stadt Luzern entschied das Bundesgericht, dass der Leistungserbringer keinen Anspruch auf Entschädigung seiner Vollkosten unbesehen der Wirtschaftlichkeit hat. Mit andern Worten: Art. 25a Abs. 5 KVG verschafft keinen Anspruch auf Deckung der Vollkosten. Er verpflichtet das Gemeinwesen zur Übernahme der Vollkosten nur insoweit, als diesen eine wirtschaftliche Leistungserbringung zugrunde liegt.
9C_625/2020 vom 10.9.2021