Staats-/ Verwaltungsrecht
Eine Kontosperre ist mit Beschlagnahmebefehl schriftlich anzuordnen und dem betroffenen Kontoinhaber (gegen Empfangsbescheinigung) zuzustellen. Erfolgt die Kontosperre zunächst als geheime Untersuchungsmassnahme, etwa verbunden mit einer Stillschweigeverpflichtung an die kontoführende Bank, ist sie den betroffenen Kontoinhabern nachträglich schriftlich zu eröffnen. Nur mündlich eröffnete Zwangsmassnahmen wären weder gesetzmässig noch sachgerecht und mit grossen Beweisschwierigkeiten und Rechtsunsicherheiten verbunden. Die zehntägige Frist zur Beschwerdeerhebung beginnt nicht zu laufen, wenn ein Anwalt anlässlich eines informellen Telefongesprächs mit der Staatsanwaltschaft davon erfährt, dass eine Kontosperre verfügt worden ist.
1B_537/2019 vom 25.11.2020
Der Verein Digitale Gesellschaft und mehrere Privatpersonen gelangten 2017 an den Nachrichtendienst des Bundes. Sie forderten, dass die Funk- und Kabelaufklärung durch den Nachrichtendienst und weitere Stellen zu unterlassen sei, weil sie gegen die Bundesverfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstösst (Recht auf informationelle Selbstbestimmung). Der Bundesnachrichtendienst und das Bundesverwaltungsgericht wiesen das Ansinnen ab und verzichteten auf eine materielle Beurteilung. Das Bundesgericht hat eine dagegen erhobene Beschwerde gutgeheissen und den Streit ans Bundesverwaltungsgericht zurückgewiesen. Dieses muss nun materiell prüfen, ob die Funk- und Kabelaufklärung Grundrechte verletzt, und wenn ja, welche Rechtsfolgen daran zu knüpfen sind. Der Anspruch auf materielle Prüfung ihrer Gesuche ergibt sich aus Art. 13 EMRK.
1C_377/2019 vom 1.12.2020
Ein Patient liess sich im Universitätsspital Zürich während zehn Tagen stationär auf der Privatabteilung behandeln. Seine Zusatzversicherung weigerte sich, die nicht von der Grundversicherung übernommenen Kosten in der Höhe von 16 000 Franken zu übernehmen. Ob sie dafür eine Kostengutsprache erteilt hatte, ist umstritten. Schliesslich betrieb das Unispital den Patienten für diesen Betrag. Die Zürcher Justiz lehnte es ab, eine öffentliche und mündliche Gerichtsverhandlung durchzuführen. Dies verletzt laut Bundesgericht Art. 6 EMRK. Zwar räumt es ein, dass es sich um eine öffentlichrechtliche Forderung handelt. Indessen sei diese «Kausalabgabe» mit einer privatrechtlichen Forderung für eine Behandlung in einem privatrechtlich organisierten Spital vergleichbar. Da die zu beurteilende Angelegenheit nicht rechtsgenüglich aufgrund der Akten sowie der schriftlichen Parteivorbringen gelöst werden kann und sich nicht nur Rechtsfragen, sondern auch Fragen der Beweiswürdigung stellen, ist eine öffentliche Verhandlung durchzuführen.
2C_410/2020 vom 10.11.2020
Zivilrecht
Einschneidende Praxisänderung bei der Berechnung der Nettorendite im Mietrecht: Das Bundesgericht hat zwei Parameter zur Bestimmung des zulässigen Anfangsmietzinses von Wohn- und Geschäftsräumen anhand der Nettorendite geändert. Einerseits ist das investierte Eigenkapital neu zu 100 Prozent – und nicht wie bisher nur zu 40 Prozent – an die Teuerung anzupassen. Andererseits darf der Ertrag den Referenzzinssatz um zwei Prozent – und nicht wie bisher nur um ein halbes Prozent – übersteigen, wenn der Referenzzinssatz zwei Prozent oder weniger beträgt. Als massgebend für die Praxisänderung erachtet das Bundesgericht die seit der bisherigen Rechtsprechung aus dem Jahr 1994 und 1986 eingetretenen Veränderungen, insbesondere die nachhaltig gesunkenen Zinssätze für Hypotheken und des massgebenden Referenzzinssatzes. Daraus resultierten sehr niedrige Mietzinserträge, worunter namentlich Pensionskassen zu leiden hätten (siehe auch Seite 73).
4A_554/2019 vom 26.10.2020
Umfangreiches Grundsatzurteil zum gebührenden Unterhalt des Kindes unter Berücksichtigung der Gesetzesrevision vom 1. Januar 2017. Der Umfang des gebührenden Unterhalts richtet sich nach mehreren Kriterien. Dabei kommt es nicht allein darauf an, was ein Kind zur Abdeckung seiner physischen Bedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Wohnung, medizinische Behandlung etc.) sowie zur Sicherstellung einer gebotenen persönlichen Betreuung unmittelbar braucht. Vielmehr sind auch die elterliche Leistungsfähigkeit und Lebensstellung entscheidende Faktoren bei der Bestimmung des gebührenden Unterhalts. Es handelt sich um eine von den konkreten Umständen abhängige dynamische Grösse. Ein Kind soll auch von einer überdurchschnittlichen Leistungsfähigkeit profitieren und an einer gehobenen Lebensstellung der Eltern teilhaben können. Das Gericht äussert sich ausführlich zur Methodik der Unterhaltsberechnung.
5A_311/2019 vom 11.11.2020
Grundsatzentscheid zur Tragweite des datenschutzrechtlichen Auskunftsanspruchs: Gemäss Art. 8 Abs. 2 lit. d Datenschutzgesetz (DSG) erstreckt sich das Auskunftsrecht auf alle über eine Person in einer Datensammlung vorhandenen Daten. Unerheblich ist die Art der Speicherung oder die Bezeichnung der Datensammlung. Das Auskunftsrecht kann nicht dadurch unterlaufen werden, dass neben einer «offiziellen» Datensammlung auch eine «inoffizielle» geführt wird. In diesem Rahmen können mithin auch ausserhalb der eigentlichen Datensammlung abgelegte Datenbestände vom Auskunftsrecht erfasst sein. Im Streit zwischen einer Bank und einem Kunden ging es insbesondere um die Frage, ob ein Gespräch zwischen einem Anwalt und einem Bankberater, bei welchem möglicherweise personenbezogene Informationen aufgezeichnet wurden, von der Bank an den Kunden herausgegeben werden müsse.
4A_125/2020 vom 10.12.2020
Umfassendes Urteil zur Frage der Befangenheit von nebenamtlichen Richtern, die gleichzeitig als Anwalt tätig sind. Bei der typischen Anwaltstätigkeit – Wahrung von Klienteninteressen im Rahmen der Rechtsberatung, Abfassen von juristischen Eingaben und Vertretung vor einer Behörde oder einem Gericht – rechtfertigt sich bezüglich der richterlichen Unabhängigkeit eine strikte Haltung. Auch rein administrative Tätigkeiten eines als nebenamtlicher Richter tätigen Anwalts oder seiner Kanzlei für eine Verfahrenspartei sind nicht per se unbedenklich. Umgekehrt begründet nicht jede irgendwie geartete Beziehung wirtschaftlicher, beruflicher oder persönlicher Natur für sich allein den Anschein der Befangenheit. Fall eines nebenamtlichen Richters am Bundespatentgericht, der in einer Kanzlei arbeitet, die als administrative Vertreterin von Schweizer Teilen von Europäischen Patenten im Patentregister eingetragen ist.
4A_243/2020 vom 5.11.2020
Strafrecht
Weil die Haftbedingungen in einem Polizeigefängnis nicht den Vorschriften entsprachen, verpflichtete ein Friedensrichter den Kanton Waadt dazu, einer Person, die 27 Tage in Untersuchungshaft sass, eine Entschädigung von 1350 Franken zu bezahlen. Der Richter entschied zudem, dass der Kanton Waadt nicht berechtigt ist, diesen Betrag mit aufgelaufenen Gerichtskosten zu verrechnen. Das Bundesgericht bestätigte diesen Entscheid.
Eine Genugtuungszahlung wegen unzulässigen Haftbedingungen erfüllt die speziellen Voraussetzungen von Art. 125 Abs. 2 des Obligationenrechts: Keine Tilgung durch Verrechnung gegen den Willen des Gläubigers bei Verpflichtungen, deren besondere Natur die tatsächliche Erfüllung an den Gläubiger verlangt.
6B_117/2020 vom 13.11.2020
Ein privates Video, das ein gefährliches Überholmanöver dokumentiert, darf im Strafverfahren in der Regel nicht verwendet werden. Bei solchen Videoaufnahmen ist zu prüfen, ob die Aufnahme eine Persönlichkeitsverletzung im Sinne von Art. 12 DSG darstellt. Im konkreten Fall war die Aufnahme persönlichkeitsverletzend, weil das Autokennzeichen ersichtlich war. Zudem war die Aufnahme ohne Einverständnis des Gefilmten erfolgt. Sie hätte im Strafverfahren nur verwendet werden dürfen, wenn die Voraussetzungen von Art. 141 Abs. 2 StPO erfüllt gewesen wären – sie also zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich gewesen wäre. Das Überholmanöver, bei dem ein Autofahrer einem Mopedlenker den Weg abschnitt, erreichte nicht den Gefährlichkeitsgrad, um die Aufnahmen als Beweis im Strafverfahren zuzulassen.
6B_1282/2019 vom 13.11.2020
Ein Facebook-Benutzer hatte einen fremden Beitrag geteilt, in dem ein Tierschützer als «mehrfach verurteilter Antisemit» und der von ihm präsidierte Verein als «antisemitische Organisation» und «neonazistischer Tierschutzverein» bezeichnet wurde. Die Berner Justiz verurteilte den Facebook-Benutzer wegen übler Nachrede. Das Bundesgericht hat in diesem Zusammenhang entschieden, dass sich der Teiler des Facebook-Beitrages nicht auf das Medienprivileg von Art. 28 StGB berufen kann, wonach sich grundsätzlich nur der Autor durch die Veröffentlichung eines Beitrags strafbar macht. Das Medienprivileg gilt nur für jene Personen, die notwendigerweise innerhalb der für das Medium typischen Herstellungs- und Verbreitungskette tätig sind.
6B_440/2019 vom 18.11.2020
Sozialversicherungsrecht
Für die Auslegung von Art. 72bis der IV-Verordnung (Polydisziplinäre medizinische Gutachten) und die Beantwortung der Frage, inwiefern das Zufallsprinzip zur Anwendung kommt, ist massgebend, in welchem Ausmass strukturelle Korrektive aus rechtsstaatlicher Sicht erforderlich sind, um Unabhängigkeit und Unbefangenheit des Gutachterwesens zu garantieren. Die Auftragsvergabe nach dem Zufallsprinzip neutralisiert generelle, aus den Rahmenbedingungen des Gutachterwesens resultierende Abhängigkeits- und Befangenheitsbefürchtungen. Der Umstand, dass sich ein Sachverständiger schon einmal mit einer Person befasst hat, vermag objektiv keinen Anschein der Befangenheit zu begründen. Gegen ein Verlaufsgutachten innert drei Jahren nach dem Erstgutachten durch die gleiche Abklärungsstelle ist nichts einzuwenden. Der Umstand, dass der Beschwerdeführer mit dem Abklärungsergebnis im Erstgutachten nicht einverstanden war, ändert nichts. Das Zufallsprinzip bezweckt nicht die Verbesserung der objektiven materiellen Erfolgsaussichten im Einzelfall.
9C_174/2020 vom 2.11.2020