Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats-/Verwaltungsrecht
Im Rahmen eines Verfahrens wegen Geldwäscherei beschlagnahmte die Zürcher Staatsanwaltschaft Kryptobestände, die ein Beschuldigter auf seinem Konto bei einem Unternehmen hat. Letzteres wurde von der Staatsanwaltschaft angewiesen, die fraglichen Bestände auf ihr Konto bei einer Firma für Handel mit virtuellen Zahlungsmitteln zu überweisen. Diese erhielt den Auftrag, die Kryptobestände in Schweizer Franken zu konvertieren und der Staatsanwaltschaft zu überweisen. Eine Beschwerde des Beschuldigten gegen dieses Vorgehen scheiterte, der Fall landete vor Bundesgericht. Dieses hat nun entschieden, dass bei einer vorzeitigen Verwertung ein möglichst günstiges Verwertungsergebnis zu erzielen ist. Sei das nötige Wissen in der Behörde nicht vorhanden, müsse eine Fachperson zugezogen werden. Eine sofortige und gesamthafte Verwertung könne sich negativ auf den realisierbaren Erlös auswirken.
1B_59/2021 vom 18.10.2021
Wird ein Ausstandsgrund nach Art. 56 lit. f StPO (Freundschaft/Feindschaft) gegenüber Mitgliedern der Staatsanwaltschaft geltend gemacht, sieht Art. 59 StPO vor, dass die Beschwerdeinstanz und nicht das Sachgericht entscheidet. Davon kann laut Bundesgericht nur abgewichen werden, wenn ein triftiger Grund für eine Annahme bestehe, der Wortlaut ziele am «wahren Sinn» der Regelung vorbei. Besonders wenig Spielraum für eine Abweichung bestehe angesichts von Art. 30 BV bei Regelungen betreffend die gerichtliche Zuständigkeitsordnung. Es ist nicht zulässig, dass das Bezirksgericht anstelle der Beschwerdeinstanz über ein Ausstandsbegehren gegen den Staatsanwalt entscheidet, wenn die Sache beim erstinstanzlichen Gericht anhängig ist. Die abweichende Rechtsprechung des Zürcher Obergerichts erweist sich als unzulässig.
1B_333/2021 vom 5.11.2021
Zivilrecht
Die Monsanto International Sàrl hatte 2004 ihren Sitz nach Morges VD verlegt. Das Unternehmen erhielt vom Kanton Waadt zehn Jahre lang Steuererleichterungen, weil es Arbeitsplätze geschaffen und sich verpflichtet hatte, seinen Sitz zwanzig Jahre im Kanton zu belassen. Als das US-Unternehmen vom deutschen Bayer-Konzern übernommen und der Sitz nach Basel verlegt wurde, verlangte die Waadtländer Steuerverwaltung 34 Millionen Franken Steuererleichterungen zurück. Das Kantonsgericht hiess eine Beschwerde von Monsanto teilweise gut und sprach dem Staat nur die Steuererleichterungen für die Jahre 2010 bis 2014 zu. Das Bundesgericht bezeichnet diesen Entscheid als willkürlich und das Steuerbefreiungsabkommen als ungültig. Monsanto muss alle Steuererleichterungen zurückerstatten.
2C_141/2020 und 2C_245/2021 vom 3.12.2021
Vor fünf Jahren genehmigte die Eidgenössische Schiedskommission für die Verwertung von Urheberrechten einen neuen gemeinsamen Tarif von fünf Verwertungsgesellschaften. Der Tarif bezieht sich auf Vergütungen für die schulische Nutzung von Werken. Eine Person verlangte in der Folge Einblick in die Unterlagen, welche die Verwertungsgesellschaften eingereicht hatten. Die Schiedskommission verweigerte den Zugang mit der Begründung, die betroffenen Dokumente unterstünden nicht dem Öffentlichkeitsgesetz. Der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte empfahl nach gescheiterter Schlichtungsverhandlung, die Einsicht sei zu gewähren. Trotzdem verweigerte die Schiedskommission die Einsicht. Das Bundesverwaltungsgericht hiess eine dagegen eingereichte Beschwerde gut. Dagegen wiederum rief das EJPD das Bundesgericht an, allerdings ohne Erfolg. Als erstinstanzliches Verwaltungsverfahren unterliegt das betroffene Tarifgenehmigungsverfahren dem Öffentlichkeitsgesetz.
1C_333/2020 vom 22.10.2021
Gemäss Art. 156 ZPO trifft das Gericht die erforderlichen Massnahmen, wenn die Beweisabnahme die schutzwürdigen Interessen einer Partei oder Dritter, wie insbesondere Geschäftsgeheimnisse, gefährdet. Das Gericht ist in der Wahl der Art der Massnahmen grundsätzlich nicht eingeschränkt. Dementsprechend ist auch die Anordnung einer strafbewehrten Geheimhaltungspflicht (Androhung einer Ungehorsamsstrafe nach Art. 292 StGB) möglich. Allerdings muss sie geeignet, erforderlich und angemessen sein. Sie muss das mildeste Mittel darstellen, um das betreffende Interesse zu schützen. Das Gericht hat massgeschneiderte Vorkehren zu treffen. Eine strafbewehrte Geheimhaltungspflicht ist stets nur für die Dauer des Prozesses möglich. Im konkreten Fall ging es um einen Schadenersatzprozess gegen eine Schweizer Bank.
4A_58/2021 vom 8.12.2021
Urteil des Bundesgerichts zur Frage, ob die Verwaltungsräte sechs Monate nach dem letzten Geschäftsjahr weiter im Amt bleiben, wenn entgegen Art. 699 Abs. 2 OR in dieser Zeit keine Generalversammlung durchgeführt oder die Wahl des Verwaltungsrates nicht traktandiert wurde. Dazu gibt es drei Lehrmeinungen. Ein Teil der Lehre sieht keinen Organisationsmangel nach Art. 731b OR und geht davon aus, dass das Verwaltungsratsmandat bis zur nächsten Generalversammlung stillschweigend verlängert wird. Eine andere Lehrmeinung verneint diese Lösung und die dritte Meinung geht von einer Zwischenlösung aus. Für das Bundesgericht ist klar: Das Amt des Verwaltungsrats endet in solchen Fällen mit Ablauf des sechsten Monats nach Schluss des betreffenden Geschäftsjahres.
4A_496/2021 vom 3.12.2021
Strafrecht
Ein Arzt hatte einer Patientin wegen akuter Bronchitis ein Antibiotikum verschrieben, welches sie in der Apotheke bezog. Gleichentags verstarb die Frau an einem allergischen Schock, der durch das Medikament ausgelöst worden war. Die Aargauer Justiz sprach den Arzt vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei. Dagegen erhoben die Angehörigen Beschwerde. Der Arzt hätte um die Überempfindlichkeit auf das Antibiotikum wissen müssen. Als neuer Hausarzt hätte er dafür sorgen müssen, in den Besitz der medizinischen Vorakten zu kommen. Das Bundesgericht hat den Freispruch bestätigt. Der Arzt hatte die Patientin nach Antibiotika-Allergien befragt, was die Frau verneinte. Andererseits war der Hausarzt nicht verpflichtet, selber die früheren Krankenakten der Patientin zu beschaffen, nachdem diese trotz mehrfacher Aufforderung untätig geblieben war.
6B_727/2020 vom 28.10.2021
Die St. Galler Justiz muss einen Gruppenleiter, der in einer Arbeits- und Wohngruppe für Menschen mit Wahrnehmungsstörungen tätig war, wegen mehrfachen sexuellen Handlungen verurteilen. Er hatte 2014 bis 2016 eine Frau, die an einer körperlichen und geistigen Mehrfachbehinderung mit mittelgradiger Intelligenzminderung leidet, zu sexuellen Handlungen aufgefordert und solche vollzogen. Das Kantonsgericht hatte den Gruppenleiter freigesprochen. Ausnützen liege nicht vor, die Frau habe in die Handlungen eingewilligt. Das sieht das Bundesgericht anders. Angesichts des Abhängigkeitsverhältnisses und des Machtgefälles, der massiven kognitiven Unterlegenheit der Frau und ihrem Vertrauen in den Gruppenleiter bedeute die Tatsache, dass sie die von ihm initiierten sexuellen Handlungen duldete und als angenehm empfand, keine freie und eigenverantwortliche Zustimmung.
6B_567/2020 vom 6.12.2021
Das Bundesgericht präzisiert seine Rechtsprechung zur Teilnahme der Verteidigung bei polizeilichen Einvernahmen in Ermittlungsverfahren. In BGE 143 IV 397, E 3.3.1, führte es aus, gemäss Art. 159 Abs. 1 StPO komme der beschuldigten Person das Recht zu, «dass ihre Verteidigung, nicht aber sie selbst, bei Beweiserhebungen durch die Polizei, etwa bei polizeilichen Einvernahmen von Auskunftspersonen, anwesend sein und Fragen stellen kann». Das dadurch zum Ausdruck gebrachte Verständnis, bei sämtlichen polizeilichen Einvernahmen sei die Verteidigung teilnahmeberechtigt, wurde in der Lehre kritisiert. Daran kann nicht mehr festgehalten werden. «Die Rechtsprechung ist dahingehend zu präzisieren, dass der Anspruch der beschuldigten Person auf Anwesenheit ihrer Verteidigung nach Art. 159 Abs. 1 StPO ausschliesslich bei der polizeilichen Einvernahme der beschuldigten Person gilt.»
6B_780/2021, E.1, vom 16.12.2021
Der Nötigung macht sich schuldig, wer jemanden durch Gewalt oder Androhung ernstlicher Nachteile oder durch andere Beschränkung seiner Handlungsfähigkeit nötigt, etwas zu tun, zu unterlassen oder zu dulden. Im konkreten Fall hatte ein Mann am Domizil seines Opfers gegenüber dessen Ehefrau gedroht, dass es «räblet» und sie «Gottes Segen brauchen» würden, wenn das verlangte Gespräch mit dem Opfer und einer weiteren Person nicht gleichentags zustande komme. Solche Äusserungen sind unter den gegebenen Umständen (Besuch zu Hause, lautes Poltern gegen die Tür) objektiv geeignet, eine besonnene Person gefügig zu machen. Sie waren nicht «sozialadäquat», sondern eine offenkundige Gewaltandrohung.
6B_780/2021, E. 3, vom 16.12.2021
Sozialversicherungsrecht
Im Sommer 2019 liess sich eine 61-jährige Frau das Freizügigkeitsguthaben von 132 000 Franken auszahlen. Weil sie zuvor 162 000 Franken Sozialhilfe bezogen hatte, verlangte die Wohngemeinde eine Rückzahlung von 66 500 Franken. Laut Bundesgericht kann ausbezahltes Freizügigkeitsguthaben zur Rückerstattung von Sozialhilfebezügen herangezogen werden. Allerdings werde dem vorsorgerechtlichen Zweck dieser Mittel bundesrechtlich mit einer beschränkten Pfändbarkeit Rechnung getragen: Das Kapital kann nur bis zur Höhe einer entsprechenden jährlichen Rente gepfändet werden.
8C_441/2021 vom 24.11.2021
Taggelder und Renten werden gemäss Art. 15 UVG nach dem versicherten Verdienst bemessen, der sich nach dem innerhalb eines Jahres vor dem Unfall bezogenen Lohn richtet. Dies führt insbesondere bei Werkstudenten zu einem unzulänglichen Versicherungsschutz. Im konkreten Fall erlitt ein junger Zimmermann einen Arbeitsunfall, der ihn zeitlebens in der Erwerbstätigkeit einschränkt. Trotz Invaliditätsgrad von 51 Prozent erhält er nur eine monatliche Invalidenrente von Fr. 196.20. Diese Ungerechtigkeit wird von der Lehre seit Jahren angeprangert. Das Bundesgericht hat den Verordnungsgeber bereits 1992 auf diese Problematik hingewiesen. Das Bundesgericht lehnt es indes erneut ab, eine Praxisänderung vorzunehmen, da «die Annahme einer gerichtlich korrigierbaren unechten Lücke des geltenden Rechts zu verwerfen ist».
8C_773/2020 vom 9.11.2021