Staats-/Verwaltungsrecht
Bei einer Strafuntersuchung gegen unbekannte Täter, die im «Darknet» mit Betäubungsmittel handelten, wollte die Staatsanwaltschaft die Daten und Passwörter eines Tatverdächtigen mit einem softwarebasierten Keylogger ausspionieren, der die Tastatureingaben auf dem Laptop der Zielperson aufzeichnet. Das Zwangsmassnahmengericht verweigerte die Bewilligung. Anders das Bundesgericht: Es handle sich um ein «technisches Überwachungsgerät» laut Art. 280 StPO, obwohl es sich nicht um ein mechanisches Gerät handle.
1B_132/2020 und 1B_184/2020 vom 18.6.2020
Die im neuen Tessiner Ladenöffnungsgesetz verankerte Bestimmung, wonach das Inkrafttreten des Gesetzes vom Abschluss eines allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsvertrags im Verkaufssektor abhängig gemacht wird, ist verfassungswidrig. Es liegt ein Verstoss gegen den Grundsatz des Vorrangs des Bundesrechts vor. Eine integrale Aufhebung des Ladenöffnungsgesetzes allein aus diesem Grund ist nach Meinung des Bundesgerichts jedoch nicht angemessen.
2C_98/2020 und 2C_102/2020 vom 22.12.2021
Ein Mitarbeiter des Bundes zahlte im Hinblick auf eine Frühpensionierung 62 000 Franken in die Pensionskasse ein. Der Arbeitgeber leistete die gleiche Summe. Einen Monat später ging er mit einer Übergangsrente von 2350 Franken pro Monat in Pension, zugleich erhielt er von der Pensionskasse sein Vorsorgeguthaben von 1,4 Millionen Franken ausbezahlt. Die Solothurner Steuerbehörde verweigerte den Abzug von 62 000 Franken vom steuerpflichtigen Einkommen, weil die dreijährige Sperrfrist von Art. 79b Abs. 3 BVG nicht eingehalten sei. Anders sieht es das Bundesgericht. Der paritätisch mit dem Arbeitgeber getätigte Einkauf zur Finanzierung der Überbrückungsrente falle nicht unter diese Bestimmung. Die Gegenleistung von monatlich 2350 Franken bis zum ordentlichen Pensionsalter werde zum Normaltarif als Rente besteuert. Wäre die Kapitaleinlage nicht abzugsfähig, würde diese Summe doppelt besteuert.
2C_199/2020 vom 28.12.2021
Untersteht eine Person, die für eine Personalverleihfirma für die Aufgabe als Seniorenbetreuerin-24h-Begleitung in einem Privathaushalt eingestellt wird und im Turnus von 21 Tagen arbeitet, dem Arbeitsgesetz? Gemäss Ausnahmebestimmung von Art. 2 Abs. 1 lit. g ist das Arbeitsgesetz auf private Haushalte nicht anwendbar. Das Bundesgericht hat in Auslegung der Gesetzesnormen entschieden, dass diese Bestimmung auf Zweiparteienverhältnisse zugeschnitten ist, also bei direkter Anstellung im Privathaushalt. Dann rechtfertige die besondere Vertrauensbeziehung und der Schutz der Privatsphäre des Haushalts eine Ausnahme vom Geltungsbereich des Arbeitsgesetzes. Anders bei Dreiparteienverhältnissen. Namentlich beim Personalverleih sei es möglich, die Einhaltung der Arbeits- und Ruhezeiten zu kontrollieren.
2C_470/2020 vom 22.12.2021
Zivilrecht
Ein Gastronom hatte eine «Geschäftsversicherung KMU» abgeschlossen, die laut Police auch den Ertragsausfall infolge Epidemien umfasste. In den Zusatzbedingungen zur Geschäftsversicherung wurden unter der Rubrik «nicht versichert» Schäden infolge Krankheitserregern genannt, für welche national oder international die Pandemiestufen 5 oder 6 der Weltgesundheitsorganisation gelten. Das Aargauer Handelsgericht befand, der Deckungsausschluss greife nicht, und hiess eine Klage des Gastronomen über 40 000 Franken gut, der wegen des Lockdowns Ertragsausfälle erlitt. Anders sah es das Bundesgericht. Dem Gastro-Unternehmen hätte klar sein müssen, dass von der grundsätzlichen Deckung der Schäden bei Epidemien die gravierendsten Risiken ausgenommen waren.
4A_330/2021 vom 5.1.2022
Das vor Rechtshängigkeit des Scheidungsverfahrens angerufene Eheschutzgericht trifft die zur Regelung des Getrenntlebens der Ehegatten nötigen Massnahmen. Es führt das hängige Massnahmenverfahren auch dann ordentlich zu Ende, wenn zwischenzeitlich ein gemeinsames Scheidungsbegehren oder eine Scheidungsklage eingereicht worden ist. Einen Entscheid fällt es erst, wenn das Verfahren spruchreif ist, was den Einbezug sämtlicher nach Art. 229 ZPO zu berücksichtigenden Tatsachen und Beweismittel voraussetzt. Dies kann in einem Einzelfall dazu führen, dass das Eheschutzgericht im Verfahren auf Erlass einer Massnahme Tatsachen zu berücksichtigen hat, die erst nach Einleitung des Scheidungsverfahrens entstanden sind und sich auch nur während der Dauer dieses Verfahrens auswirken. Im beurteilten Fall war das Zürcher Obergericht in Willkür verfallen, weil es diese Grundsätze missachtet hatte.
5A_294/2021 vom 7.12.2021
In der Literatur ist umstritten, mit welchem Rechtsmittel eine Abschreibung zufolge Gegenstandslosigkeit nach Art. 242 ZPO angefochten werden kann, wenn die Gegenstandslosigkeit die ganze Streitsache betrifft. Ein Teil der Autoren geht davon aus, dass ausschliesslich die Beschwerde möglich ist. Dies mit der Begründung, beim Abschreibungsentscheid handle es sich nicht um einen Endentscheid im Sinne von Art. 236 Abs. 1 ZPO, sondern um einen Prozessentscheid sui generis, der gemäss Art. 319 lit. b Ziff. 2 ZPO mit Beschwerde anfechtbar sei, wenn dadurch ein nicht leicht wiedergutzumachender Nachteil drohe. Ein anderer Teil der Literatur hält dafür, dass die Abschreibung einen Endentscheid nach Art. 236 ZPO darstellt, der – je nach Streitwert – mit Berufung oder Beschwerde nach Art. 319 lit. a ZPO angefochten werden könne. Das Bundesgericht bringt folgende Lösung: Die Abschreibung zufolge Gegenstandslosigkeit gemäss 242 ZPO ist ein Endentscheid im Sinne von Art. 308 Abs. 1 lit. a ZPO, welcher bei entsprechendem Streitwert der Berufung unterliegt. Ist der Streitwert nicht erreicht, unterliegt er als Endentscheid der Beschwerde gemäss Art. 319 lit. a ZPO.
4A_169/2021 vom 18.1.2022
Bei einer betrügerischen Begründung des Versicherungsanspruchs nach Art. 40 VGG gilt das Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit, wobei deren Anwendung eine Beweisnot voraussetzt. Entsprechend ist zu prüfen, ob eine solche Not besteht. Gemäss Art. 40 VGG muss die Versicherung zwei Voraussetzungen nachweisen: die wahrheitswidrige Darstellung von Fakten durch den Versicherten und eine Täuschungsabsicht. Bei der Täuschungsabsicht als innerpsychologisches Phänomen liegt eine Beweisnot vor und der Nachweis mit dem Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit genügt. Beim Beweis der objektiven Voraussetzung der Darstellung von wahrheitswidrigen Fakten besteht demgegenüber keine generelle Beweisnot. Der Nachweis ist daher mit dem strikten Beweismass zu erbringen, wobei es Ausnahmen – etwa beim Vortäuschen eines Diebstahls – gibt.
4A_394/2021 vom 11.1.2022
Zur Sicherstellung von Steuerforderungen von Kanton und Gemeinde erliess der Kanton Zürich gegen einen Unternehmer einen Arrestbefehl über 140 Millionen Franken. Darin wurde eine Reihe von Vermögenswerten aufgeführt, die sich im Zuständigkeitsbereich verschiedener Betreibungsämter befinden. Gleichzeitig wurde das Betreibungsamt Maloja (GR) als Lead-Betreibungsamt mit dem rechtshilfeweisen landesweiten Arrestvollzug beauftragt. Das Bundesgericht hiess dieses Vorgehen gut. Weshalb die Bestimmung eines Lead-Betreibungsamtes nur durch eine richterliche Behörde zulässig sein soll, sei vor dem Hintergrund der steuerbehördlichen Kompetenzen aufgrund spezialgesetzlicher Regelung nicht nachvollziehbar.
5A_1000/2020 vom 1.2.2022
Strafrecht
Weist ein erstinstanzliches Urteil wesentliche Mängel auf, die im Berufungsverfahren nicht geheilt werden können, hebt das Berufungsgericht gemäss Art. 409 Abs. 1 StPO das Urteil auf und weist die Sache zur Durchführung einer neuen Hauptverhandlung und Fällung eines neuen Urteils ans erstinstanzliche Gericht zurück. Da Eintretensfragen einfach zu handhaben sein sollen, ist die Rechtsprechung dahingehend zu präzisieren, dass gestützt auf Art. 409 Abs. 1 StPO erlassene Rückweisungsentscheide grundsätzlich keinen nicht wiedergutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirken und entsprechend gegen letztinstanzlich kantonal ergangene Rückweisungsentscheide die Beschwerde an das Bundesgericht grundsätzlich nicht gegeben ist. Eine Anfechtung des Rückweisungsbeschlusses ist nur noch möglich, wenn die beschwerdeführende Partei mit hinreichender Begründung eine Rechtsverweigerung rügt.
6B_1010/2021 vom 10.1.2022
Nach Art. 184 Abs. 3 Satz 1 StPO gibt die Verfahrensleitung den Parteien vor der Erteilung eines Gutachtensauftrags Gelegenheit, sich zur sachverständigen Person und zu den Fragen zu äussern und dazu Anträge zu stellen. Dieser Gehörsanspruch gilt auch bei amtlichen Sachverständigen wie im beurteilten Fall, wo Mitarbeiter des forensisch-wissenschaftlichen Dienstes der Kantonspolizei St. Gallen als Sachverständige tätig waren. Dieser Gehörsanspruch ist formeller Natur, seine Verletzung führt zur Aufhebung eines Entscheids. Allerdings kann eine Verletzung des Gehörsanspruchs geheilt werden, wenn noch im Untersuchungsverfahren volle Akteneinsicht gewährt wird und der Untersuchungsbericht mitsamt Gutachterfragen, Antworten und Namen der Sachverständigen bekannt ist und die Möglichkeit bestand, nachträglich Ausstandsgründe geltend zu machen oder Ergänzungsfragen zu stellen.
6B_1320/2020 vom 12.1.2022
Sozialversicherungsrecht
Nach dem Tod seiner Mutter im Jahre 2013 erhielt ein Knabe Zusatzleistungen zu seiner Waisenrente, welche sein damaliger Wohnkanton St. Gallen ausrichtete. Später wurde der Knabe von der Kesb in einer Familie im Kanton Jura platziert. In der Folge entstand zwischen den beiden Kantonen ein Streit darüber, wer für die Zusatzleistungen aufzukommen hat. Der Kanton Jura verwies auf Art. 21 des BG über Ergänzungsleistungen in der AHV, wonach der Wohnkanton für die Auszahlung zuständig bleibt, wenn ein Bezüger in einem andern Kanton in ein Heim, ein Spital oder eine andere behördliche Einrichtung eintritt oder in Familienpflege untergebracht wird. Anders sieht es das Bundesgericht: Gemäss Art. 25 ZGB Abs. 2 haben bevormundete Kinder ihren Wohnsitz am Sitz der Kindesschutzbehörde, weshalb der Kanton Jura für die Ausrichtung der Zusatzleistungen zuständig ist.
9C_60/2021 vom 22.12.2021