Staats-/ Verwaltungsrecht
Nebst absoluten und relativen Personen der Zeitgeschichte gibt es die Kategorie der «relativ bekannten» Persönlichkeiten. Bei diesen ist «eine die Umstände des Einzelfalls würdigende Abwägung zwischen dem Interesse an der Berichterstattung über sie und ihrem Anspruch auf Privatsphäre vorzunehmen». Im konkreten Fall geht es um die (verweigerte) Einsichtnahme in Akten verschiedener Bundesbehörden für eine Doktorarbeit über die Asylbewegung und -politik in der Schweiz in den 1980er- und 1990er-Jahren und insbesondere um die Ereignisse um den aus dem damaligen Zaire (heutigen Kongo) stammenden Asylbewerber Mathieu Musey. Das Staatssekretariat für Migration muss noch einmal über die Bücher und eine umfassende Interessenabwägung vornehmen.
1C_117/2021 vom 1.3.2022
Auf Ersuchen der Republik Armenien bewilligte das Bundesamt für Justiz (BJ) die Auslieferung eines gesundheitlich angeschlagenen 60-jährigen türkisch-armenischen Staatsangehörigen. Angesichts der Probleme im armenischen Strafvollzug verlangte das Bundesstrafgericht die Garantie, dass die Inhaftierung und der Strafvollzug «in einem der Pilotgefängnisse der Reform der armenischen Regierung» erfolgen. Eine dagegen eingereichte Beschwerde hat das Bundesgericht gutgeheissen. Tatsache ist, dass die verlangte Garantie untauglich ist, weil in Armenien kein solches Pilotgefängnis existiert. «Grundsätzlich ist es schwer verständlich, inwiefern einer Fachbehörde wie dem BJ ein solcher entscheidender Umstand entgehen kann.» Dasselbe hat auch für das Bundesstrafgericht zu gelten, welches sich unzureichend mit den Verhältnissen im Strafvollzug in Armenien auseinandergesetzt zu haben scheint. Das BJ muss nun weitere Abklärungen treffen und neu entscheiden.
1C_116/2022 vom 21.3.2022
Vor zehn Jahren übertrug eine Pensionskasse mit einem «Immobilien Asset Swap» mehrere Liegenschaften im Wert von über 48 Millionen Franken an die Zürich Anlagestiftung und erhielt im Gegenzug 30 000 nennwertlose und unentziehbare Ansprüche an einer Anlagegruppe. Die Steuerverwaltungen mehrerer Kantone stimmten in Steuerrulings dem Aufschub der Besteuerung des Grundstückgewinns zu. Nicht so das Steueramt der Stadt Zürich. Es lehnte den Aufschub ab und setzte die Grundstückgewinnsteuer für die in der Stadt Zürich gelegenen Liegenschaften auf 1,125 Millionen Franken fest. Als das Steuerrekursgericht eine Beschwerde der Pensionskasse guthiess und die Gewinnsteuer aufschob, gelangte die Stadt Zürich ans Bundesgericht. Dieses hat nun entschieden, dass der Steueraufschubtatbestand von Artikel 80 Absatz 4 BVG erfüllt ist. Die Einbringung der Grundstücke in die Zürich Anlagestiftung entspricht den Anlagegrundsätzen der angemessenen Risikoverteilung, der Sicherheit und des genügenden Ertrags. Es liefe dem gesetzgeberischen Zweckgedanken zuwider, derartige Transaktionen mit der Grundstückgewinnsteuer zu belasten.
2C_380/2021 vom 28.2.2022
Das Bundesgericht hat die in der Lehre umstrittene Frage entschieden, ob ein Richter allein deshalb in den Ausstand zu treten hat, weil er bereits am gescheiterten abgekürzten Verfahren gemäss Artikel 358 ff. StPO mitwirkte. Im konkreten Fall machte der Beschwerdeführer geltend, das von ihm im Hinblick auf das abgekürzte Verfahren abgelegte Geständnis sei unverwertbar. Die beiden – bereits im abgekürzten Verfahren – tätigen Richter hätten das Geständnis bereits zur Kenntnis genommen und seien deshalb voreingenommen. Im Weitern argumentierte der Betroffene, die beiden Richter hätten die Akten im abgekürzten Verfahren eingehend studiert und sich daher schon eine Meinung gebildet. Für das Bundesgericht besteht hier trotzdem keine Ausstandspflicht. Die vorliegende Konstellation ist mit jener vergleichbar, in der das Gericht, nachdem es ein Abwesenheitsurteil gefällt hat, über die Sache im ordentlichen Verfahren zu befinden habe.
1B_98/2021 vom 3.3.2022
Zivilrecht
In einem Grundsatzentscheid nahm das Bundesgericht zum Vorgehen bei der Eintragung im Personenstandsregister von im Ausland erfolgten Geburten bei Leihmutterschaft Stellung. Konkret geht es um eine türkisch-schweizerische Familie, die mit einer Georgierin einen Leihmutterschaftsvertrag abschloss. Die Samenspende stammte vom Ehemann, die Eizellenspende von der Ehefrau. Die Leihmutter gebar im Februar 2019 Zwillinge. Die türkisch-schweizerische Familie reiste anschliessend mit den beiden Kindern in die Türkei, wo diese als türkische Staatsangehörige und als Kinder des Ehepaares registriert wurden. Anders der Eintrag in der Schweiz. Hier wurde der Name der Leihmutter sowohl als Familienname als auch als Name der Mutter eingetragen. Beim Namen des Vaters wiederum wurde «durch Anerkennung» vermerkt. In einer Zusatzangabe wurde die Leihmutterschaft näher umschrieben, wobei der Ehemann als Wunschvater und die Ehefrau als Wunschmutter bezeichnet wurden. Die Zürcher Justizdirektion hiess einen dagegen eingereichten Rekurs des Ehepaares gut und ordnete an, dass das Ehepaar als Eltern eingetragen wird und die Kinder deren Familiennamen – je ohne weitere Spezifizierung – bekommen. Das Zürcher Verwaltungsgericht und auch das Bundesgericht erachten hingegen die ursprüngliche Eintragung als korrekt.
5A_545/2020 vom 7.2.2022
Wird während der Ehe ein gemeinsames Kind geboren, wurde die Lebensprägung der Ehe in der bisherigen Rechtsprechung regelmässig bejaht. Vor kurzem hat das Bundesgericht entschieden, dass aufgrund des neuen Kindesunterhaltsrechts allein aus dem Vorhandensein gemeinsamer Kinder der Ehegatten nicht mehr auf Lebensprägung geschlossen werden kann. Fall einer Ehe, die nur wenige Jahre gedauert hat, wobei der gemeinsame Haushalt kurz nach der Geburt der Tochter aufgehoben worden ist. Das Bundesgericht anerkennt, dass die wirtschaftliche Wiedereingliederung der Ehefrau durch die Betreuungspflichten erschwert sein kann. Dieser Umstand vermag in diesem Fall aber keine Lebensprägung der Ehe zu begründen. Die Frau hat sich entschieden, einen beruflichen Wiedereinstieg nicht einmal zu versuchen und sich ganz der Kinderbetreuung zu widmen. Damit ist das nacheheliche Absehen von jeglicher Erwerbstätigkeit zu einem wesentlichen Teil auf ihre freie Lebensentscheidung zurückzuführen.
5A_568/2021 vom 25.3.2022
Strafrecht
Im September 2020 hat das Zürcher Obergericht einen Mann vom Vorwurf des Mordes an seiner Frau freigesprochen, die 2009 vor der ehelichen Wohnung aus kurzer Distanz erschossen worden war. Das Obergericht erachtete ein Geständnis des Beschuldigten für unverwertbar, das im Rahmen einer verdeckten Ermittlung durch unzulässige Druckausübung erlangt worden war. Erst hatte ein verdeckter Ermittler eine Freundschaft zu dem Mann aufgebaut, später trat eine verdeckte Ermittlerin als Wahrsagerin auf. Beide Ermittler machten sich gezielt die Angst des Mannes vor übersinnlichen Mächten zunutze, indem sie seinen Glauben an die Existenz eines bösen Geistes des Opfers beschworen. Sie boten ihm Schutz, wenn er reinen Tisch mache und sein Herz öffne. Daraufhin legte der Betroffene gegenüber dem «Freund» ein Geständnis ab. Ein solches Vorgehen verletzt das Fairnessgebot und hat – entgegen der Ansicht der Zürcher Staatsanwaltschaft – die Unverwertbarkeit des Geständnisses und nicht bloss eine Strafminderung zur Folge.
6B_210/2021 vom 24.3.2022
Die Behörden warfen einem Iraner vor, gegen Einreisevorschriften verstossen zu haben. Sein Asylgesuch blieb erfolglos und trotz angesetzter Ausreisefrist verliess er die Schweiz nicht. Die Zürcher Justiz verurteilte den Iraner wegen Widerhandlung gegen das Ausländergesetz zu einer Busse von 150 Franken, weil er seine Mitwirkungspflicht zur Beschaffung von Ausweispapieren verletzt hatte. Das Bundesgericht hob diese Verurteilung wegen Verletzung des Legalitätsprinzips auf. Zwar bestehe für einen rechtskräftig weggewiesenen Asylsuchenden eine Mitwirkungspflicht bei der Beschaffung von Reisepapieren im Sinne von Artikel 8 Absatz 4 des Asylgesetzes. Indessen stelle das Asylgesetz eine Verletzung dieser Pflicht nicht unter Strafe. Artikel 120 Absatz 1 litera e in Verbindung mit Artikel 90 litera c AuG komme in solchen Fällen nicht zur Anwendung.
6B_1361/2020 vom 28.3.2022
Sozialversicherungsrecht
Nach einem schweren Motorradunfall kürzte die Allianz Unfallversicherung die Taggeldleistungen des Lenkers um 20 Prozent, weil dieser trotz Gegenverkehr überholt und den Unfall grobfahrlässig herbeigeführt hatte. Die Allianz sprach eine ungekürzte Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 41 Prozent sowie eine Integritätsentschädigung zu. Als die Invalidenversicherung dem Versicherten Jahre später infolge Verschlechterung des Gesundheitszustandes eine Erhöhung der bisherigen Viertelrente auf eine ganze Rente in Aussicht stellte, forderte er die Allianz auf, die Rente der Unfallversicherung ebenfalls anzupassen. In der Folge erhöhte die Allianz die Invalidenrente, kürzte sie aber – anders als bei der ersten Zusprechung der Rente – um 20 Prozent. Diese Leistungskürzung im Rahmen der Rentenrevision erklärte das Bundesgericht für unzulässig. Die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung gemäss Artikel 53 Absatz 2 ATSG seien nicht erfüllt.
8C_466/2021 vom 1.3.2022
Eine Nationalrätin und daneben selbständigerwerbende Frau bezog nach der Geburt ihres Kindes Ende 2018 Mutterschaftsentschädigung. Ab dem 4. März 2019 – Beginn der Session – nahm sie regelmässig an den Parlamentssitzungen teil. Die zuständige Ausgleichskasse verneinte daraufhin ab 4. März 2019 den weiteren Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung, die an sich noch bis Ende März ausbezahlt worden wäre. Sowohl das Berner Verwaltungsgericht als auch das Bundesgericht schützten diese Auffassung. Der Anspruch auf 14 Wochen Mutterschaftsentschädigung nach der Geburt endet vorzeitig, wenn die Mutter ihre Erwerbstätigkeit wieder aufnimmt (Artikel 16 d Bundesgesetz über die Erwerbsersatzordnung EOG). Die Ausübung des Nationalratsmandates gilt als Erwerbstätigkeit. Diese politische Tätigkeit verlange eine Arbeitsleistung, die auch entschädigt werde.
9C_469/2021 vom 8.3.2022
Der Grad der Invalidität einer Person wird durch einen Einkommensvergleich ermittelt, wobei das Invalideneinkommen dem Valideneinkommen gegenübergestellt wird. Anhand der so ermittelten Einkommenseinbusse bestimmt sich der Invaliditätsgrad. Die in diesem Zusammenhang erfolgte Rechtsprechung wird von einem Teil der Lehre als rechtsfehlerhaft und diskriminierend bezeichnet. Das Bundesgericht hält eine Änderung der Praxis zur Ermittlung des Invaliditätsgrades anhand der Tabellenlöhne der zweijährlichen Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik (LSE) trotzdem nicht für angezeigt. Einerseits lägen keine ernsthaften Gründe für eine Praxisänderung vor; andererseits sei nicht ausgeschlossen, dass sich die Rechtsprechung weiterentwickle. So hat das Bundesgericht in einem früheren Entscheid bereits festgehalten, dass mit Blick auf die Verwendung der LSE in der Invalidenversicherung Schritte in Richtung eines präziseren Settings im Gange sind.
8C_256/2021 vom 9.3.2022
Im Streit um die Höhe der Überschussbeteiligung bei einer gebundenen Vorsorgeversicherung der dritten Säule verlangte ein Versicherter die Edition der Jahresrechnungen der Versicherung für die Jahre 1996 bis 2019. Die Herausgabe der detaillierten Jahresrechnungen wurde verweigert. Gemäss Bundesgericht zu Recht. Der Auskunftsanspruch des einzelnen Versicherungsnehmers werde durch das legitime Interesse der Versicherungsgesellschaft am Schutz von Geschäftsgeheimnissen beschränkt. Zudem werde die Kontrolle der Überschusspolitik der Versicherungsunternehmen anderweitig gewährleistet. Der Versicherte, der die Richtigkeit der festgestellten Werte bezweifle, habe das Recht, von der Finma als Finanzmarktaufsichtsbehörde zu verlangen, dass sie unentgeltlich prüft, ob die von der Versicherungsgesellschaft ermittelten Überschusswerte den versicherungsmathematischen Grundlagen entsprechen und mit dem Überschussplan übereinstimmen.
9C_362/2021 vom 9.3.2022