Zur Publikation vorgesehen
Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats-/Verwaltungsrecht
Die Securitas leistet aufgrund einer Rahmenvereinbarung mit dem Staatssekretariat für Migration Sicherheitsdienstleistungen und Patrouillendienst in Unterkünften für Asylbewerber. Im Zentrum Kreuzlingen kam es dabei zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen zwei Mitarbeitern der Securitas und einem Asylbewerber. Letzterer verlangte in der Folge Schadenersatz und Genugtuung. In der Folge entstand ein Streit darüber, ob der Bund oder die Securitas das Verantwortlichkeitsverfahren zu führen hat. Das Bundesgericht hat nun entschieden, dass die Gewährung der Sicherheit in einer vom Bund geführten Asylunterkunft als öffentlich-rechtliche Aufgabe zu qualifizieren ist, eine gesetzliche Grundlage für die Übertragung dieser Aufgabe an die Securitas jedoch im Zeitpunkt der Rahmenvereinbarung fehlte. Dementsprechend besteht eine direkte Haftbarkeit des Bundes.
2C_69/2021 vom 17.12.2021
Vor drei Jahren hatte der Genfer Dienst für Gewerbepolizei und zur Bekämpfung von Schwarzarbeit entschieden, dass «Uber BV» als Betreiberin eines Transportunternehmens gilt und dementsprechend die gesetzlichen Pflichten zum sozialen Schutz der Fahrer und zur Einhaltung der branchenüblichen Arbeitsbedingungen zu beachten hat. Uber wurde untersagt, die Aktivitäten weiterzuführen, solange keine rechtskonforme Situation hergestellt ist. Das Bundesgericht hat jetzt entschieden, es sei nicht willkürlich, von einem Arbeitsvertrag zwischen den in Genf tätigen Uber-Fahrern und dem Fahrdienst «Uber BV» auszugehen. Demgegenüber bestehe zwischen Uber und den Gastronomiebetrieben kein Personalverleihvertrag, wie dies die Genfer Justiz entschieden hatte. Dazu fehle es an einem Übergang der Weisungsbefugnisse gegenüber den Kurieren auf die Gastronomiebetriebe und an der Integration der Kuriere in die Organisation des Restaurants.
2C_575/2020 vom 30.5.2022; 2C_34/2021 vom 30.5.2022 (ohne BGE-Publikation)
Zivilrecht
Artikel 84 Absatz 2 ZPO besagt, dass wer die Bezahlung eines Geldbetrages verlangt, diesen zu beziffern hat. Ist es der klagenden Partei unmöglich oder unzumutbar, ihre Forderung bereits zu Beginn des Prozesses zu beziffern, so kann sie eine unbezifferte Forderungsklage erheben; sie muss jedoch einen Mindestwert angeben, der als vorläufiger Streitwert gilt (Artikel 85 Absatz 1 ZPO). Im Gesetz nicht geregelt ist die Frage des Zeitpunkts, in dem zu begründen ist, weshalb eine Bezifferung nicht möglich oder zumutbar ist. Das Bundesgericht hat diese Frage nun wie folgt beantwortet: Beruft sich der Kläger auf eine Ausnahme von der Bezifferungspflicht, hat er bereits in der Klageschrift aufzuzeigen, dass die Bedingungen nach Artikel 85 Absatz 1 ZPO für eine unbezifferte Forderungsklage erfüllt sind. Dabei genügt ein blosser Hinweis auf fehlende Informationen nicht. Vielmehr muss der Kläger konkret darlegen, weshalb es aus objektiven Gründen unmöglich oder unzumutbar ist, die Klageforderung zu beziffern.
4A_581/2021 vom 3.5.2022
Der Mietzins einer Altbauwohnung ist grundsätzlich nicht missbräuchlich, wenn er orts- und quartierüblich ist. Aber wann ist ein Mietzins vermutungsweise missbräuchlich, wenn weder Vergleichsobjekte noch offizielle Statistiken zur Bestimmung des orts- und quartierüblichen Mietzinses vorliegen? Laut Bundesgericht ist in solchen Fällen ein missbräuchlicher Mietzins zu vermuten, wenn er deutlich mehr als zehn Prozent über dem vom Vormieter bezahlten liegt (massive Erhöhung) und sich dies nicht durch eine Entwicklung des Referenzzinssatzes für Hypotheken oder des Landesindex für Konsumentenpreise erklären lässt. Im konkreten Fall fochten die Mieter einer Vierzimmerwohnung in einer Liegenschaft aus den 1960er-Jahren am See in Montreux den vereinbarten Mietzins von netto 2280 Franken als missbräuchlich an. Der Vormieter hatte 1562 Franken bezahlt. Das Bundesgericht erachtet, wie die Vorinstanzen, einen Mietzins von 1800 Franken als angemessen.
4A_554/2021 vom 2.5.2022
Ein Mann stand an einer Tramhaltestelle in Zürich mit dem Rücken zu einem einfahrenden Tram der VBZ. Sein Blick war auf das Mobiltelefon gerichtet, als er unvermittelt und ohne sich umzusehen den Gleisbereich betrat. Er wurde vom Tram erfasst und schwer verletzt. Vor Bundesgericht stellte sich die Frage, ob die Stadt Zürich als Inhaberin der VBZ dem Mann eine Genugtuung bezahlen muss. Die Zürcher Justiz bejahte die grundsätzliche Haftung der Stadt gemäss Eisenbahngesetz. Anders sieht es das Bundesgericht: Der Fussgänger handelte grobfahrlässig, indem er seinen Blick auf das Mobiltelefon richtete und – davon abgelenkt – unvermittelt das Tramtrassee betrat, ohne sich zu versichern, dass kein Tram kommt.
4A_179/2021 vom 20.5.2022
Strafrecht
Ein Westschweizer Politiker hatte auf seinem öffentlich zugänglichen Facebook-Konto einen Zeitungsartikel veröffentlicht, der zu unangemessenen Kommentaren auf der Pinnwand des Kontos führte. Mehrere Urheber der Kommentare wurden wegen Rassendiskriminierung bestraft. Der Inhaber des Facebook-Kontos wurde von diesem Vorwurf freigesprochen. Das Bundesgericht wies eine Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Freispruch ab. Da der Inhaber des Facebook-Kontos von den fraglichen Beiträgen bis zur Eröffnung des Strafverfahrens keine Kenntnis hatte, ist seine strafrechtliche Verantwortlichkeit mangels einer spezifischen Rechtsgrundlage und Pflicht zur Überwachung eines Social-Media-Kontos ausgeschlossen.
6B_1360/2021 vom 7.4.2022
Die Genfer Justiz sprach einen Mann vom Vorwurf der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung frei. Es kam zu sexuellen Handlungen, der Sachverhalt war aber umstritten – insbesondere, ob die sexuellen Handlungen mit dem Einverständnis der Frau erfolgten. Vor Bundesgericht vertrat die Frau die Ansicht, die beiden Artikel 189 und 190 StGB seien in dem Sinne auszulegen, dass jede nicht einvernehmlich erfolgte sexuelle Handlung nach dem Grundsatz «Nur Ja heisst Ja» mit Strafe bedroht sei. Dem widerspricht das Bundesgericht: Das geltende Sexualstrafrecht könne nicht so ausgelegt werden, dass die fehlende Einverständniserklärung in eine sexuelle Handlung ausreicht, um jemanden wegen sexueller Nötigung oder Vergewaltigung zu verurteilen.
6B_894/2021 vom 28.3.2022
Ende 2014 reiste eine damals 15-Jährige zusammen mit ihrem um ein Jahr älteren Bruder in das Gebiet des Islamischen Staats in Syrien und lebte mehrere Monate mit der finanziellen Unterstützung des IS. Das Jugendgericht des Bezirks Winterthur verurteilte die junge Frau 2019 wegen Widerhandlung gegen das Al-Quaida/IS-Gesetz zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zehn Monaten. Das Zürcher Obergericht bestätigte das Urteil, nun auch das Bundesgericht. Es erachtet die von der Rechtsprechung geforderte Tatnähe des Handelns zu den verbrecherischen Aktivitäten des IS als gegeben. Die junge Frau war voll verschleiert, für den Haushalt und das Wohl ihres Bruders zuständig, unterrichtete Kinder in Englisch und nahm als Mitglied der Gesellschaft am Leben des IS teil. Es stehe zudem fest, dass die junge Frau die Reise im Wissen um die Gräueltaten des IS unternommen habe.
6B_120/2021 vom 11.4.2022
Der Tatbestand der Gefährdung durch Sprengstoffe in verbrecherischer Absicht (Artikel 224 StGB) ist weit gefasst. Zu seiner Erfüllung genügt bereits die blosse Gefährdung von fremdem Eigentum. Dem steht eine erhebliche Strafdrohung von einem bis zwanzig Jahren gegenüber. Die Verursachung einer Explosion durch Sprengstoffe ist nicht zwingend gemeingefährlich. Der Tatbestand muss daher wenigstens vom Gefährdungserfolg her sachgemäss beurteilt werden. Das Bundesgericht stellt in einem neuen Urteil auf die Repräsentationstheorie ab. Demnach soll die Gefährdung von Menschen oder fremdem Eigentum zwar ausreichen. Doch darf der Mensch oder das Eigentum nicht von vornherein individuell ausgewählt, sondern muss vom Zufall bestimmt sein. Im konkreten Fall bestätigte das Bundesgericht den Freispruch eines Mannes vom Vorwurf der Gefährdung durch Sprengstoffe mangels Vorliegens einer Gemeingefahr. Der Mann hatte einen Feuerwerkskörper an einer freistehenden Radaranlage angebracht und mitten in der Nacht gezündet, als nicht mit Verkehr zu rechnen war. Eine Gefahr für einen Menschen oder eine andere Sache als die Radaranlage bestand nicht.
6B_795/2021 vom 27.4.2022
Der Tatbestand der Schändung ist erfüllt, wenn eine urteilsunfähige oder eine zum Widerstand unfähige Person in Kenntnis ihres Zustands zum Beischlaf oder einer anderen sexuellen Handlung missbraucht wird. Das heimliche und vereinbarungswidrige Entfernen des Kondoms während des Geschlechtsverkehrs (Stealthing) verstösst gegen die sexuelle Selbstbestimmung und gegen den Schutzbereich dieser Norm. Nicht erfüllt ist bei Stealthing hingegen das für eine Schändung ebenfalls erforderliche Tatbestandsmerkmal der Widerstandsunfähigkeit des Opfers. Damit fällt Stealthing nicht unter den Tatbestand der Schändung. Das heimliche Abstreifen des Kondoms kann – je nach den Umständen – jedoch als (versuchte) Körperverletzung bestraft werden. Auch der Tatbestand des Verbreitens menschlicher Krankheiten könnte erfüllt sein.
6B_34/2020 und 6B_265/2020 vom 11.5.2022
Sozialversicherungsrecht
Eine betagte Person mit Wohnsitz im Kanton Genf trat in ein Pflegeheim im Kanton Zürich ein. Sie ersuchte daraufhin das zuständige Departement des Kantons Genf um Übernahme der Restfinanzierung der Pflegekosten, was dieses aber ablehnte, weil sich das Heim nicht in geografischer Nähe befinde. Mit dem Genfer Kantonsgericht hat das Bundesgericht nun entschieden, dass der Wohnsitzkanton zur Festsetzung und Übernahme der Restfinanzierung der Pflegekosten zuständig ist. Mit Artikel 25a Absatz 5 KVG solle sichergestellt werden, dass die Restkosten der Pflege – also die Gesamtheit der nicht von der obligatorischen Krankenversicherung und von der versicherten Person selber getragenen Kosten – durch die öffentliche Hand übernommen werden.
9C_460/2021 vom 1.4.2022
Arbeiten zwei auf orthopädische Chirurgie spezialisierte Ärzte in den gleichen Lokalitäten intensiv zusammen und teilen sich die Kosten der kleinen Räumlichkeiten, besteht ein objektiver Anschein der Befangenheit, wenn einer der beiden von einer Krankenversicherung als Experte eingesetzt wird, während bereits sein Kollege eine medizinische Meinung als Vertrauensarzt der Krankenversicherung abgegeben hat. Die Situation dieser Ärzte kann nicht mit der Situation von zwei Psychiatern verglichen werden, die parallel im gleichen multidisziplinären Expertenzentrum als Psychiater arbeiten.
8C_514/2021 vom 27.04.2022
Eine Ärztin wurde bei einer Hochtour von einem Blitzschlag getroffen. Sie konnte unter Mithilfe anderer Personen absteigen und wurde später von der Rega ins Spital geflogen. Rund zwei Jahre nach dem Vorfall stellte die Unfallversicherung ihre Leistungen ein. Der medizinische Endzustand sei erreicht und der adäquate Kausalzusammenhang müsse verneint werden. Anders als das Obergericht des Kantons Appenzell Ausserrhoden geht das Bundesgericht davon aus, dass einem Blitzunfall auch bei objektiver Betrachtungsweise eine besondere Eindrücklichkeit nicht abgesprochen werden könne. Dies umso mehr, als die Ärztin den Blitzschlag – Einschlag am Kopf und Austritt an den Zehen – wahrnahm, bevor sie nach ca. 20 bis 30 Sekunden bewusstlos wurde. Angesichts dieser Situation war es unzulässig, die Frage nach dem natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und den organisch nicht nachweisbaren Beschwerden offenzulassen. Die Unfallversicherung muss nun weitere Abklärungen vornehmen.
8C_58/2022 vom 23.5.2022