Zur Publikation vorgesehen
Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats-/Verwaltungsrecht
Verlässt ein Ausländer die Schweiz ohne sich abzumelden, erlischt die Aufenthaltsbewilligung von Gesetzes wegen (Artikel 61 Absatz 2 Ausländergesetz) automatisch nach sechs Monaten. Dies auch dann, wenn auf die Verlängerung der Bewilligung ein Anspruch bestanden hätte, wie im Fall eines Somaliers, der die Schweiz für acht Monate verlassen hatte, um seine Familie zu besuchen. Vor Bundesgericht berief sich der Somalier aufgrund seiner Anwesenheit von fast zehn Jahren im Land auf das Recht auf Achtung des Privatlebens von Artikel 8 EMRK. Ohne Erfolg: Da sein Aufenthaltsrecht von Gesetzes wegen erloschen sei, könne sich der Somalier nicht auf den Schutz des Privatlebens berufen. Damit würde Artikel 61 Absatz 2 AlG ausgehöhlt, was nicht mit dem Willen des Gesetzgebers vereinbar sei.
2C_528/2021 vom 23.6.2022
Eine Frau erzielte aus unselbständiger Tätigkeit ein Jahreseinkommen von knapp 14 000 Franken. Der Betrag umfasste im ordentlichen Veranlagungsverfahren besteuerte Lohnzahlungen von 3700 Franken sowie Einkünfte von gut 10 000 Franken aus diversen Nebenerwerbstätigkeiten, die im Rahmen des vereinfachten Abrechnungsverfahrens gemäss Bundesgesetz über die Massnahmen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit (BGSA) quellenbesteuert wurden. Die Frau zahlte 1100 Franken in die Säule 3a ein und wollte diesen Betrag beim Einkommen abziehen. Die Berner Steuerbehörden erkannten davon lediglich 745 Franken an – also 20 Prozent der im ordentlichen Veranlagungsverfahren zu besteuernden Lohnzahlungen. Das Bundesgericht hiess eine gegen dieses Vorgehen eingereichte Beschwerde gut. Angesichts der Bedeutung des Aufbaus einer gebundenen Selbstvorsorge bei Fehlen des beruflichen Vorsorgeschutzes rechtfertige es sich, auch die BGSA-Einkünfte bei der Berechnung der abzugsfähigen Säule 3a zu berücksichtigen.
2C_916/2020 vom 19.5.2022
Zivilrecht
Arbeitsrechtlicher Entscheid zur Massenentlassung und zur Frage, ob der Begriff des Betriebes nach Artikel 335 d OR erweitert werden muss, wenn mehrere nahe beieinander liegende Betriebe eine einzige Betriebsstätte darstellen, wie es etwa bei der Post der Fall ist. Das Bundesgericht folgt der Mehrheit der Lehre. Dementsprechend ist jede Poststelle ein separater Betrieb gemäss Artikel 335 d OR. Kündigungen in einer Poststelle – auch in einem nahen geografischen Bereich – müssen im Hinblick auf eine Massenentlassung jeweils separat berechnet werden.
4A_531/2021 vom 18.7.2022
Ausgangspunkt jeder Unterhaltsberechnung bildet der gebührende Unterhalt, der sich im ehelichen wie auch im nachehelichen Verhältnis anhand des zuletzt gelebten gemeinsamen Standards bemisst. Beide Ehegatten haben deshalb im Rahmen der verfügbaren Mittel bis zur Höhe des ermittelten früheren gemeinsamen Standards einen Anspruch auf dessen Fortsetzung, solange die Ehe besteht. Dem ehelichen Unterhaltsrecht ist eine zeitliche Limitierung des zur Erreichung des gebührenden Unterhalts notwendigen Unterhaltsbeitrags fremd. Es ist willkürlich, den ehelichen Unterhaltsbeitrag mit der Begründung zu streichen, die Ehefrau könne mit ihrem hypothetischen Einkommen ihr Existenzminimum selber decken.
5A_849/2020 vom 27.6.2022
Ein im Kanton Aargau wohnhaftes Ehepaar hatte in Georgien einen Leihmutterschaftsvertrag mit der Leihmutter und einer Eizellenspenderin abgeschlossen; die Samenspende stammte vom Ehemann. Nach georgischem Recht wurden die Wunscheltern als Vater und Mutter in der Geburtsurkunde eingetragen. In der Schweiz ist es komplizierter. Es gilt schweizerisches Abstammungsrecht: Der Wunschvater als Samenspender kann seine rechtliche Vaterschaft unverzüglich mit einer Kindesanerkennung bewirken. Was die Wunschmutter betrifft, ist danach eine Stiefkindadoption möglich. Dies ergibt sich aus einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, der entschieden hat, dass die Wunschmutter eine Möglichkeit haben muss, die rechtliche Elternschaft zum Kind zu erlangen, wenn es mit dem Sperma des Wunschvaters gezeugt wurde.
5A_32/2021 vom 1.7.2022
Strafrecht
Hat ein Gefangener mindestens die Hälfte seiner Freiheitsstrafe verbüsst und ist nicht zu erwarten, dass er flieht oder weitere Straftaten begeht, dann kann die Strafe in der Form des Arbeitsexternats erfolgen. Laut Gesetz (Artikel 77 a Absatz 2 StGB) erfolgt der Wechsel in der Regel nach einem Aufenthalt von angemessener Dauer in einer offenen Anstalt oder der offenen Abteilung einer geschlossenen Anstalt. Neu gilt auch: Eine zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilte Person, die eine lange Periode in Untersuchungs- oder Sicherheitshaft verbracht hat, muss die Möglichkeit haben, ihre (Rest)Strafe direkt in der Form des Wohn- und Arbeitsexternats zu verbringen, wenn sie dazu die Voraussetzungen erfüllt.
6B_78/2022 vom 8.6.2022
Jede strafrechtlich verurteilte Person hat gemäss Artikel 32 Absatz 3 BV das Recht, das Urteil von einem höheren Gericht überprüfen zu lassen. Dieses Recht wird durchbrochen, wenn im Berufungsverfahren der Berufungs- oder Anschlussberufungskläger nicht vorgeladen werden kann. In solchen Fällen greifen die speziellen Säumnisfolgen von Artikel 407 Absatz 1 litera c StPO: Die Berufung oder Anschlussberufung gilt als zurückgezogen. Wer Angaben über seinen Aufenthaltsort verweigert und auf diese Weise eine rechtsgültige Zustellung seiner Vorladung an die Berufungsverhandlung vereitelt, verdient keinen Rechtsschutz.
6B_998/2021 vom 22.6.2022
Die Strafbehörden sind gemäss Artikel 6 Absatz 1 StPO verpflichtet, von Amtes wegen alle für die Beurteilung der Tat und der beschuldigten Person bedeutsamen Tatsachen abzuklären. Zur Abklärung der persönlichen Verhältnisse holen Staatsanwalt und Gericht Auskünfte über Vorstrafen und den Leumund sowie weitere sachdienliche Berichte von Amtsstellen und Privaten ein (Artikel 195 Absatz 2 StPO). In diesem Zusammenhang geht es nicht an, im Rahmen der Strafzumessung auf den Umstand hinzuweisen, der Betroffene habe seit Jahren nicht mehr delinquiert – und sich dabei auf einen mehrere Monate alten Strafregisterauszug zu stützen. Erforderlich ist ein aktueller Strafregisterauszug.
6B_536/2022 vom 25.8.2022
Nach seiner Entlassung aus der Haftanstalt Thorberg wurde einem Straftäter, der wegen problematischen Verhaltens von der Haftanstalt Bochuz versetzt worden war, von seinem Zweckkonto 2245 Franken für ungedeckte Gesundheitskosten belastet. Zudem wurden 438 Franken für den Transport seiner persönlichen Effekten in die Strafanstalt Thorberg mit dem frei verfügbaren Arbeitsentgelt verrechnet. Das Bundesgericht schützte dieses Vorgehen. Zwar sei das Arbeitsentgelt grundsätzlich unpfändbar. Umgekehrt dürften Verurteilte in angemessener Weise an den Vollzugskosten beteiligt werden. Der Kanton regelt die näheren Vorschriften.
6B_820/2021 vom 2.8.2022
Die Auffassung der Basler Staatsanwaltschaft, im Bereich des Massengeschäfts wie Strafbefehlen etwa bei Verkehrsübertretungen sei eine Unterschrift mittels Faksimilestempel zulässig, wenn dessen Verwendung stark reglementiert ist, hält vor Bundesrecht nicht stand. Bei der eigenhändigen Unterschrift handelt es sich um ein Gültigkeitserfordernis. Mit der Unterschrift auf dem Strafbefehl wird kenntlich gemacht, wer Aussteller ist, mithin, wer den Strafbefehl erlassen und damit eingehend über Schuld und Strafe entschieden hat. Die eigenhändige Unterschrift bezeugt, dass der Strafbefehl dem tatsächlichen Willen des ausstellenden Staatsanwalts entspricht.
6B_684/2021 vom 22.6.2022
Das neue Recht lässt das Rechtsvorbeifahren auf der Autobahn grosszügiger zu. Dies ändert jedoch nichts daran, dass das Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen verboten bleibt. Zwar wurde die Möglichkeit geschaffen, ein solches Manöver mit Ordnungsbusse zu ahnden (Ziffer 314.3 Anhang OBV). Doch ist weiterhin eine Verurteilung wegen grober Verletzung von Verkehrsregeln im Sinne von Artikel 90 Absatz 2 SVG auszusprechen, wenn die Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Wird mit dem Rechtsüberholen eine erhöhte abstrakte Gefährdung geschaffen, dann wird dies auch nach neuem Recht als gleich strafwürdig bewertet.
6B_231/2022 vom 1.6.2022
Sozialversicherungsrecht
Entscheid zur Frage, welche Entschädigung einem Absolventen eines Bachelorstudiums in Wirtschaftswissenschaften an einer Universität zu bezahlen ist, wenn dieser nach dem Studium erst mehrere Monate als Aushilfe im Verkauf arbeitet und anschliessend Zivildienst leistet. Die Ausgleichskasse setzte die Erwerbsentschädigung basierend auf dem ortsüblichen Anfangslohn eines Bachelorabsolventen in Wirtschaftswissenschaften von jährlich 72 000 Franken fest und sprach dem Mann eine Entschädigung von 160 Franken pro Tag zu. Das Bundesgericht hat eine vom Bundesamt für Sozialversicherung erhobene Beschwerde gutgeheissen. Grund: Ein direkter Berufseinstieg für Studienabgänger der Wirtschaftswissenschaften mit Bachelorabschluss ist schwierig. Leute mit dieser Ausbildung absolvieren zuerst regelmässig ein Praktikum. Die Entschädigung für den Zivildienst ist entsprechend einem Praktikumslohn auf Fr. 69.60 festzulegen.
9C_586/2021 vom 2.8.2022
Seit einem Sturz auf einer Baustelle leidet ein 56-jähriger Mann an einer kompletten Paraplegie. Vor drei Jahren blieb er beim Rückwärtsfahren mit dem Rollstuhl an der Bettkante hängen und stürzte mit der linken Schulter auf den Boden, wobei er sich erheblich verletzte und operiert werden musste. Dem Bundesgericht stellte sich die Frage, ob die Suva, bei welcher der Mann versichert war, auch für die Schulteroperation aufkommen muss. Grundsätzlich haftet der Unfallversicherer auch für mittelbare Folgeschäden, die mit einem versicherten Unfall natürlich und adäquat kausal zusammenhängen. Im konkreten Fall lehnte die Suva die Leistung zu Recht ab. Der Paraplegie mit Rollstuhlabhängigkeit kommt keine derart massgebende Bedeutung zu, dass sie nach gewöhnlichem Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet war, den neuerlichen Sturz herbeizuführen. Nicht die Folge des früheren Unfalles, sondern das unterwartete Hängenbleiben an der Bettkante stand im Vordergrund.
8C_596/2021 vom 12.7.2022