Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats-/Verwaltungsrecht
Eine Lenkerin aus dem Kanton Aargau hatte auf der Autobahn in Österreich das erlaubte Höchsttempo um 62 km/h überschritten. Sie kassierte dafür eine Busse von 400 Euro und ein zweiwöchiges Fahrverbot in Österreich. Das Aargauer Strassenverkehrsamt entzog der Frau den Führerausweis für drei Monate. Dies akzeptierte die Lenkerin nicht und zog ihren Streit bis vors Bundesgericht. Zwar bestimmt Artikel 16 c bis des Strassenverkehrsgesetzes, dass die im Ausland verfügte Dauer des Führerausweisentzugs auch in der Schweiz die Obergrenze bildet, wenn die betroffene Person im «Informationssystem Verkehrszulassung» keinen Eintrag zu früheren Administrativmassnahmen aufweist. Laut Bundesgericht können nur tatsächliche Ersttäter von dieser Regelung profitieren. Im konkreten Fall war der Frau im Jahr 2009 der Ausweis für einen Monat entzogen worden, weshalb der dreimonatige Ausweisentzug zu Recht erfolgte.
1C_653/2021 vom 24.8.2022
Im Zuge von illegalen Absprachen hat die Wettbewerbskommission dem Bauunternehmen Implenia Schweiz verschiedene Handlungsverbote auferlegt. So wurde Implenia etwa verboten, sich vor Ablauf der Offerteingabefrist «über Offertpreise, Preiselemente sowie Zu- und Aufteilung von Kunden und Gebieten auszutauschen». Die Implenia erachtete diese Massnahmen als unzulässig, unverhältnismässig und nicht sachgerecht. Das Bundesgericht hat die Beschwerde abgewiesen. Artikel 30 Absatz 1 des Kartellgesetzes lässt auch Massnahmen zu, die präventiv und zukunftsgerichtet ausgesprochen werden, jedenfalls solange diese darauf abzielen, die Wiederholung der festgestellten Wettbewerbsbeschränkung zu verhindern. «Es besteht eine ausreichende Wiederholungsgefahr und die Massnahmen erweisen sich in sachlicher, räumlicher, persönlicher sowie in zeitlicher Hinsicht als verhältnismässig.»
2C_782/2021 vom 14.9.2022
Die Einschliessung eines Ausschaffungshäftlings in seiner Zelle während 18 Stunden verletzt das Recht auf persönliche Freiheit, da sie über das für ausländerrechtlich festgehaltene Personen im Hinblick auf den Haftzweck Erforderliche hinausgeht und als unverhältnismässig zu gelten hat. Es liegt eine Verletzung des Übermassverbots vor. Der Haftzweck rechtfertigt es auch nicht, ausländerrechtlich inhaftierten Personen generell den Internetzugang zu verweigern. Eine solche Massnahme verletzt die Meinungs- und Informationsfreiheit und geht über das hinaus, was für den Festhaltungszweck der ausländerrechtlichen Zwangsmassnahmen geboten erscheint. Der Anspruch auf soziale Kontakte und Kontaktmöglichkeiten nach aussen muss heute – allenfalls zeitlich und örtlich begrenzt – für ausländerrechtlich inhaftierte Personen gewährt werden. Zulässig ist es jedoch, den Gebrauch des Smartphones einzuschränken.
2C_765/2022 vom 13.10.2022
Zivilrecht
Die Schokoladenhasen von Lindt & Sprüngli – gold- oder andersfarbig in Folie verpackt – geniessen Markenschutz. Anders als das Aargauer Obergericht kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass das Konkurrenzprodukt von Lidl deshalb aus den Regalen verschwinden muss. Lindt & Sprüngli hat für ihre Schoggihasen zwei dreidimensionale Formmarken eingetragen, die beim Publikum allgemeine Bekanntheit erlangt und sich im Verkehr durchgesetzt haben. Weiter stellt das Bundesgericht fest, dass die Schoggihasen zwar einige Unterschiede aufweisen. Aufgrund ihres Gesamteindrucks lösen die Lidl-Schokohasen jedoch naheliegend Assoziationen zur Form des Lindt-Hasen auf. Aufgrund der Ähnlichkeit der beiden Produkte besteht eine Verwechslungsgefahr. Die noch vorhandenen Lidl-Hasen müssen zerstört werden. Ihre Zerstörung ist verhältnismässig, da nur die Hasen in ihrer Form, nicht aber die Schokolade zu vernichten ist.
4A_587/2021 vom 30.8.2022
Ein Unternehmen hatte im Jahre 2018 einen 10-jährigen Mietvertrag abgeschlossen. Da das Gebäude per Ende 2025 verkauft werden soll, klagte die Mieterin beim Zürcher Handelsgericht auf Eintrag des Mietvertrages in der Rubrik «Vormerkungen» im Grundbuch. Damit sollte verhindert werden, dass die Käuferin des Grundstücks wegen Eigenbedarf vorzeitig kündigen kann. Das Handelsgericht trat nicht auf die Klage ein. Streitigkeiten über die Vormerkung von Mietverhältnissen an Wohn- und Geschäftsräumen im Grundbuch nach Artikel 261b OR (in Verbindung mit Artikel 959 ZGB) fallen unter den Begriff des «Kündigungsschutzes» im Sinne von Artikel 243 Absatz 2 litera c ZPO. Für sie gilt demnach das vereinfachte Verfahren ohne Rücksicht auf den Streitwert. Das Handelsgericht ist dementsprechend mangels Zuständigkeit zu Recht nicht auf die Klage eingetreten.
4A_199/2022 vom 20.9.2022
Strafrecht
Nach ständiger Rechtsprechung begründet die Handlung eines Anstifters oder Gehilfen aufgrund ihrer Akzessorietät zur Haupttat keinen selbständigen Anknüpfungspunkt, um einen Begehungsort nach Artikel 3 und Artikel 8 StGB zu bestimmen. Wenn die Haupttat ausschliesslich im Ausland verübt wurde, besteht daher für eine in der Schweiz begangene Anstiftung oder Gehilfenschaft keine schweizerische Strafhoheit. Nicht näher auseinandergesetzt hat sich das Bundesgericht bis anhin mit Fällen, in denen die Anstiftung misslingt. Begründet die versuchte Anstiftung einen selbständigen Anknüpfungspunkt oder muss an den Ort angeknüpft werden, an dem der Haupttäter gehandelt hätte, wenn die Anstiftung geglückt wäre? Das Bundesgericht hat entschieden, dass die versuchte Anstiftung einen selbständigen Anknüpfungspunkt im Sinne von Artikel 8 Absatz 2 StGB begründet.
6B_1029/2021 vom 24.8.2022
Das Bundesstrafgericht verurteilte einen Mann wegen Verstosses gegen Artikel 2 des Bundesgesetzes über das Verbot der Gruppierungen «Al-Qaida» und «islamischer Staat» zu einer Freiheitsstrafe von 65 Monaten. Damit war die Bundesanwaltschaft nicht einverstanden, sie forderte eine Verwahrung. Das Bundesgericht hat die Beschwerde abgewiesen. Die Verwahrung setzt als Anlasstat eine in Artikel 64 Absatz 1 StGB umschriebene sogenannte Katalogtat oder eine andere mit einer Höchststrafe von fünf oder mehr Jahren bedrohte Tat voraus. Artikel 2 des Al-Qaida/IS-Gesetzes bezieht sich nicht auf eine Katalogtat. Die Verwahrung fällt nicht in Betracht, wenn dem Täter einzig die Beteiligung an einer terroristischen Organisation nachgewiesen werden kann.
6B_57/2022 vom 19.8.2022
Eine Frau war mit anderen Personen im Hinblick auf eine Besetzung auf das Gelände eines Unternehmens auf dem Mormont-Hügel im Kanton Waadt eingedrungen. Die Frau wurde verhaftet, weigerte sich aber, Angaben zu ihrer Identität zu machen. Die Staatsanwaltschaft erliess in der Folge einen Strafbefehl gegen die Frau, indem sie als «Unbekannte Nr. XXX» mit einem Aliasnamen aufgeführt wurde, zusammen mit einer Personenbeschreibung («weibliches Geschlecht», «dunkle Augen») sowie der Nummer ihres erkennungsdienstlichen Profils. Die Besetzerin wurde diverser Delikte für schuldig befunden und zu einer Freiheitsstrafe von 60 Tagen verurteilt. Das Bundesgericht hat dieses Vorgehen gegen die Aktivistin für zulässig erklärt. Die im Strafbefehl enthaltenen Angaben erlauben ihre eindeutige Individualisierung, weshalb der Strafbefehl trotz fehlender namentlicher Identifikation gültig ist.
6B_1325/2021 und 6B_1348/2021 vom 27.9.2022
Sozialversicherungsrecht
Zu Hause lebende Bezüger und Bezügerinnen einer IV-Hilflosenentschädigung können – etwa für die Hilfestellung Dritter – einen Assistenzbeitrag beantragen. Die Festlegung des individuellen Hilfebedarfs erfolgt mittels eines standardisierten Abklärungsinstruments namens FAKT2. Damit wird der gesamte Hilfebedarf für verschiedene Lebensbereiche und abgestuft nach den Einschränkungen der betroffenen Person anhand vorgegebener Minutenwerte festgelegt. In einem früheren Urteil hat das Bundesgericht FAKT2 als geeignetes Instrument zur Ermittlung des gesamten Hilfsbedarfs einer Person bezeichnet. In Bezug auf den Lebensbereich «Erziehung und Kinderbetreuung» hat dies das Bundesgericht relativiert. Diesbezüglich erweisen sich die Standardwerte als nicht sachgerecht und als bundesrechtswidrig. Im konkreten Fall hat sich eine alleinerziehende Mutter von zwei kleinen Kindern erfolgreich gewehrt, weil bei ihr die Minutenwerte zu tief angesetzt worden sind.
9C_538/2021 vom 6.9.2022