Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats-/Verwaltungsrecht
In der Luzerner Gemeinde Hochdorf wurde im Jahre 2019 die kommunale Initiative «Hochdorf heizt erneuerbar – ab 2030 erst recht» lanciert. Demnach soll in bestimmten Bauzonen der Gemeinde sichergestellt werden, dass ab 2030 alle Heizsysteme nur mit erneuerbaren Energien betrieben werden.
Der Gemeinderat erklärte die Initiative für ungültig, was das Luzerner Verwaltungsgericht bestätigte. Es erachtete den Eingriff in die Eigentumsgarantie und die Besitzstandsgarantie als unverhältnismässig.
Anders sieht es das Bundesgericht: Das Initiativbegehren macht eine bloss behördenverbindliche Zielvorgabe. Über den Weg zum Erreichen des Ziels schweigt es sich aus. Ob die mit der Initiative geforderte Massnahme als verhältnismässiger Eingriff in die Eigentumsgarantie erachtet werden kann, hängt davon ab, wie die mutmasslichen Kosten für die Umstellung ausfallen und wer dafür aufzukommen hat. Den Behörden sollte es bei Annahme der Initiative möglich sein, eine Lösung zur Kostentragung mit finanzieller Beteiligung der öffentlichen Hand zu finden, die mit der Eigentums- und Besitzstandsgarantie vereinbar ist.
1C_391/2022 vom 3.5.2023
Vor mehr als 50 Jahren wurde ein Kind seiner Mutter weggenommen, behördlich bei einer Pflegefamilie fremdplatziert und im Alter von knapp 30 Monaten adoptiert. Das Kind erlitt später körperliche Gewalt und wirtschaftliche Ausbeutung durch übermässige Beanspruchung seiner Arbeitskraft.
Vor fünf Jahren beantragte der Betroffene für die erlittenen Qualen und die Zwangsmassnahme eine Entschädigung beim Bundesamt für Justiz (Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen).
Das Bundesamt wies das Ansinnen ab, weil in der Zeit vor der Adoption keine Anhaltspunkte für eine Opfereigenschaft vorliegen würden. Und nach der Adoption sei nicht mehr von einer Fremdplatzierung auszugehen, weshalb kein Anspruch auf Entschädigung bestehe. Falsch, sagt das Bundesgericht: Ein Kind gilt auch nach der Adoption durch seine vormaligen Pflegeeltern als fremdplatziert und erfüllt die Opfereigenschaft.
2C_393/2022 vom 5.5.2023
Zivilrecht
Eine Angestellte klagte auf Zahlung einer Entschädigung wegen missbräuchlicher Kündigung. Im Gerichtsverfahren hatte die Frau nicht geltend gemacht, vor Ablauf der Kündigungsfrist schriftlich Einsprache bei der Arbeitgeberin eingelegt zu haben, wie dies in Artikel 336b Absatz 1 OR vorgesehen ist.
Das Genfer Kantonsgericht kam zum Schluss, dass die Arbeitnehmerin die Einsprache nur dann hätte vorbringen und beweisen müssen, wenn die Arbeitgeberin dies bestritten hätte, was nicht der Fall war.
Das Bundesgericht war anderer Meinung. Für solche Verfahren gilt die Verhandlungsmaxime. Die anwaltlich vertretene Frau hätte die Beweise für die massgeblichen Tatsachen für ihren Entschädigungsanspruch vorlegen müssen. Dazu gehört auch, dass gültig und innert Frist Einsprache erhoben wird. Fehlt dieser Beweis, ist das Begehren auf Entschädigung wegen missbräuchlicher Kündigung abzuweisen.
4A_412/2022 vom 11.5.2023
Strafrecht
Ein Schulkoch und Freizeit-Schwimmlehrer von Jugendlichen im Alter von 6 bis 16 Jahren hatte auf seinem Computer 136 Pornobilder mit sexuellen Handlungen mit Minderjährigen gespeichert, die teilweise massivste Übergriffe auf Kinder zeigten. Der Mann wehrte sich gegen das gegen ihn ausgesprochene lebenslange Tätigkeitsverbot mit dem Argument, es liege ein besonders leichter Fall vor und künftig sei nicht mehr mit weiteren einschlägigen Straftaten zu rechnen.
Das Bundesgericht befasste sich insbesondere mit den Voraussetzungen von Artikel 67 Absatz 4bis StGB (Absehen von der Anordnung eines Tätigkeitsverbots). Das Gericht erachtete das lebenslange Tätigkeitsverbot als rechtskonform, zumal die Bestimmung restriktiv anzuwenden ist und kein besonders leichter Fall vorlag. Begeht der Täter eine Katalogtat (wie im konkreten Fall gemäss Artikel 67 Absatz 3 litera d Ziffer 2 StGB), ist grundsätzlich zwingend ein lebenslanges Tätigkeitsverbot auszusprechen.
6B_156/2023 vom 3.4.2023
Ein ausländischer Sozialhilfeempfänger bezog ein Freizügigkeitsguthaben von 18 400 Franken, ohne dies den Sozialen Diensten zu melden. Das Zürcher Bezirksgericht verurteilte den Mann wegen unrechtmässigen Bezugs von Leistungen zu einer Geldstrafe und verwies ihn für fünf Jahre des Landes.
Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass sich die Landesverweisung nicht rechtfertigt, weil die kriminelle Energie als verhältnismässig gering einzustufen (einmaliger Vorgang) und von einem leichten Fall auszugehen ist. Bei einem Deliktsbetrag von weniger als 3000 Franken liege immer ein leichter Fall vor und bei über 36'000 Franken scheide ein leichter Fall in der Regel aus. Im Zwischenbereich ist im Einzelfall zu prüfen, ob noch ein leichter Fall nach Artikel 148a Absatz 2 StGB vorliegt. Bei einem arglistigen Vorgehen ist – unabhängig vom Deliktsbetrag – zu prüfen, ob der Tatbestand des Betrugs erfüllt und deshalb eine Landesverweisung auszusprechen ist.
6B_1108/2021 vom 27.4.2023
Bei einem «Marsch für das Klima» 2018 in Genf malte ein Teilnehmer mit roter Farbe Handabdrücke auf die Fassade einer Bank: Schaden 2250 Franken. Der Mann wurde wegen Sachbeschädigung zu einer Busse von 100 und zur Schadenszahlung von 410 Franken verurteilt. Das Gericht billigte dem Täter zu, aus «achtenswerten Beweggründen» und «in schwerer Bedrängnis» und «unter grosser seelischer Belastung» im Sinne von Artikel 48 StGB gehandelt zu haben.
Anders sieht es das Bundesgericht. Die gewährte Strafmilderung verletze Bundesrecht. Eine Strafmilderung wegen achtenswerter Beweggründe könnte etwa bei gewaltfreien Aktionen wie einem sehr kurzfristigen Sitzprotest auf öffentlichen Strassen, ohne dass dabei der Verkehr gestört oder die öffentliche Sicherheit gefährdet wird, gewährt werden. Keine ehrbare Aktion liege vor, wenn gewalttätige Aktionen zu Sachbeschädigungen oder zu einer Gefahr für die körperliche Unversehrtheit Dritter führen.
6B_620/2022 vom 30.3.2023
Ein Beschuldigter war vom Bezirksgericht Zürich wegen Drohung, Nötigung etc. zu einer Freiheitsstrafe von 11 Monaten verurteilt worden. Sein Verteidiger erhob Berufung. Weil der Mann seit fast einem Jahr selbst für den Verteidiger nicht mehr erreichbar war und das Berufungsverfahren nicht weiter durchgeführt werden konnte, schrieb das Obergericht das Berufungsverfahren als erledigt ab. Dagegen erhob der Anwalt unter Berufung auf seine anwaltliche Sorgfaltspflicht Beschwerde ans Bundesgericht.
Ohne Erfolg. Das Vorgehen des Beschuldigten erweise sich als widersprüchlich und verstosse gegen Treu und Glauben. «Er kann nicht die Durchführung eines Berufungsverfahrens verlangen und gleichzeitig die Mitwirkung daran verweigern (BGE 148 IV 362, E. 1.9.2), indem er sogar für seinen Verteidiger unerreichbar bleibt.» Solches Verhalten verdiene keinen Rechtsschutz, so das Bundesgericht.
6B_1433/2022 vom 17.4.2023
Nach der Rechtsprechung stellt der Verbrauch von verbrecherisch erlangten Vermögenswerten eine tatbestandsmässige Geldwäschereihandlung dar. Durch den Verbrauch wird die Einziehung vereitelt. Andererseits gilt es der ratio legis des Geldwäschereitatbestandes Rechnung zu tragen. Diesem liegt – wie der Einziehung – der Leitgedanke zugrunde, dass sich strafbares Verhalten nicht lohnen darf.
Das Bundesgericht nahm in diesem Bereich nun eine Präzisierung der Rechtsprechung vor: Die Vernichtung von Vermögenswerten, die aus einem Verbrechen (oder einem qualifizierten Steuervergehen) stammen – man denke etwa an das Verbrennen von verbrecherisch erlangtem Bargeld oder das Verschrotten eines mit verbrecherisch erlangten Vermögenswerten als Surrogat erworbenen Oldtimers – erfüllt den objektiven Tatbestand der Geldwäscherei nicht.
6B_219/2021 und 6B_228/2021 vom 19.4.2023
Sozialversicherungsrecht
Ein 1959 geborener und seit Januar 2008 in der Schweiz wohnhafter Deutscher meldete sich von der Arbeitsvermittlung beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum ab. Er beantragte bei der Ausgleichskasse gleichzeitig die Ausrichtung von Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose. Die Kasse verneinte einen Anspruch auf solche Leistungen, weil die Mindestversicherungsdauer von zwanzig Jahren in der Schweiz nicht erreicht war.
Nach dem Obergericht des Kantons Appenzell Ausserrhoden hat nun auch das Bundesgericht das Vorgehen der Ausgleichskasse geschützt. Bei der Berechnung der Mindestversicherungsdauer für die Ausrichtung von Überbrückungsleistungen wird die in einem EU-Mitgliedstaat geleistete Beitragszeit nicht angerechnet, weil es keine Leistungen bei Arbeitslosigkeit im Sinne des europäischen Koordinationsrechts sind. Eine Verletzung des Völkerrechts liege nicht vor.
8C_670/2022 vom 25.5.2023