Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats-/Verwaltungsrecht
Gemäss Artikel 4 Absatz 1 des Opferhilfegesetzes (OHG) werden Leistungen der Opferhilfe nur endgültig gewährt, wenn der Täter oder die Täterin oder eine andere verpflichtete Person oder Institution keine oder keine genügende Leistung erbringen. In Auslegung dieser Bestimmung entschied das Bundesgericht, dass die Subsidiarität der Opferhilfe im Verhältnis zur unentgeltlichen Rechtspflege nicht greift. Daraus folgt: Ein Opfer, das Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege hat, diesen Anspruch aber im Strafverfahren nicht geltend macht, kann somit auch nachträglich bei der Opferhilfestelle den Antrag auf Übernahme der Anwaltskosten stellen.
1C_344/2022 und 1C_656/2022 vom 2.6.2023
Ein psychisch kranker, schuldunfähiger Straftäter musste ab Anordnung eines vorzeitigen Massnahmenvollzugs 17 Monate warten, bis er zum Antritt der Massnahme in eine dafür geeignete Anstalt – die Klinik Königsfelden – eintreten konnte. Angesichts des strukturellen Mangels an Therapieplätzen im Kanton Bern verbrachte er die 17 Monate vor allem in Regionalgefängnissen und in der Strafanstalt Thorberg. Er erhielt so keine spezifische, auf ihn bezogene delikt- und störungsorientierte Therapie.
Der Mann klagte gegen den Kanton Bern und forderte Schadenersatz und eine Genugtuung. Das Bundesgericht entschied, dass die rund 17-monatige Wartezeit und Organisationshaft gegen Artikel 5 Ziffer 1 litera e EMRK verstösst. Die Unterbringung des Mannes erweise sich in Teilen als rechtswidrig, was grundsätzlich einen Entschädigungsanspruch begründe.
2C_523/2021 vom 25.4.2023
2022 führte der Kanton Thurgau im kantonalen Volksschulgesetz eine vorschulische Sprachförderung ein. Gemäss Gesetzesvorlage kann von den Erziehungsberechtigten der betroffenen Kinder ein einkommensabhängiger Beitrag von maximal 800 Franken pro Jahr gefordert werden. Zudem sind die Erziehungsberechtigten für den Schulweg zum Förderangebot verantwortlich.
Weil mit der Gesetzesvorlage die (allgemeine) Schulpflicht auf die Kinder der betroffenen Altersgruppe ausgeweitet wird, sind die Regelungen zur Kostenbeteiligung sowie zum Schulweg nicht mit dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf unentgeltlichen Grundschulunterricht vereinbar. Eine Kostenbeteiligung der Erziehungsberechtigten ist unzulässig.
2C_402/2022 vom 31.7.2023
Zivilrecht
Wer im Rahmen einer Klage die Bezahlung eines Geldbetrags verlangt, muss diesen beziffern (Artikel 84 Absatz 2 ZPO). Ist es der klagenden Partei unmöglich oder unzumutbar, ihre Forderung bereits zu Beginn des Prozesses anzugeben, so kann sie eine unbezifferte Forderungsklage – mit einem Mindestwert als vorläufigem Streitwert – erheben. Die Forderung ist jedoch zu beziffern, sobald die klagende Partei nach Abschluss des Beweisverfahrens oder nach Auskunftserteilung durch die beklagte Partei dazu in der Lage ist (Artikel 85 Absatz 2 Satz 1 ZPO).
Im Schrifttum ist kontrovers, wie diese Bestimmung zu verstehen ist. Ein Teil der Doktrin verlangt, dass die Bezifferung effektiv so bald wie möglich, eventuell sogar vor Abschluss des Beweisverfahrens, zu erfolgen hat. Ein grosser Teil der Lehre schlägt vor, das Gericht solle dem Kläger nach Abschluss des Beweisverfahrens eine Frist zur Bezifferung ansetzen. In einem neuen Urteil war der genannten Bestimmung nach Meinung des Bundesgerichtes Genüge getan, obschon der Kläger seine Forderung erst im ersten Schlussvortrag beziffert hatte.
4A_145/2023 vom 3.7.2023
Strafrecht
Ein Mann war an der Landesgrenze mit 2,7 Gramm Marihuana sowie 0,6 Gramm Haschisch erwischt worden. Die St. Galler Justiz sprach ihn vom Vorwurf des Verstosses gegen das Betäubungsmittelgesetz frei, ordnete aber die Einziehung und Vernichtung des beschlagnahmten Cannabis an. Das Bundesgericht hat eine Beschwerde des Mannes gutgeheissen. Die Frage nach der Einziehbarkeit von Betäubungsmitteln im Zusammenhang mit Artikel 19b BetmG ist bis anhin höchstrichterlich nicht geklärt worden. In der Lehre sind die Meinungen gespalten.
Ab sofort gilt: Eine geringfügige und für den Eigenkonsum bestimmte Menge Cannabis – bis zu zehn Gramm – darf nicht gerichtlich zur Vernichtung eingezogen werden. Dafür fehlt es an einer Anlasstat, zumal der Erwerb und der Besitz einer geringfügigen Menge Cannabis zum Eigenkonsum legal sind. Dass zuvor mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit strafbare Handlungen von Drittpersonen begangen wurden, reicht für den Nachweis einer Anlasstat nicht aus.
6B_911/2021 vom 19.6.2023
Eine bedingte Strafe kann mit einer Busse verbunden werden (Artikel 42 Abs. 4 StGB). Eine Verbindungsbusse kommt in Betracht, wenn trotz Gewährung des bedingten Vollzugs einer Geld- oder Freiheitsstrafe in gewissen Fällen mit der Auferlegung einer zu bezahlenden Busse ein spürbarer Denkzettel verpasst werden soll. Die Verbindungsbusse darf aber nicht zu einer Straferhöhung führen oder eine zusätzliche Strafe ermöglichen.
Sie erlaubt lediglich innerhalb der schuldangemessenen Strafe eine täter- oder tatangemessene Sanktion – wobei die bedingte Hauptstrafe und die damit verbundene Busse in ihrer Summe schuldangemessen sein müssen. Die Verbindungsbusse darf höchstens einen Fünftel der in der Summe schuldangemessenen Sanktion, bestehend aus einer bedingt ausgesprochenen Hauptstrafe kombiniert mit einer Verbindungsbusse, betragen.
6B_337/2022 vom 12.7.2023
Nach Artikel 141 Absatz 2 StPO dürfen Beweise, die Strafbehörden in strafbarer Weise oder unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben haben, nicht verwertet werden, es sei denn, die Verwertung sei zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich. Die Bestimmung enthält eine Interessenabwägung: Je schwerer die zu beurteilende Straftat, desto eher überwiegt das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung das private Interesse der beschuldigten Person an einem korrekten Verfahren.
Tritt ein Gefängnisaufseher einem widerspenstigen Häftling mit hohem Aggressionspotenzial zwei Mal gegen den Körper und zwei Mal gegen den Kopf, nachdem der Gefangene bereits von sechs Personen zu Boden geführt und festgehalten wurde, liege ein Amtsmissbrauch vor, der als schwere Straftat einzustufen ist. Das öffentliche Interesse an der Aufklärung dieser Tat sei höher einzustufen als das private Interesse an der rechtskonformen Erhebung der Videoaufnahmen.
6B_1298/2022 vom 10.7.2023
Sozialversicherungsrecht
Das Amt für Sozialhilfe des Kantons Tessin hatte einem Mann die weitere Ausrichtung von Sozialhilfe gestrichen, weil er mehrfach eine psychiatrische Begutachtung verweigert hatte. Diese wäre nötig gewesen, um einen möglichen Anspruch auf eine IV-Rente zu klären. Laut kantonalem Recht, so die Behörde, darf keine Sozialhilfe ausgerichtet werden, wenn ein Anspruch auf Sozialversicherungsleistungen besteht. Das Bundesgericht hat eine dagegen eingereichte Beschwerde des Betroffenen teilweise gutgeheissen.
Gemäss Artikel 12 BV hat jede Person Anspruch auf Mittel für ein menschenwürdiges Dasein. Dieser Anspruch auf Nothilfe setzt voraus, dass sich die Person nicht selbst helfen kann und andere Hilfe nicht zur Verfügung steht. Zwar habe der Betroffene mit der Verweigerung der Begutachtung dazu beigetragen, dass keine Leistungen der IV geltend gemacht werden konnten. Aufgrund des Subsidiaritätsprinzips habe der Mann gleichwohl Anspruch auf den Notbedarf: Nahrung, Unterkunft, Kleidung und medizinische Grundversorgung.
8C_717/2022 vom 7.6.2023
Eine unfallversicherte Frau biss auf einen Stein, der sich in einem Salatbeutel befunden hatte. Sie begab sich deshalb in zahnärztliche Behandlung. Der Zahnarzt wechselte zunächst die Compositfüllung aus. Weil dies nicht den gewünschten Erfolg brachte, erfolgte später aufgrund des Verdachts auf eine Längsfraktur die Extraktion des Zahnes. Die Unfallversicherung verneinte ihre Leistungspflicht mangels Vorliegens eines natürlichen Kausalzusammenhanges zwischen dem Biss auf den Stein im Salat und dem geltend gemachten Zahnschaden.
In seinem Urteil erinnert das Bundesgericht daran, dass auch ein behandelter Zahn in der Regel für den normalen Kauakt durchaus funktionstüchtig sein kann. Daraus folgt: Wenn ein solcher Zahn einer plötzlichen, nicht beabsichtigten und aussergewöhnlichen Belastung nicht standhält, darf die Annahme eines Unfalles nicht mit der Begründung ausgeschlossen werden, ein völlig intakter Zahn hätte die Belastung überstanden. Der Fall geht zu weiteren Abklärungen an die Versicherung zurück.
8C_125/2023 vom 8.8.2023