Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats-/Verwaltungsrecht
- Ein Mann, der seit einiger Zeit Sozialhilfe bezog, beabsichtigte, mit seiner schwangeren Freundin zusammenzuziehen. Dies nahm der Sozialdienst zum Anlass, den Mann aufzufordern, Angaben zum Einkommen seiner Freundin zu machen, damit der Unterstützungsanspruch der ganzen Familie geklärt werden könne. Weil der Mann innert Frist keine Unterlagen einreichte, stellte der Sozialdienst die Zahlungen ein. Dies war nicht zulässig. Die Streichung der Sozialhilfe wegen fehlender Mitwirkung muss mittels eines formellen, anfechtbaren Entscheides erfolgen. Die Einstellung von Sozialhilfeleistungen darf angesichts der einschneidenden Wirkungen nicht formlos erfolgen.
8C_307/2022 vom 4.9.2023
- Die Migrationsbehörden verfügten gegen einen illegal eingereisten Marokkaner, gegen den Einreiseverbote in Italien und den Niederlanden bestanden, die Vorbereitungshaft im Dublin-Verfahren für sieben Wochen. Dabei gab er zu Protokoll, auf eine gerichtliche Überprüfung der Haft zu verzichten. Zwei Wochen später verlangte die Rechtsvertreterin des Marokkaners eine Überprüfung der Haft, was die Behörden ablehnten.
Dies war unzulässig. Die gerichtliche Überprüfung einer Haft, die nicht von einem Gericht angeordnet wurde, ist ein fundamentales Verfahrensrecht zum Schutz der persönlichen Freiheit. Dass der Mann auf eine Überprüfung durch Ankreuzen einer entsprechenden Frage verzichtete, heisst nicht, dass er dauerhaft auf das Recht verzichtet hat. Die Migrationsbehörden hätten auf das Gesuch der Haftüberprüfung eintreten müssen.
2C_457/2023 vom 15.9.2023
Zivilrecht
- Eine Erblasserin hatte ein eigenhändiges Testament geschrieben. Die Unterschrift fehlte auf dem Testament. In der Folge legte die Frau das Dokument in einen Umschlag, den sie von Hand mit dem Text «Testament» und persönlichen Angaben (Vor- und Nachname) beschriftete, und übergab den Umschlag dem Erbschaftsamt Basel-Stadt zwecks Aufbewahrung. Dem Bundesgericht stellte sich – einmal mehr – die Frage, ob die einleitende Selbstnennung und/oder der Name auf einem Umschlag dem Erfordernis der Unterschrift im Sinn von Artikel 505 Absatz 1 ZGB genügen.
Das Gericht erinnert daran, dass die Unterschrift erstens die Identität des Erblassers und zweitens die Vollendung der Verfügung und ihre Inkraftsetzung auf den Tod des Erblassers hin dokumentiert. Diese Funktion könne die Unterschrift jedoch nur erfüllen, wenn sie sich als Abschluss der letztwilligen Verfügung darstelle. Im konkreten Fall erfüllten die einleitende Selbstnennung und die Aufschrift auf dem Umschlag die Voraussetzungen nicht, um als Unterschrift im Sinne von Artikel 505 Absatz 1 ZGB zu gelten.
5A_133/2023 vom 19.7.2023
- Im Rahmen einer Forderungsklage am Bezirksgericht Winterthur waren alle in diesem Verfahren ergangenen Verfügungen vom leitenden Gerichtsschreiber als Ersatzrichter und Referent erlassen worden. Die Klägerin stellte in der Folge gegen den Gerichtsschreiber ein Ausstandsgesuch, das nun auch in Lausanne in letzter Instanz abgewiesen wurde. Dem Bundesgericht stellte sich die Frage, ob die verspätete Geltendmachung deshalb in den Hintergrund zu treten hat, weil der Gerichtsschreiber aufgrund neuerer Rechtsprechung des Bundesgerichts (zur Ausstandspraxis am Zürcher Obergericht BGE 149 I 14 und 1 B_519/2022 vom 1.11.2022) von sich aus in den Ausstand hätte treten müssen.
Zwar sind im konkreten Fall gewisse Parallelen zu den Präjudizien bezüglich der Ausstandsentscheide am Zürcher Obergericht erkennbar, indes ist nicht klar, ob diese zwingend dieselbe Beurteilung hinsichtlich der Mitwirkung des Gerichtsschreibers indizierten. Das Bundesgericht lässt durchblicken, dass es solche Doppelfunktionen bei Ausbleiben der erforderlichen organisationsrechtlichen Massnahmen künftig nicht mehr dulden wird.
4A_299/2023 vom 1.9.2023
Strafrecht
- Nachdem ein Motorradfahrer in flagranti auf einer Raserfahrt erwischt worden war, erfolgte eine Hausdurchsuchung durch die Polizei. Dabei beschlagnahmte sie eine Go-Pro-Kamera samt SD-Karte mit Videos, die den Sohn des Rasers bei der Begehung von diversen, teilweise gravierenden Strassenverkehrsdelikten mit einem Motorrad zeigten. Die Luzerner Justiz verurteilte daraufhin den Sohn gestützt auf diese Filme zu einer Freiheitsstrafe von 56 Monaten. Vor Bundesgericht argumentierte der Verurteilte, die Hausdurchsuchung bei seinem Vater stelle eine unzulässige Beweisausforschung dar, weshalb die auf der Go-Pro-Kamera vorhandenen Filme nicht verwertbar seien.
Das Bundesgericht folgte dieser Ansicht: Die Hausdurchsuchung sowie die Beschlagnahme der Go-Pro-Kamera und der SD-Karte waren unzulässig. Gestützt auf Artikel 141 Absatz 2 StPO ist die Verwertbarkeit der unzulässig erlangten Beweise jedoch für jene Delikte gegeben, die schwere Straftaten darstellen.
6B_821/2021 vom 6.9.2023
Sozialversicherungsrecht
- Es kommt immer wieder vor, dass Krankenkassen wegen wiederholter Unwirtschaftlichkeit gegen Ärzte klagen und Beträge zurückfordern, die zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung ausbezahlt worden sind. Nach bisheriger Praxis hatten die Kassen in solchen Fällen bei Obsiegen vor Gericht Anspruch auf Ersatz ihrer Parteikosten.
Davon ist das Bundesgericht nun abgewichen: Einerseits ist die Kontrolle der Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Praxistätigkeit stärker in das Bewusstsein der Krankenkassen gelangt und finden mehr Prozesse statt, andererseits kam es aufseiten der Krankenversicherer zu einem Konzentrationsprozess, der zu einer abnehmenden Zahl kleiner Krankenversicherer geführt hat. Die Praxis ist deshalb aufgrund der geänderten Verhältnisse anzupassen: Der unterliegende Arzt kann nicht mehr zur Übernahme der Anwaltskosten der Krankenversicherung verpflichtet werden.
9C_259/2023 vom 18.9.2023
- Eine teilinvalide Frau erhielt von ihrer Unfallversicherung seit mehreren Jahren nebst einer Invalidenrente auch die Kosten für eine Langzeit-Physiotherapie zum Erhalt der verbleibenden Erwerbsfähigkeit vergütet. Als die Frau das ordentliche Rentenalter erreichte, stellte die Unfallversicherung die Pflegeleistungen ein. Das Bundesgericht hat dieses Vorgehen der Versicherung gestützt auf Artikel 21 Absatz 1 Buchstabe c des UVG für unzulässig erklärt.
Der Wortlaut der Bestimmung und deren Entstehungsgeschichte und weitere Gründe sprechen gegen eine altersmässige Befristung der Leistungen für teilinvalide Rentenbezüger. Bei vollinvaliden Rentenbezügern werden Heilungskosten altersunabhängig durch die Unfallversicherung getragen. Damit bleibt die Unfallversicherung verpflichtet, die Kosten für eine Langzeitphysiotherapie zum Erhalt der Teilarbeitsfähigkeit bis auf weiteres zu übernehmen.
8C_620/2022 vom 21.9.2023