Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats-/Verwaltungsrecht
In der Lehre ist umstritten, wie gross der Adressatenkreis eines Newsletters sein darf, um als zulässige Werbung gemäss Artikel 12 litera d Anwaltsgesetz zu gelten. Eine Tessiner Kanzlei hatte an alle derzeitigen und früheren Mandanten einen Newsletter verschickt. Darin ging es um die aktuelle Entwicklung in verschiedenen Rechtsgebieten. Die kantonale Disziplinarkommission sanktionierte die Kanzleipartner wegen aufdringlicher und übertriebener Werbung mit je 600 Franken Disziplinarstrafe, das Verwaltungsgericht beliess es bei einer Verwarnung.
Das Bundesgericht bestätigte dieses Urteil mit einem Mehrheitsentscheid. Es hebt hervor, dass die Empfänger nicht in den Erhalt eingewilligt hatten. Zudem beschränkte sich der Newsletter nicht auf Informationen über die Kanzlei, sondern behandelte juristische Themen, die nichts mit den Gründen zu tun hatten, weshalb sich die Empfänger an die Kanzlei gewandt hatten. Die Informationen waren zu wenig gezielt und entsprachen nicht dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit.
2C_1006/2022 vom 28.11.2023
Das Staatssekretariat für Migration darf einem Kanton die Beiträge für Asylsuchende nicht wegen unterlassener Ausschaffung gemäss Dublin-Abkommen kürzen, wenn sich der Kanton auf entschuldbare Gründe berufen kann. In diesem Sinne hiess das Bundesgericht eine Beschwerde des Kantons Neuenburg gegen ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts gut. Der Kanton Neuenburg machte geltend, auf die Dublin-Überstellung des betroffenen Eritreers verzichtet zu haben, weil seine Partnerin schwanger war. Indem er die Trennung der Familie vermied, führte der Kanton Neuenburg eine rechtskonforme, den internationalen Verpflichtungen der Schweiz entsprechende Situation herbei.
2C_694/2022 vom 21.12.2023
Zivilrecht
Ein Vermieter muss bei angefochtenem Anfangsmietzins die Orts- und Quartierüblichkeit nicht mit mindestens fünf vergleichbaren Wohnungen im gleichen Quartier beweisen. Es genügt, wenn er «begründete Zweifel» daran weckt, dass die Erhöhung missbräuchlich ist. Die Kriterien dafür präzisierte das Bundesgericht anhand einer Zweizimmer-Altbauwohnung in Zürich, deren Nettomiete sich um 44 Prozent verteuert hatte. Die Zürcher Justiz ordnete eine Senkung von 1060 auf 855 Franken an. Grund: Dem Vermieter der 46 Quadratmeter grossen Wohnung in lärmiger Umgebung sei es nicht gelungen, die Vermutung der Missbräuchlichkeit zu erschüttern. Falsch, entschied das Bundesgericht.
Der Vermieter habe zwei, je nach Quartierabgrenzung vier, vergleichbare Wohnungen mit einer höheren Miete vorgelegt. Das genüge, denn an die Vergleichbarkeit sei «nicht der gleich strenge Massstab wie beim eigentlichen Nachweis der Orts- und Quartierüblichkeit anzulegen». Zweifel an der Missbräuchlichkeit weckten auch statistische Daten der Strukturerhebung 2006 sowie das lange Vormietverhältnis von rund zwanzig Jahren. Der Mieter hatte es versäumt, die Missbräuchlichkeit mit fünf Vergleichsobjekten nachzuweisen. Der Mietzins von 1060 Franken ist somit rechtens.
4A_121/2023 vom 29.11.2023
Es ist umstritten, bis zu welchem Zeitpunkt ein Aktionär gemäss Artikel 962 Absatz 2 Ziffer 1 Obligationenrecht verlangen kann, dass zusätzlich zur Jahresrechnung ein Abschluss nach einem anerkannten Standard zur Rechnungslegung erstellt wird. Ein solcher Abschluss soll es dem Minderheitsaktionär ermöglichen, den Wert seiner Beteiligung realistisch einzuschätzen. Das Bundesgericht wies die Beschwerde eines Minderheitsaktionärs gegen ein Urteil des Obergerichts Zug ab. Dieses entschied, der Antrag müsse spätestens sechs Monate vor Ablauf des Geschäftsjahrs gestellt werden. Gemäss Bundesgericht ist diese Lösung adäquat. So verbleiben bis zur Generalversammlung zwölf Monate, um die Umstellung vorzunehmen.
4A_369/2023 vom 18.1.2024
Strafrecht
Liegt die maximale Dauer einer stationären Massnahme unter zwei Dritteln der ausgefällten Strafzeit, so kommt sie gemäss bundesgerichtlicher Praxis nur ausnahmsweise in Frage. Dieses sogenannte Untermassverbot gilt auch für Massnahmen für junge Erwachsene nach Artikel 61 Strafgesetzbuch, wie das Bundesgericht im Falle eines 27-Jährigen präzisierte. Der Beschwerdeführer wurde wegen Betäubungsmittel- und Sexualdelikten zu 14,5 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Die Massnahme wäre an seinem dreissigsten Geburtstag aufzuheben.
Damit läge der Freiheitsentzug unter Einrechnung des vorzeitigen Strafvollzugs knapp zwei Jahre unter der Zweidrittelgrenze. Die Massnahme kommt somit nur in Betracht, wenn die Erfolgsaussichten besonders günstig sind oder ein Resozialisierungserfolg erwartet werden darf, der sich durch den Vollzug der Freiheitsstrafe mit ambulanter Behandlung nicht erreichen lässt. Beim 27-Jährigen fehlen solche Anzeichen.
6B_953/2023 vom 15.12.2023
Im April blitzte die Luzerner Polizei einen Motorradfahrer, der ausserorts mit 164 Stundenkilometern unterwegs war. Sie nahm ihn vorläufig fest und machte eine Hausdurchsuchung. Dabei fand sie eine Go-Pro-Kamera, auf der auch Töff-Raserfahrten seines Sohnes dokumentiert waren. Die Luzerner Justiz verurteilte den Sohn wegen mehrfacher qualifizierter grober Verletzung von Verkehrsregeln und weiterer Strassenverkehrsdelikte zu einer Freiheitsstrafe von 56,5 Monaten. Der Sohn forderte vor Bundesgericht einen Freispruch für seine Raserfahrten. Die Hausdurchsuchung sei eine unzulässige Fishing-Expedition gewesen, die Beweise seien daher nicht verwertbar. Das Bundesgericht gibt ihm im ersten Punkt recht.
Doch bei schweren Straftaten sind die Beweise gemäss Artikel 141 Absatz 2 Strafprozessordnung dennoch verwertbar. Qualifizierte grobe Verkehrsregelverletzungen sind schwere Straftaten. Zwei «nur» als grobe Verkehrsregelverletzung eingestufte Raserfahrten an gefährlicher Stelle stuft das Bundesgericht ebenfalls als schwere Straftaten ein. Für die übrigen mehrfachen groben Verkehrsregelverletzungen seien die Beweise entgegen der Vorinstanz jedoch nicht verwertbar.
6B_821/2021 vom 6.9.2023
Sozialversicherungsrecht
Das Bundesgericht beseitigt Unklarheiten beim versicherten Lohn von Angestellten mit einem Nebenerwerb. Der Fall betrifft einen 55-jährigen Mann aus dem Kanton St. Gallen, der 2012 in der Freizeit verunfallte. Die Zürich Versicherungen sprachen ihm aus der obligatorischen Unfallversicherung eine Teilinvalidenrente zu, die auf 113'000 Franken Jahreslohn basierte. Der Versicherte verlangte, es seien auch 25'000 Franken pro Jahr für seine nebenberufliche Dozententätigkeit einzurechnen. Das kantonale Versicherungsgericht gab ihm recht.
Das sehe Artikel 23 der Unfallversicherungsverordnung zwar nur bei Taggeldern ausdrücklich vor, diese Bestimmung sei aber auch bei Renten anzuwenden. Das Bundesgericht sieht es anders. Nach der Analyse des Willens des Gesetzgebers bei Mehrfachbeschäftigung und Nebenerwerb sowie Unfällen in der Freizeit und auf dem Arbeitsweg kommt es zum Schluss, dass der Nebenerwerb nicht zu berücksichtigen sei. Die unterschiedliche Berechnung des versicherten Lohns bei Taggeldern und Renten sei «nicht zu beanstanden».
8C_196/2023 vom 29.11.2023
Wenn ein Versicherter Beiträge für einen Rollstuhl und für Anpassungen am Auto beantragt, muss die Invalidenversicherung (IV) den Anspruch auf eine Hilflosigkeitsentschädigung von Amtes wegen prüfen. Das Bundesgericht sprach deshalb einem 35-jährigen Informatiker rückwirkend auf 2016 eine Hilflosenentschädigung leichten Grades zu.
Das entspricht dem Zeitpunkt, als er sich nach seiner Einreise in die Schweiz bei der Invalidenversicherung angemeldet hatte respektive der praxisgemässen fünfjährigen Nachzahlungsfrist ab dem Zeitpunkt der Neuanmeldung (BGE 121 V 195). Der Mann leidet seit einem Skiunfall mit 17 Jahren an einer inkompletten Paraplegie. Nach ständiger Rechtsprechung gilt eine Person, die auf den Rollstuhl angewiesen ist, in der alltäglichen Lebensverrichtung der Fortbewegung und Kontaktaufnahme als hilflos.
8C_103/2023 vom 6.12.2023
Die Stiftung Auffangeinrichtung BVG muss gemäss Artikel 47 Absatz 1 BVG Bauarbeiter, die mit 60 Jahren aus dem Beruf ausscheiden, für die freiwillige Weiterführung der Altersvorsorge aufnehmen, wenn ihre bisherige Pensionskasse diese Möglichkeit nicht anbietet. Das gilt allerdings nur dann, wenn der Vorsorgefall noch nicht eingetreten ist. Massgeblich ist dafür das Reglement der früheren Pensionskasse. Ob Leistungen der Stiftung flexibler Altersrücktritt im Bauhauptgewerbe bezogen werden, spielt hingegen keine Rolle. Das Bundesgericht hiess in diesem Sinne die Beschwerde eines 60-Jährigen gut, der im März 2019 von der Auffangeinrichtung nicht aufgenommen worden war.
Das Reglement seiner einstigen Kasse sah vor, dass ab Alter 58 die Freizügigkeitsleistung ausbezahlt wird, wenn ein Versicherter keine vorzeitige Pensionierung wünscht. Die Beschwerde eines gleichaltrigen Berufskollegen wies das Bundesgericht ab. Bei ihm sah das Reglement keine solche Auszahlung vor. Dass die Kasse die Austrittsleistung dennoch auszahlte, schafft keinen Freizügigkeitsfall, sondern ist als Frühpensionierung und damit als Eintritt des Vorsorgefalls einzustufen.
4C_430/2022 vom 16.11.2023
Fordert eine Pensionskasse von einem Arbeitgeber Sanierungsbeiträge, so kann sie mit einer Klage gemäss Artikel 73 BVG zwar an das kantonale Versicherungsgericht gelangen. Allerdings kann das Gericht die Rechtmässigkeit der Sanierungsmassnahmen an sich nicht überprüfen. Zuständig dafür sind die Aufsichtsbehörde und gegebenenfalls nachfolgende Rechtsmittelinstanzen. Erst wenn sie die Ausfinanzierungspflicht der Arbeitgeberin geklärt haben, kann das Gericht abschliessend urteilen. Im konkreten Fall erfolgte die Klage der Pensionskasse Basel-Stadt vor einer solchen Klärung und somit verfrüht.
Das Bundesgericht hiess deshalb die Beschwerde eines Arbeitgebers gut: Es hob das Urteil des Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt auf, das ihn zur Zahlung eines sofortigen Sanierungsbeitrags von 2,3 Millionen Franken an die Pensionskasse Basel-Stadt verpflichtet hatte. Der Arbeitgeber hatte die Rechtmässigkeit der Ausfinanzierungspflicht vorprozessual und im kantonalen Verfahren vergeblich bestritten. Die Pensionskasse habe Reserven von 36 Millionen Franken gebildet, die aus den vorgelegten Jahresrechnungen nicht ersichtlich seien. Die Pensionskasse entgegnete, diese Reserven seien für andere Vorsorgewerke gebildet worden.
9C_244/2021 vom 9.11.2023