Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats-/Verwaltungsrecht
Die Evangelisch-reformierte Kirche des Kantons Freiburg erhält im kantonalen Einwohnerregister keinen Zugang zur AHV-Nummer ihrer Mitglieder und zu 25 anderen Personenmerkmalen. Die Autonomie der Kirche ist dadurch nicht verletzt. Das Gesetz schränkt den Zugang zur AHV-Nummer in Artikel 153c Absatz 1 litera a AHVG bewusst ein. Die Nichtnennung der Kirchen ist keine Gesetzeslücke, so das Bundesgericht. Es schützt ein entsprechendes Urteil des Kantonsgerichts Freiburg, das der Kirche einzig den Zugang zum Zivilstandseintrag ihrer Mitglieder und bei Minderjährigen zu den Namen von Vater und Mutter zugestand.
1C_442/2023 vom 19.1.2024
Der Covid-19-Kredit einer juristischen Person gilt als Fremdkapital, wenn es um die Frage geht, ob dem Unternehmen eine Überschuldung droht. Die Ausgleichskasse war hingegen von Eigenkapital ausgegangen. Gestützt auf diese Berechnungsart verneinte sie einen Härtefall durch drohende Überschuldung. In der Folge lehnte sie es ab, einem Gastronomiebetrieb im Kanton Bern die Rückerstattung von 21'982 Franken unrechtmässig bezogenem Corona-Erwerbsersatz zu erlassen. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern ging wie das Bundesgericht von Fremdkapital aus, worauf die Kasse Beschwerde erhob. Nun muss die Ausgleichskasse die zweite Erlassvoraussetzung – Gutgläubigkeit – prüfen.
9C_202/2023 vom 21.12.2023
Eine ausländische Rente, die dem Charakter nach einer Rente der AHV oder der Pensionskasse entspricht, unterliegt in der Schweiz voll der Einkommenssteuer. Im konkreten Fall ist der reduzierte Satz von 40 Prozent für Leibrenten im Doppelbesteuerungsabkommen mit Deutschland nicht auf die Renten der Bayerischen Ärzteversorgung eines 1965 eingewanderten deutschen Ehepaars anwendbar. Entgegen der Ansicht des Zürcher Verwaltungsgerichts ist auch keine reduzierte Besteuerung gemäss Artikel 204 Absatz 1 des Abkommens angebracht.
9C_83/2023 vom 19.12.2023
Wer beim Kauf einer Eigentumswohnung dem Verkäufer einen zusätzlichen Betrag für den Anteil am Erneuerungsfonds zahlt, kann diese Summe in der Steuererklärung nicht als Liegenschaftenunterhalt abziehen. Mit diesem Entscheid hat das Bundesgericht eine seit längerem umstrittene Frage geklärt. Im konkreten Fall aus dem Kanton Bern gingen rund 9400 Franken an den Verkäufer. Das Geld, so das Bundesgericht in seinem Entscheid, «fliesst nicht dem Erneuerungsfonds zu und wird zu keinem Zeitpunkt für den Unterhalt des Grundstücks verwendet».
9C_391/2023 vom 5.1.2024
Die Prämien für die Krankentaggeldversicherungen von Angestellten im Gastgewerbe sind berufliche Gewinnungskosten. Sie können im Rahmen der Berufskostenpauschale von 3 Prozent des Nettolohns abgezogen werden, wobei der steuerpflichtigen Person der Nachweis höherer Kosten offensteht. Das Bundesgericht korrigiert damit einen Entscheid des Solothurner Steuergerichts. Obwohl im Gastgewerbe die Taggeldversicherung gemäss Landesmantelvertrag obligatorisch ist, wollte es für die fraglichen 390 Franken nur den Abzug über die Versicherungspauschale zulassen, die keinen Nachweis höherer Kosten zulässt.
9C_732/2022 vom 18.12.2023
Zivilrecht
Nach einer Scheidung ist die alternierende Obhut nur bei gemeinsamer elterlicher Sorge möglich. In diesem Sinn heisst das Bundesgericht die Beschwerde eines 59-jährigen Vaters gut. Er wehrte sich dagegen, dass die Zürcher Justiz der wechselnden Betreuung der beiden Kinder zugestimmt, die elterliche Sorge aber allein der 39-jährigen Mutter übertragen hatte. Eine solche Regelung ist gesetzeswidrig. Weil es dem Bundesgericht nicht gerechtfertigt erscheint, ohne weiteres die gemeinsame elterliche Sorge anzuordnen, geht der Fall mit Hinweis auf BGE 141 III 472 an die Vorinstanz zurück. Sie soll prüfen, ob es sich allenfalls in Teilbereichen rechtfertigt, einem Elternteil alleinige Entscheidbefugnisse zu gewähren.
5A_33/2023 vom 20.12.2023
Einen Antrag auf Verlängerung der definitiven Nachlassstundung kann nur der Sachwalter stellen. Der Schuldner oder die Gläubiger sind dazu nicht befugt. Entgegen der Ansicht der beschwerdeführenden Organe der ausserrhodischen Schuldnerfirma ist beim entsprechenden Artikel 295b Absatz 1 SchKG keine Gesetzeslücke zu füllen. Die definitive Stundung ist ein Provisorium, das unter einem gesetzlich gewollten Zeitdruck steht. Die Gläubiger werden relativ lange hingehalten, ohne zu wissen, wie die finanziellen Verhältnisse des Schuldners konkret aussehen.
5A_169/2023, 5A_172/2023 vom 12.1.2024
Steigert der betreuende Elternteil sein Einkommen stärker, als es das Schulstufenmodell verlangt, wirkt sich das aufgrund der Berechnungsmethode unmittelbar auf die Höhe des geschuldeten Betreuungsunterhalts aus. Ist die Einkommensdifferenz wesentlich, darf eine Abänderung der Unterhaltspflicht entgegen der Vorinstanz nicht prinzipiell ausgeschlossen werden. Das Zürcher Obergericht hatte argumentiert, bei einer sofortigen Anrechnung des Mehrverdienstes profitiere allein der Vater. Es muss nun prüfen, ob die Mutter ihr familienrechtliches Existenzminimum in erheblich grösserem Umfang als zuvor decken kann, und gegebenenfalls den Unterhalt nach der zweistufig-konkreten Methode mit Überschussverteilung neu berechnen.
5A_176/2023 vom 9.2.2024
Strafrecht
Der seit Anfang 2024 geltende Artikel 221 Absatz 1bis StPO erhöht die Hürden nicht, um bei Beschuldigten ohne Vortaten ausnahmsweise Untersuchungs- und Sicherheitshaft anzuordnen. Die bisherige Praxis verlangte zwar nicht wörtlich eine ernsthafte, unmittelbare Gefahr zur Begehung eines schweren Verbrechens, «es bestand aber in diesem Sinne schon altrechtlich eine restriktive Haftpraxis». Vorausgesetzt war ein untragbar hohes Risiko. Wie bislang kann bei ernsthaft drohenden schweren Gewaltverbrechen keine sehr hohe Eintretenswahrscheinlichkeit verlangt werden.
7B_155/2024 vom 5.3.2024
Nach einer Verurteilung der Schweiz durch den EGMR wegen einer unrechtmässig ausgesprochenen nachträglichen Verwahrung (plädoyer 6/2021, Seite 72) erhält der Betroffene in der Schweiz keine Entschädigung für zehn Jahre unrechtmässigen Freiheitsentzug. In Strassburg waren ihm 40'000 Euro plus 8000 Euro Kostenersatz zugesprochen worden. Laut EGMR kann ein Vertragsstaat eine weitere Entschädigung gewähren. Gemäss Bundesgericht fehlt dafür in der Schweiz eine innerstaatliche Rechtsgrundlage. Der unrechtmässig Verwahrte forderte eine Genugtuung nicht unter 500'000 Franken.
7B_800/2023 vom 18.23.2023
Ein Häftling hat Anrecht auf Besuche in einer Intimzelle, wenn er eine vor Strafantritt bestehende stabile Paarbeziehung nachweisen kann. Begann die Beziehung nach Strafantritt, muss sie mindestens sechs Monate bestehen. Die entsprechende Regelung der Waadtländer Strafvollzugsbehörden verstösst nicht gegen die garantierte Achtung des Privat- und Familienlebens.
7B_471/2023 vom 3.1.2024
Sozialversicherungsrecht
Bei Ergänzungsleistungen zur IV-Rente ist der AHV/IV/EO-Mindestbeitrag für Nichterwerbstätige als anerkannte Ausgabe zu berücksichtigen. Entgegen der Ansicht des Schaffhauser Obergerichts geht es nicht an, den effektiv geleisteten Beitrag gänzlich ausser Acht zu lassen, indem das hypothetische Einkommen nach Artikel 14a Absatz 2 ELV als Nettoeinkommen eingestuft wird. Soweit die einschlägige Wegleitung des Bundesamts für Sozialversicherung anders interpretiert werden muss, verstösst sie gegen zwingendes Bundesrecht (Artikel 10 Absatz 3 litera c ELG).
9C_482/2022 vom 31.1.2024
Sozialhilfebezüger können nicht generell dazu verpflichtet werden, sich Freizügigkeitsguthaben vorzeitig mit 60 Jahren auszahlen zu lassen. Eine solche Verpflichtung ist unverhältnismässig, wenn das Geld bereits vor dem frühestmöglichen AHV-Bezug mit 63 Jahren aufgebraucht wäre und dann ein Rückfall in die Sozialhilfe droht. Im vorliegenden Baselbieter Fall mit einem Freizügigkeitskapital von 105'000 Franken gewichtet das Bundesgericht den Vorsorgeschutz stärker als das Subsidaritätsprinzip in der Sozialhilfe. Anders verhält es sich bei deutlich höheren Freizügigkeitsgeldern. Weil Ergänzungsleistungen erst bei einem Reinvermögen von weniger als 100'000 Franken einsetzen, müsste das Vorsorgekapital ohnehin bis unter diese Schwelle aufgebraucht werden.
8C_333/2023 vom 1.2.2024