Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats-/Verwaltungsrecht
Ein Anspruch auf Soforthilfe im Rahmen der Opferhilfe ist schon bei Anhaltspunkten für eine erhebliche Beeinträchtigung der psychischen Integrität gegeben. «Im Zweifelsfall ist eine dringliche opferhilferechtliche Leistung zu erbringen», betont das Bundesgericht angesichts einer Kosovarin aus dem Kanton Luzern, die nach wiederholten Nötigungen durch ihren Ehemann mit den beiden Kindern ins Frauenhaus flüchtete.
Die kantonale Opferberatungsstelle und das Luzerner Kantonsgericht hatten eine Kostengutsprache für eine Notunterkunft abgelehnt. Eine hinreichend schwere psychische Beeinträchtigung und der Kausalzusammenhang zwischen Straftat und Integritätsverletzung seien nicht hinreichend nachgewiesen. Das reduzierte Beweismass der Glaubhaftmachung gilt gemäss Bundesgericht auch beim Kausalzusammenhang.
1C_653/2022 vom 3.6.2024
Gemeinden dürfen kommerzielle Plakatwerbung verbieten, die von öffentlichem Grund aus sichtbar ist – auch wenn die Plakate auf privatem Grund stehen. Ein entsprechendes Reglement der Genfer Gemeinde Vernier führte zur Demontage von 132 der bisher 172 Plakatwände. Das Verbot stellt laut Bundesgericht keinen unzulässigen Grundrechtseingriff dar. Es handelt sich nicht um eine nach Artikel 94 Bundesverfassung verbotene wirtschaftspolitische Massnahme.
Vielmehr geht es darum, das Ortsbild zu schützen, die Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum zu verbessern und die visuelle Verschmutzung zu bekämpfen, mithin um umwelt- und sozialpolitische Zielsetzungen im öffentlichen Interesse. Die Einschränkung ist verhältnismässig, weil damit eine Umgehung des Verbots kommerzieller Plakatwerbung auf öffentlichem Grund verhindert werden kann.
2C_36/2023 und 2C_38/2023 vom 5.6.2024
In den Kantonen Jura, Neuenburg und Waadt und im Berner Jura muss die Ausbildungsdauer bis zur Matura an die übrigen Kantone angeglichen und von drei auf vier Jahre erhöht werden. Die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektionen (EDK) sieht dafür eine Übergangsfrist bis zum Jahr 2038 vor. Eine Beschwerde von Privaten aus dem Kanton Waadt gegen das neue EDK-Reglement über die Anerkennung von gymnasialen Maturitätszeugnissen weist das Bundesgericht ab. Die Delegationsnorm der von den kantonalen Parlamenten oder vom Volk gebilligten interkantonalen Vereinbarung über die Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen ist ausreichend.
2C_456/2023 vom 23.7.2024
Die Signalisation eines Tempolimits muss auch dann beachtet werden, wenn eine rechtmässige Publikation ausblieb. Ob eine Missachtung der signalisierten Höchstgeschwindigkeit andere Personen tatsächlich gefährdet, ist unerheblich. Das Bundesgericht weist deshalb die Beschwerde eines Autofahrers gegen drei Monate Fahrausweisentzug durch die Graubündner Behörden ab. Der Mann war bei einer mit Tempo 80 signalisierten Baustelle auf der Walensee-Autobahn 40 km/h zu schnell unterwegs.
Die St. Galler Staatsanwaltschaft hatte zuvor die Sanktion (30 Tagessätze und 1920 Franken Busse) auf seine Einsprache hin auf eine Busse von 500 Franken reduziert. Zur Begründung führte die Staatsanwaltschaft an, die Temporeduktion von 100 km/h auf 80 km/h bei der Autobahnbaustelle sei nicht ordnungsgemäss veröffentlicht worden und deshalb nichtig.
1C_539/2022 vom 23.5.2024
Veranlagungen nach Ermessen durch die Steuerbehörde müssen der Wirklichkeit und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen möglichst nahekommen. Die Steuerverwaltung des Kantons Bern entschied «in grobem Widerspruch zur gesetzlichen Ordnung sowie auf Kollisionskurs mit mehreren grund- und menschenrechtlichen Prinzipien», als sie eine Ermessensentscheidung nicht korrigierte, obwohl Pfändungsurkunden zeigten, dass die Veranlagung deutlich zu hoch war. Im Gegenteil: Die Steuerbehörde erhöhte ihre Schätzungen für die Folgejahre sogar noch. Für das Bundesgericht ist offensichtlich, dass die Behörde unzulässigerweise beabsichtigte, das betroffene Ehepaar dafür zu bestrafen, dass es keine Steuerklärung eingereicht hatte. Die Veranlagungsverfügungen sind deshalb nichtig.
9C_673/2023 vom 19.8.2024
Zivilrecht
Ein von der Kindesschutzbehörde genehmigter Vertrag über eine Unterhaltsrente, die dem Kind über die Mündigkeit hinaus bis zum Ende der beruflichen Ausbildung zu bezahlen ist, kommt zwar grundsätzlich als definitiver Rechtsöffnungstitel in Betracht. Ist aber aufgrund der Formulierung im Vertrag ungewiss, ob der Unterhalt nach dem Abschluss einer Ausbildung als Bauzeichner auch für ein nachfolgendes Architekturstudium zu zahlen ist, muss die Rechtsöffnung verweigert werden. Das Glarner Obergericht ging über seine Kognition als Rechtsöffnungsgericht hinaus, als es den Vertrag interpretierte und Rechtsöffnung bewilligte.
4A_151/2024 vom 22.8.2024
Weist das Bundesgericht den Fall eines Sorgerechtsstreits der Eltern in Trennung an die Vorinstanz zurück, so hat diese die Entscheidgrundlagen gemäss Artikel 296 Absatz 1 Zivilprozessordnung zu aktualisieren. Dabei hat sie zumindest (kurz) zu prüfen, ob sich wesentliche Änderungen ergeben haben, bevor sie ein neues Urteil fällt. Indem das Zürcher Obergericht nach der Rückweisung (BGE 150 III 97) auf einen weit über ein Jahr alten Sachverhalt abstellte, hat es den Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör verletzt. Das geht laut Bundesgericht wegen der Möglichkeit zulässiger Noven in Kinderbelangen, in denen sich die Verhältnisse schnell verändern können, «auch im Ergebnis nicht an». Es weist den Fall erneut zurück.
5A_178/2024 vom 20.8.2024
Renten von AHV, IV, Ergänzungsleistungen und Familienzulagen sind unpfändbar – selbst wenn sie das Existenzminimum übersteigen. Werden aber solche Sozialversicherungsleistungen nicht zur Bestreitung des Lebensunterhalts verbraucht, sondern gespart, können sie gepfändet werden. Das gilt auch, wenn das Geld auf einem Bankkonto liegt, auf das einzig AHV-Renten und Ergänzungsleistungen fliessen. Das Bundesgericht weist die Beschwerde eines Ergänzungsleistungsbezügers aus dem Aargau ab, dem ein gesparter Betrag von 10 351 Franken auf einem solchen Konto gepfändet wurde.
5A_253/2024 vom 2.8.2024
Nicht nur beim Anfangsmietzins, sondern auch bei einer Mietzinserhöhung nach wertvermehrenden Investitionen kommt der mit BGE 147 III 14 vor vier Jahren eingeführte höhere zulässige Nettoertrag zum Zug. Die neue Praxis erlaubt – statt zuvor 0,5 Prozent – einen Nettoertrag von 2 Prozent über dem Referenzzinssatz, solange der Referenzzinssatz 2 Prozent oder weniger beträgt. Im konkreten Fall gestand das Bundesgericht einer Genfer Vermieterin zu, durch Anrechnung der Hälfte der Renovationskosten den monatlichen Nettomietzins für eine Fünfzimmerwohnung von 905 auf 1117 Franken zu erhöhen statt nur auf 985 Franken.
4A_75/2022 vom 30.7.2024
Strafrecht
Von einem Anwaltsbüro ausgewertete interne Unterlagen der Credit Suisse Group zu hängigen und drohenden Rechtsfällen im Zusammenhang mit dem Greensill-Fonds unterliegen dem Anwaltsgeheimnis. Sie haben den Geheimnischarakter nicht verloren, weil die UBS sie gegenüber der Finanzmarktaufsicht offengelegt hat. Das Bundesgericht lehnt deshalb die Beschwerde der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft gegen die vom Zwangsmassnahmengericht verweigerte Entsiegelung ab. Die Staatsanwaltschaft führt eine Strafuntersuchung aufgrund des Verdachts von unrichtigen oder irreführenden Angaben durch fünf ehemalige CS-Mitarbeiter gegenüber Anlegern.
7B_158/2023 vom 6.8.2024
Das Bundesgericht hat die Frage geklärt, in welchem Ausmass angebrochene Tage der Untersuchungshaft an eine Strafe angerechnet werden. Ein Straftäter aus dem Kanton Bern, der zwei Mal verhaftet und am Folgetag freigelassen wurde, verlangte die Anrechnung von vier statt nur zwei Tagen Untersuchungshaft. Gemäss Urteil zählt ein Bruchteil eines Hafttags grundsätzlich als voller anzurechnender Tag. Wenn sich die Untersuchungshaft jedoch über zwei aufeinanderfolgende Kalendertage erstreckt, muss sie länger als 24 Stunden gedauert haben, damit zwei Hafttage angerechnet werden.
6B_1100/2023 vom 8.7.2024
Sozialversicherungsrecht
Steckt sich eine im Spital angestellte Psychologin mit dem Coronavirus an, so handelt es sich nicht um eine Berufskrankheit, die von der obligatorischen Unfallversicherung des Arbeitgebers zu tragen wäre. Die Psychologin war im Aargauer Spital nicht mit der Pflege von Patienten betraut und damit nicht dem spezifischen Ansteckungsrisiko ausgesetzt. Dass sie beim Mittagessen mit Pflegekräften und Ärzten in Kontakt kam, vermag keine natürliche Vermutung einer berufsbedingten Ansteckung zu begründen.
8C_582/2022 vom 12.7.2024
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) darf bei der Überprüfung eines Medikaments auf der Spezialitätenliste, dessen Patent abgelaufen ist, keinen Preisvergleich mit Generika anstellen. Zum Vergleich sind nur Originalmedikamente mit abgelaufenem Patent zulässig. Das Bundesgericht weist die Beschwerde des BAG gegen ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Prostatamittel Duodart von Glaxo Smith Kline ab. Dass Duodart ein Kombinationspräparat aus zwei Wirkstoffen ist und gemäss dem Bundesamt keinen therapeutischen Fortschritt gegenüber dem Vorgängerprodukt aufweist, ist unerheblich.
9C_726/2023 vom 16.7.2024
Artikel 26bis Absatz 3 der vom Bundesrat mit dem Übergang zum stufenlosen Rentensystem von 2022 erlassenen Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV) zur Bestimmung des Invaliditätsgrads ist bundesrechtswidrig. Denn er eliminiert die bisherigen Korrekturfaktoren beim massgebenden Tabellenlohn gemäss Lohnstrukturerhebung bis auf einen einzigen. Das genügt nicht, um den unterschiedlichen Konstellationen gerecht zu werden.
So kann etwa dem Alter oder der Dauer der Betriebszugehörigkeit nicht Rechnung getragen werden, obwohl das Gesetz die Bemessung des Invaliditätsgrads ausdrücklich nicht verändern wollte. Die Verordnungsbestimmung darf nicht angewendet werden, und es ist auf die bisherige Praxis zurückzugreifen. Das Bundesgericht schützt ein entsprechendes Urteil des Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt, das einem Bauhilfsarbeiter eine Invalidenrente von 59 Prozent statt nur 57 Prozent zuspricht.
8C_823/2023 vom 8.7.2024