Staats-/Verwaltungsrecht
Gerichte handeln bei Personalgeschäften nicht in richterlicher Unabhängigkeit, sondern als Verwaltungsbehörde in eigener Sache im Rahmen der Justizverwaltung. Dafür ist eine kantonale Möglichkeit zum Weiterzug an eine unabhängige gerichtliche Instanz erforderlich.
Das Bundesgericht überweist deshalb die Beschwerde eines Zürcher Bezirksrichters gegen seine Einstufung in die Lohnklasse 25 durch das Obergericht zur Behandlung an das Zürcher Verwaltungsgericht, obschon Paragraf 42 litera c Ziffer 1 Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich das Verwaltungsgericht bei Anordnungen anderer oberster kantonaler Gerichte als nicht zuständig bezeichnet. Der Richter beantragt, er sei als Vizepräsident, Arbeitsgerichtspräsident und Abteilungsvorsitzender in Klasse 26 (Jahresgehalt zu 100 Prozent: 176 528 Franken) einzuteilen.
1C_668/2023 vom 22.8.2024
Die Verweigerung einer vom «Strike WEF Kollektiv» beantragten Kundgebungsbewilligung für eine zweitägige «Winterwanderung für Klimagerechtigkeit» entlang der Kantonsstrasse und die Verschiebung der kompletten Route auf abgelegene Wanderwege und Nebenstrassen war unverhältnismässig. Die damit verbundene Einschränkung der Appellwirkung verletzt die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit. Die Gemeinden Klosters, Küblis und Davos sowie das kantonale Tiefbauamt hätten eine zeitweise oder abschnittsweise Sperrung der Kantonsstrasse prüfen müssen.
1C_28/2024, 1C_32/2024, 1C_33/2024 und 1C_34/2024 vom 8.10.2024
Zivilrecht
Das Bundesgericht unterstreicht im Fall eines vierjährigen Kinds, dass der Weiterführung persönlicher Beziehungen in sensiblen familiären Konstellationen gemäss Artikel 274a Zivilgesetzbuch ein hoher Stellenwert zukommt, wenn das Kindswohl dies verlangt. Die Eltern hatten sich noch vor Geburt ihres Sohns getrennt. Die Mutter zog ins Wallis zu ihrer Familie, der Vater blieb im Kanton Freiburg.
Als die Mutter an Krebs starb, übertrug die Kindesschutzbehörde das Sorgerecht auf den Vater. Sie beschloss, dass der vierjährige Bub jedes zweite Wochenende und die Hälfte der Ferien beim Grossvater und bei seiner 24-jährigen Tante mütterlicherseits verbringen soll, die ihn während der Erkrankung seiner Mutter betreut hatten. Der Vater wollte das Kontaktrecht auf neun Stunden alle sechs Wochen beschränken, unterlag aber.
5A_359/2024 vom 14.10.2024
Wer eine betriebene Forderung erst nach Erhalt des Zahlungsbefehls zahlt, kann die Bekanntgabe nicht mit einem Gesuch um Nichtbekanntgabe ungerechtfertigter Betreibungen gemäss Artikel 8a Absatz 3 litera d Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs verhindern. Ungeregelt blieb im Gesetz und im einschlägigen BGE 147 III 486 aber, wie es sich bei einer Zahlung verhält, die in der Zeit zwischen der Einreichung des Betreibungsbegehrens und der Zustellung des Zahlungsbefehls erfolgt. Das Bundesgericht hat nun in einem Solothurner Fall entschieden, dass einzig das Datum der Zustellung des Zahlungsbefehls massgeblich ist. Ist die Forderung vorher bezahlt worden, kann die Nichtbekanntgabe verlangt werden.
5A_245/2024 vom 29.8.2024
Strafrecht
Es ist nicht zu beanstanden, wenn das Zürcher Obergericht in seiner Berufungsverhandlung bei einem erstinstanzlich vom Jugendgericht beurteilten, heute 23-jährigen Gewalt- und Sexualstraftäter den akkreditierten Medienschaffenden einen teilweisen Zutritt gewährt (Einvernahme und Urteilseröffnung). Zum einen ist der Beschuldigte längst erwachsen, zum andern hatte es schon die Vorinstanz bei ihrer Verhandlung mit Blick auf das öffentliche Interesse gestützt auf Artikel 14 Absatz 2 litera a Jugenstrafprozessordnung so gehandhabt.
7B_727/2024 vom 11.10.2024
Bei einer Zweiteilung der Berufungsverhandlung – zuerst Tat- und Schuldfrage, dann die Folgen des Schuld- oder Freispruchs – gilt die zweite Verfahrensphase nicht als selbständige Hauptverhandlung. Entfällt ein Richter für die zweite Phase, muss somit gemäss Artikel 335 Absatz 2 Strafprozessordnung der erste Teil der Berufungsverhandlung wiederholt werden.
Entgegen der Ansicht des Thurgauer Obergerichts reicht es nicht aus, dass alle Verfahrenshandlungen und Parteiäusserungen protokolliert wurden, sich die eingewechselte Obergerichtspräsidentin in den Fall einlesen konnte und der Beschuldigte im zweiten Teil nochmals befragt wurde. Nur wenn die Parteien einverstanden sind, kann eine Wiederholung entfallen.
6B_460/2024 und 6B_508/2024 vom 13.9.2024
Das Bundesgericht präzisiert bei Raserdelikten die neue Regelung zur Mindeststrafe von Ersttätern gemäss Artikel 90 Absatz 3ter Strassenverkehrsgesetz. Entgegen der Ansicht der Tessiner Staatsanwaltschaft müssen nicht besonders günstige Umstände vorliegen, damit eine bedingte Geldstrafe statt der bedingten Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr ausgesprochen werden kann.
Es genügt, wenn der Täter zuvor nicht wegen entsprechender Verkehrsdelikte verurteilt wurde. Die Verurteilung durch das Tessiner Appellationsgericht zu einer bedingten Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu 240 Franken und 1000 Franken Busse ist somit nicht zu beanstanden. Konkret ging es um einen Raser, der auf der Autobahn das Tempolimit von 100 km/h um 88 km/h überschritten hatte
6B_1379/2023 vom 11.9.2024
Die Strafprozessordnung verlangt, dass eine Beschlagnahme schriftlich anzuordnen oder zumindest zu bestätigen ist (Artikel 263 Absatz 2). Erst nach Vorliegen der schriftlichen Bestätigung beginnt die zehntägige Beschwerdefrist zu laufen. Das Bundesgericht stuft das Schrifterfordernis im Fall von 175 Hanfsetzlingen, die am Grenzübergang Au SG bei der Einreise in die Schweiz beschlagnahmt wurden, als Gültigkeitsvorschrift ein. Die nur mündliche Anordnung steht im Widerspruch zur Dokumentationspflicht der Behörden und zum Anspruch auf rechtliches Gehör des Beschuldigten. Die Hanfpflanzen sowie deren Analyse durch den forensisch-naturwissenschaftlichen Dienst der Kantonspolizei St. Gallen sind nicht verwertbar.
7B_455/2023 vom 3.10.2024
Die Kompetenz des Einzelrichters liegt gemäss Schweizerischer Strafprozessordnung bei maximal zwei Jahren Freiheitsstrafe, die meisten Kantone kennen eine tiefere Grenze. Nun hat das Bundesgericht die umstrittene Frage geklärt, ob Geldstrafen eingerechnet werden müssen. Letzteres forderte die Verteidigerin eines Betäubungsmitteldelinquenten, den das Berner Regionalgericht Emmental-Oberaargau (Einzelgericht) zu 23 Monaten bedingt, einer bedingten Geldstrafe von 100 Tagessätzen sowie sechs Jahren Landesverweisung verurteilt hatte.
Sie berief sich auf Lehrmeinungen und einen entsprechenden Beschluss des Zürcher Obergerichts (SB 210 491 O vom 30. Mai 2022). Das Bundesgericht entschied sich in Anbetracht der Entstehungsgeschichte und des Wortlauts von Artikel 19 Absatz 2 litera b Strafprozessordnung aber dafür, Geldstrafen nicht einzurechnen.
6B_1377/2023 vom 4.9.2024
Das Stadtrichteramt Zürich verhängte per Strafbefehl eine Busse von 400 Franken wegen eines Verstosses gegen die Covid-19-Verordnung internationaler Personenverkehr. Auf Einsprache hin hob es die Busse auf, verweigerte aber die beantragte Entschädigung von 298 Franken für die Kosten des Verteidigers, der die Einsprache verfasst hatte. Das Obergericht trat mit Blick auf Artikel 429 Absatz 3 Strafprozessordnung auf eine Beschwerde dagegen nicht ein, weil sie zwar vom Verteidiger verfasst, aber im Namen des Beschuldigten eingereicht worden sei. Gemäss Bundesgericht interpretierte die Vorinstanz die fragliche Bestimmung falsch. Die Wahlverteidigung erhalte damit nicht die ausschliessliche, sondern eine zusätzliche Befugnis zur Anfechtung des Entscheids über ihre Entschädigung.
7B_654/2024 vom 1.10.2024
Sozialversicherungsrecht
Krankenkassen dürfen in der Grundversicherung in Ausnahmefällen auch beim Standardmodell mit freier Arztwahl eine Erstanlaufstelle einsetzen, die den Zugang zu ärztlichen Leistungen mit einer schriftlichen Überweisung genehmigt – vergleichbar mit den Regelungen in einem Hausarztmodell. Das Bundesgericht weist die Einsprache einer 49-jährigen Frau aus dem Kanton Aargau gegen eine entsprechende Verfügung der Helsana ab.
Die Frau leidet gemäss psychiatrischem Gutachten an einer sogenannten artifiziellen Störung, die eine Vortäuschung oder Übertreibung von Krankheitssymptomen zur Folge hat. Gemäss Urteil nahm sie unkoordiniert ärztliche Leistungen in Anspruch, die sich insgesamt als unwirksam und unzweckmässig erwiesen.
9C_340/2024 vom 4.10.2024
Schuldet eine Pensionskasse Verzugszins, so ist für dessen Höhe das Reglement massgebend. Fehlt dort eine Regelung, kommt der obligationenrechtliche Verzugszins von 5 Prozent zum Zug. Im vorliegenden Fall bestimmt das Reglement der Auffangeinrichtung BVG, dass der Verzugszins dem BVG-Mindestzinssatz entspreche. Die Auffangeinrichtung wehrte sich aber gegen einen Verzugszins von 1,75 Prozent, den das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt mit Blick auf den Zeitpunkt des Rentenbeginns im Jahr 2014 festlegte. Das Bundesgericht gibt der Pensionskasse recht. Relevant ist der Verzugsbeginn, also der Zeitpunkt der Einreichung der Klage. Somit ist bis Ende 2023 ein Verzugszins von 1 Prozent geschuldet, ab Anfang 2024 von 1,25 Prozent.
9C_325/2024 vom 24.10.2024
Bisher berechtigte die Adipositas (starkes Übergewicht) nur dann zu einer Rente der Invalidenversicherung (IV), wenn sie eine Folge von körperlichen oder geistigen Gesundheitsschäden war oder solche Schäden bewirkte. Letztlich ging diese Praxis davon aus, dass Adipositas willentlich überwindbar sei. Nachdem das Bundesgericht die Überwindbarkeitspraxis bei leichten und mittelschweren Depressionen und bei Suchtkrankheiten anpasste, geschieht dies nun auch bei Adipositas. Damit steht die grundsätzliche Behandelbarkeit von Adipositas einem Rentenanspruch nicht mehr per se entgegen.
Vielmehr ist im Einzelfall zu ermitteln, inwiefern sich die Krankheit auf die Arbeitsfähigkeit auswirkt. Als Folge der Pflicht zur Schadenminderung sind aber zumutbare Diäten oder medikamentöse, Bewegungs- und Verhaltenstherapien zu unternehmen. Im konkreten Fall hiess das Bundesgericht die Beschwerde einer Frau mit einem Bodymassindex von 58 teilweise gut, die eine Rente gefordert hatte. Die IV-Stelle des Kantons Aargau muss den Fall neu prüfen.
9C_340/2024 vom 4.10.2024