Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats-/Verwaltungsrecht
Die von Unternehmen eingezogene Abgabe für Radio und Fernsehen ist verfassungswidrig. Der degressive Tarif verstösst gegen die Grundsätze der Gleichmässigkeit der Besteuerung und der Besteuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit gemäss Artikel 127 Absatz 2 Bundesverfassung. Die einzelnen Tarifstufen stehen in keinem vernünftigen Verhältnis zueinander.
Das Bundesgericht bestätigt ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts im Fall eines Metallhändlers, der die Gebührenrechnung der Eidgenössischen Steuerverwaltung über 2505 Franken für ein Jahr anfocht. Das Zuger Unternehmen sieht sich benachteiligt, weil es im Verhältnis zum Umsatz dreimal mehr zahlen muss als umsatzstärkere Firmen. Der aktuelle Tarif bleibt allerdings in Kraft, bis der Bundesrat die Radio- und Fernsehverordnung ändert. Dem Bundesgericht fehlt die Kompetenz, eine Ersatzregelung festzulegen.
9C_19/2024 und 9C_20/2024 vom 27.11.2024
Finden die Steuerbehörden bei einem Erbgang Schwarzgeldzahlungen, so lässt Artikel 153a Bundesgesetz über die direkten Bundessteuern offen, ob das vereinfachte Verfahren mit drei statt zehn Jahren Verjährungsfrist anwendbar ist, wenn keine Meldung seitens der Erben erfolgte. Im konkreten Zürcher Fall hatte die Erblasserin acht und fünf Jahre vor ihrem Tod je 50'000 Franken von einem Schwarzgeldkonto auf ein deklariertes Bankkonto verschoben. Alleinerbin ist die Schwester. Von ihr fordert das Steueramt 25'600 Franken Nachsteuern, weil die Verstorbene die beiden Überweisungen nicht als Einkünfte deklariert hatte. Im vereinfachten Verfahren wäre die Sache verjährt.
Die Schwester macht geltend, sie habe nicht um die Zahlungen gewusst und deshalb keine Meldung erstatten können. Und die damaligen Steuererklärungen seien trotz unplausiblem Vermögenszuwachs akzeptiert worden. Das Bundesgericht schützt die Steuerforderung. Das vereinfachte Verfahren ist nicht anwendbar.
9C_42/2024 vom 5.12.2024
Mobilfunkantennen der neuen Generation mit sogenanntem Korrekturfaktor senken das Schutzniveau im Vergleich zu bisherigen Antennen nicht. Der Korrekturfaktor erlaubt adaptiven Antennen eine kurzfristig höhere Sendeleistung. Bedingung ist eine automatische Leistungsbegrenzung. Sie muss sicherstellen, dass die im Standortdatenblatt deklarierte Sendeleistung wenigstens über sechs Minuten gemittelt eingehalten ist.
Diesen «Bonus» gibt es, weil adaptive Antennen nicht stets in alle Richtungen gleich stark strahlen, sondern ihre Leistung nach Bedarf und Anwesenheit von Handynutzern richten. Konkret geht es um eine Antennenanlage von Swisscom auf dem Dach des Zürcher Spitals Balgrist. Das Bundesgericht erteilte der Beschwerde Mitte 2023 aufschiebende Wirkung. Nun weist es sie ab.
1C_307/2023 vom 9.12.2024
Die Genfer Anwaltsaufsichtsbehörde unterliess es, in einem Disziplinarverfahren gegen einen Angehörigen eines Mitgliedstaats der EU die zuständige Stelle des Herkunftslands gemäss Artikel 29 Anwaltsgesetz zu informieren. Das Bundesgericht hebt deshalb die Verwarnung wegen ungenügender Beherrschung der französischen Sprache auf und weist den Fall zur Neubeurteilung an die Anwaltsaufsicht zurück. Ausgangspunkt waren Verfahren am Strafgericht, in denen die Richter sein Plädoyer als Offizialverteiger nicht verstanden und er den Inhalt von Fragen nicht erfasst haben soll.
2C_144/2024 vom 6.11.2024
Ein syrisches Ehepaar erhält von der Eidgenossenschaft Genugtuungszahlungen. Die Grenzwache hatte der im siebten Monat schwangeren Frau auf dem Bahnhof Brig im Jahr 2014 während zweier Stunden medizinische Hilfe verweigert. Der verantwortliche Grenzwächter wurde 2018 wegen Körperverletzung verurteilt. Die Frau erhält 12'000 Franken. Sie war erst eine Stunde später in Italien per Ambulanz in ein Spital gebracht worden, wo der Tod des ungeborenen Kindes festgestellt wurde. Dem Mann spricht das Bundesgericht 1000 Franken zu.
2C_1016/2022 vom 25.9.2024
Zivilrecht
Bei der Berechnung der Bruttorendite des Vermieters erhöht das Bundesgericht die zulässige Marge entsprechend der Rechtsprechung zur Nettorendite. Dort wurde die Marge 2020 von 0,5 Prozent auf 2 Prozent angehoben, solange der hypothekarische Referenzzinssatz 2 Prozent oder weniger beträgt (BGE 147 III 14). Zu einer 3,5-Zimmer-Neubauwohnung in einem freiburgischen Dorf hält das Bundesgericht nun fest, dass der Zuschlag für die Rendite des investierten Kapitals logischerweise auch bei der Bruttorendite von 0,5 auf 2 Prozent steigen muss.
Das ergab im konkreten Fall eine zulässige Monatsmiete von 1216 Franken. Der vereinbarte Mietzins von 1600 Franken erwies sich als ungültig, weil der Vermieter das vorgeschriebene Formular zum Anfangsmietzins nicht ausgehändigt hatte. Die Bruttorendite kommt bei neueren, maximal zehnjährigen Gebäuden zum Zug.
4A_339/2022 vom 29.11.2024
Eltern müssen den Pass und die Identitätskarte eines Kindes ab 16 Jahren herausgeben, damit es bei den Behörden den Vornamen und den Geschlechtseintrag ändern kann. Das Bundesgericht weist die Beschwerde von Genfer Eltern gegen eine entsprechende Anordnung der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde ab. Der Wille des Gesetzgebers ist diesbezüglich klar.
Die Eltern wehrten sich mit Berufung auf die Uno-Kinderrechtskonvention gegen die Verfügung mit Strafandrohung. Sie befürchten, dass die rechtliche Geschlechtsänderung den Weg zu hormonellen und chirurgischen Behandlungen ebnet, mit denen die körperliche, sexuelle und psychische Integrität ihres Kindes unwiderruflich geschädigt werden könnte.
5A_623/2024 vom 6.11.2024
Bei der Adoption volljähriger Stiefkinder ist die Voraussetzung von einem Jahr gemeinsamem Haushalt gemäss Artikel 266 Zivilgesetzbuch entgegen der bisherigen Rechtsprechung nicht sakrosankt. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde einer 69-jährigen Stiefmutter gegen die verweigerte Adoption eines 47-Jährigen gut und weist den Fall zur Neubeurteilung an die Genfer Justiz zurück. Die Stiefmutter ist seit 30 Jahren mit dem Vater des 47-Jährigen verheiratet. Der Sohn verbrachte im Alter von 9 bis 16 Jahren nach der Scheidung seiner Eltern mindestens jedes zweite Wochenende und die Schulferien beim Vater und der Stiefmutter. Die leibliche Mutter starb vor zehn Jahren.
5A_885/2023 vom 13.11.2024
Wird ein Scheidungsverfahren an die zweite Instanz weitergezogen und verlangt eine Partei einen Prozesskostenvorschuss, muss entgegen der langjährigen Aargauer Praxis die Berufungsinstanz darüber befinden. Über vorsorgliche Massnahmen entscheidet gemäss Artikel 276 Zivilprozessordnung die Berufungsinstanz, wie das Bundesgericht festhält: «Es besteht damit kein Raum für den Kanton Aargau, diese Zuständigkeit abweichend zu regeln.» Diese Ansicht hatte schon das Bezirksgericht Laufenburg vertreten, war aber vom Obergericht zurückgepfiffen worden.
5A_435/2023 vom 21.11.2024
Strafrecht
Privatkläger haben kein generelles Vetorecht gegen ein abgekürztes Verfahren. In diesem Sinn weist das Bundesgericht die Beschwerden von zwei Opfern der Schlägerei vor einer Disco in Crans Montana VS im Jahr 2014 ab. Laut Bundesgericht können Privatkläger bei einer Anklageschrift im vereinfachten Verfahren aber nur in jenen Punkten Einwendungen erheben, die ihre Zivilansprüche, die in Bezug auf sie angeklagten Straftaten oder andere ihrer Rechte betreffen. Beide Beschwerdeführer forderten jedoch einzig, dass der Beschuldigte strenger beurteilt werden müsse. Sie opponierten nicht dagegen, dass ihre Forderungen auf den Zivilweg verwiesen wurden.
6B_170/2024 vom 15.11.2024
Das Bundesgericht beugt sich beim Vortatenerfordernis der Kritik der Lehre seit der Revision des Haftrechts Anfang 2024. Es hat entschieden, dass bei Beschuldigten nur dann von einer Wiederholungsgefahr gemäss Artikel 221 Absatz 1 litera c Strafprozessordnung ausgegangen werden kann, wenn wie sie wegen mindestens zweier gleichartiger Straftaten rechtskräftig verurteilt worden sind. Das bedeutet eine Abkehr von der mit BGE 137 IV 84 etablierten Rechtsprechung, wonach auch hängige Strafverfahren einbezogen werden können.
7B_1035/2024 vom 19.11.2024
Bei der Beurteilung, ob ein Raser mit einer Geldstrafe statt einer Freiheitsstrafe bestraft werden kann, ist es nicht von Belang, wie lang er den Führerausweis schon hat. Der seit Oktober 2023 geltende Artikel 90 Absatz 3ter ist somit auch bei Jung- und Neulenkern anwendbar, die noch keine tatsächliche Fahrpraxis von mindestens zehn Jahren vorweisen können. Im konkreten Fall raste ein Töfffahrer, der den Führerausweis 2020 erworben hatte, 2022 in Genf auf einer Autobahn.
6B_1372/2023 vom 13.11.2024
Sozialversicherungsrecht
Nicht nur die bislang diskriminierten Witwer profitieren vom EGMR-Urteil Beeler gegen die Schweiz vom 11. Oktober 2022, sondern auch geschiedene Männer nach dem Tod ihrer Ex-Frau. Im konkreten Fall hatte die Ausgleichskasse des Kantons Freiburg die «Witwerrente» bei einem nach über zehn Jahren Ehe geschiedenen Mann aufgehoben, als seine Tochter volljährig wurde.
Nach dem Beeler-Urteil verlangte der Mann, die Rente sei weiter zu zahlen. Das Kantonsgericht gab ihm recht. Das Bundesgericht schützt diesen Entscheid. Denn soweit der Rentenaufhebungsgrund von Artikel 24 Absatz 2 Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung nicht mehr auf Witwer anwendbar ist, ist er auch bei einem geschiedenen Mann mit Witwerrente nicht mehr anwendbar. Alle anderslautenden Weisungen des Bundesamts für Sozialversicherungen sind gemäss Urteil «gesetzeswidrig und daher nicht zu beachten».
9C_334/2024 vom 16.12.2024
Die Invalidenversicherung (IV) kann Leistungen bei Personen aus EU-Staaten nicht ablehnen, weil sie in der Schweiz keine AHV/IV-Beitragszeiten vorweisen können und mit bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen eingereist sind. Um mit Blick auf das Freizügigkeitsabkommen mit der EU und die EU-Verordnung 883/2004 zur Koordinierung der sozialen Sicherheit nicht diskriminierend zu handeln, muss die IV bei einem 38-jährigen Italiener das frühere italienische Einkommen anrechnen und ihm Taggelder ausrichten. Der Mann hatte seit einem Verkehrsunfall im Jahr 2015 in Italien eine Invalidenrente erhalten. 2019 zog er ins Tessin zu seiner Freundin, die ihn finanziell unterstützte. Er erhielt eine «Aufenthaltsbewilligung EU/Efta B ohne Erwerbstätigkeit» und meldete sich bei der IV an.
8C_36/2024 vom 25.11.2024