Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats-/Verwaltungsrecht
Die Betreiber der Kernkraftwerke müssen die Kosten für die Versorgung der Bevölkerung mit Jodtabletten nicht mittragen. Für die als Folge der Fukushima-Katastrophe erlassene entsprechende Verordnung von 2014 besteht weder im Strahlenschutzgesetz noch im Kernenergie-, noch im Kernenergiehaftpflichtgesetz eine genügende gesetzliche Grundlage, die den Kreis der Abgabepflichtigen, den Gegenstand der Abgabe und die Bemessung festlegt.
2C_888/2016 vom 15.10.2018
Der Grosse Rat des Kantons Tessin muss das Gesetz über die Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum und das Gesetz über die öffentliche Ordnung um zusätzliche Ausnahmetatbestände ergänzen. Die abschliessend formulierten Ausnahmen genügen nicht, sie tangieren die Versammlungs- und Meinungsfreiheit sowie die Wirtschaftsfreiheit unverhältnismässig. Einerseits geht es um Teilnehmer von politischen Kundgebungen, die sich maskieren, ohne damit die mit dem Verbot der Gesichtsverhüllung verfolgten Ziele zu gefährden. Andererseits geht es um Verhüllungen des Gesichts bei gewerblichen oder werbenden Veranstaltungen. Nicht prüfen musste das Bundesgericht, ob das Gesetz mit Blick auf die Religionsfreiheit der Bundesverfassung standhält.
1C_211/2016 und 1C_212/2016 vom 20.9.2018
Zivilrecht
Zur Berechnung der Mittellosigkeit bei unentgeltlicher Rechtspflege ist unerheblich, aus welcher Quelle ein Vermögenswert stammt und was mit dem Vermögenswert bezweckt werden soll. Dies gilt auch für die nach Eintritt eines Versicherungsfalls ausbezahlte Kapitalabfindung aus beruflicher Vorsorge, und zwar unabhängig davon, aus welchen Gründen der Versicherte sich für die Auszahlung des Kapitals entschied. Soweit das Vermögen des Gesuchstellers den angemessenen «Notgroschen» übersteigt, ist es ihm zumutbar, es zur Finanzierung des Prozesses zu verwenden, bevor dafür die Allgemeinheit durch öffentliche Mittel belastet wird. Für eine Umrechnung der Kapitalabfindung in eine hypothetische Rente und die Berücksichtigung als Einkommen besteht kein Grund.
4A_362/2018 vom 5.10.2018
Bei der Festsetzung des Kindesunterhalts ist dem unterhaltspflichtigen Elternteil auch nach neuem Recht sein eigenes Existenzminimum zu belassen. Klagt ein nicht im gleichen Haushalt lebendes Kind auf Unterhalt, gilt Folgendes: Massgeblich ist – je nach den konkreten Umständen – der Grundbetrag für einen alleinstehenden Schuldner, für einen alleinerziehenden Schuldner, für einen verheirateten, in einer eingetragenen Partnerschaft oder im Konkubinat mit Kindern lebenden Schuldner. In den drei letztgenannten Fällen ist dem Unterhaltsschuldner nur die Hälfte des Grundbetrags anzurechnen, denn der (neue) Ehegatte, eingetragene Partner bzw. Lebensgefährte des Rentenschuldners soll gegenüber dessen Kindern nicht privilegiert werden. Zum Grundbetrag sind die betreibungsrechtlichen Zuschläge hinzuzuzählen.
5A_553/2018 und 5A_554/2018 vom 2.10.2018
Das Bundesgericht hat die strittige Frage entschieden, wie alt eine Liegenschaft sein muss, um als Altliegenschaft zu gelten. In früheren Urteilen galten Liegenschaften, die «vor mehreren Jahrzehnten gebaut oder erworben worden sind» als alt. Neu gilt, dass aus mietrechtlicher Sicht ein vor mindestens 30 Jahren erbautes Gebäude die Qualifikation als Altliegenschaft erfüllt. Damit darf sich der Eigentümer auf die orts- und quartierüblichen Mieten berufen, um eine Erhöhung des Mietzinses zu rechtfertigen.
4A_400/2017 vom 13.9.2018
Das Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) ist bei der Beurteilung des Anwesenheitsrechts eines Ausländers zu berücksichtigen. Nach einer rechtmässigen Aufenthaltsdauer von rund zehn Jahren ist regelmässig davon auszugehen, dass die sozialen Beziehungen in der Schweiz so eng geworden sind, dass es für eine Beendigung des Aufenthalts besonderer Gründe bedarf. Es kann sein, dass der Anspruch auf Achtung des Privatlebens schon zu einem früheren Zeitpunkt zu beachten ist, etwa dann, wenn eine ausgeprägte Integration vorliegt. Im konkreten Fall lebte ein Argentinier fast zehn Jahre in der Schweiz. Er ist unbescholten und sowohl sozial wie beruflich integriert.
2C_105/2017 vom 8.5.2018
Wer im Hinblick auf die Unterbrechung der Verjährung seiner Forderung eine stille Betreibung in die Wege leitet, bei welcher der Gläubiger das Betreibungsbegehren vor Ausstellung des Zahlungsbefehls wieder zurückzieht, muss für diese Verrichtung des Betreibungsamts (Erfassen des Betreibungsbegehrens) nur 5 Franken bezahlen (Art. 16 Abs. 4 GebV SchKG). Das Bundesgericht hat eine Beschwerde des Betreibungsamtes Horw LU abgewiesen. Es wollte den Zeitaufwand ersetzt haben und hatte die Gebühr auf 40 Franken festgesetzt.
5A_8/2018 vom 21.6.2018
Strafrecht
Der in Art. 6 EMRK verankerte Anspruch auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht ist nicht verletzt, wenn die Staatsanwaltschaft bei leichten Fällen wie übler Nachrede in der erst- und zweitinstanzlichen Hauptverhandlung nicht anwesend ist. Die Strafprozessordnung schreibt die Anwesenheit nur vor, wenn eine Freiheitsstrafe von über einem Jahr oder eine freiheitsentziehende Massnahme beantragt ist oder wenn das Gericht dies aus anderen Gründen für nötig erachtet. Das Bundesgericht lehnt die in der Lehre vertretene Auffassung ab, die Rechtsprechung des EGMR in zwei russischen Urteilen (in Sachen Ozerov und Krivoshapin) seien auch für die Schweiz von Bedeutung. Das Schweizer System unterscheide sich stark vom russischen.
6B_1442/2017 vom 24.10.2018
Die Luzerner Justiz muss einen Mann gestützt auf den Grundsatz «ne bis in idem» freisprechen. Der Mann hatte einen Angestellten eines Unternehmens aufgefordert, er solle dafür sorgen, dass ihn ein Geschäftsleitungsmitglied bis 17 Uhr zurückrufe. Andernfalls werde er ein Geschäftsleitungsmitglied erschiessen. Die Staatsanwaltschaft bestrafte den Mann wegen Nötigung und stellte das Strafverfahren wegen Drohung im gleichen Strafbefehl ein. Vor Bundesgericht argumentierte der Verurteilte, dem Vorwurf der Drohung und der Nötigung liege der gleiche Lebenssachverhalt zugrunde. Da das Verfahren wegen Drohung rechtskräftig eingestellt worden sei, dürfe jenes wegen Nötigung nicht weitergeführt werden. Dem stimmte das Bundesgericht zu. Eine Verurteilung würde gegen den Grundsatz «ne bis in idem» verstossen.
6B_1346/2017 vom 20.9.2018
Sozialversicherungsrecht
Wenige Monate vor seinem Tod beantragte ein verheirateter Mann mittels «Formular Änderung der Begünstigtenordnung», das Todesfallkapital sei bei seinem Ableben nicht seiner Ehefrau, sondern vollumfänglich seiner Lebenspartnerin auszubezahlen. Die Pensionskasse kam zum Schluss, das Gesuch erfülle sämtliche reglementarischen Voraussetzungen. Sie entschied, das Geld der Lebenspartnerin auszurichten. Nach dem Tod des Mannes klagte die Witwe und forderte, das Todesfallkapital von 118 000 Franken sei ihr auszuzahlen, weil ihr Ehemann nur drei Jahre mit der Lebenspartnerin zusammengelebt habe. Das Bundesgericht hat ihr nun recht gegeben. Zwar reichen gemäss Reglement der Pensionskasse drei Jahre ununterbrochenes Zusammenleben mit dem Versicherten. Diese Bestimmung verstösst jedoch gegen Art. 20a Abs. 1 BVG, welche eine ununterbrochene fünfjährige Lebensgemeinschaft unmittelbar vor dem Tod der versicherten Person verlangt.
9C_118/2018 vom 9.10.2018
Das im Kanton Freiburg beschlossene generelle Streikverbot für Pflegepersonal ist unverhältnismässig. Art. 28 der Bundesverfassung definiert die Voraussetzungen, unter denen Streik zulässig ist, und legt fest, dass bestimmten Kategorien von Personen das Streiken gesetzlich verboten werden kann. Das im November 2017 geänderte Freiburger Gesetz über das Staatspersonal schiesst über das Ziel hinaus, weil es undifferenziert alle dem Staatspersonalgesetz unterstellten Angestellten von öffentlichen Gesundheitseinrichtungen betrifft. Es steht insgesamt in keinem vernünftigen Verhältnis zum angestrebten Zweck. Einerseits macht das generelle Streikverbot keinen Unterschied nach der Art der Tätigkeit; andererseits beschränkt es sich nicht auf Pflegepersonen, deren Anwesenheit in Spitälern zur Erhaltung des Lebens und der Gesundheit unabdingbar wäre.
8C_80/2018 vom 9.10.2018