Staats-/Verwaltungsrecht
Tourismusgemeinden – vorliegend Silvaplana GR – dürfen auf touristisch unbewirtschafteten Zweitwohnungen eine Zweitwohnungssteuer (von 2 Promille des Vermögenssteuerwerts des Objekts) erheben. Eine solche Steuer mit dem Ziel einer besseren Auslastung der bestehenden Wohnungen greift weder unzulässig in die Eigentumsgarantie ein, noch ist sie unvereinbar mit der Liegenschaftssteuer (1 Promille). Die Liegenschaftssteuer hat ein anderes Objekt, einen anderen Verwendungszweck und dient nicht der Vermeidung «kalter Betten». Die Zweitwohnungssteuer ist auch mit der im März 2012 angenommenen Initiative «Schluss mit dem uferlosen Bau von Zweitwohnungen» (Artikel 75 b BV) vereinbar.
2C_1076/2012, 2C_1088/2012 vom 27.3.2014
Ein sich im Ausland aufhaltender Beschuldigter eines Strassenverkehrsdelikts ist nicht verpflichtet, eine Vorladung in die Schweiz zu befolgen, und darf bei Nichtbefolgung weder rechtliche noch tatsächliche Nachteile erleiden. Die Vorladung kommt einer Einladung gleich; Zwang darf nicht ausgeübt werden. Eine Einvernahme hat rechtshilfeweise durch die Behörden des Heimatlands zu erfolgen. Damit steht auch fest, dass die Rückzugsfiktion gemäss Artikel 355 Absatz 2 Strafprozessordnung nicht zur Anwendung gelangt.
1B_377/2013 vom 27.3.2014
Das Bundesgericht hat ein Urteil des Brüsseler Appellationsgerichts im Schadenersatzprozess um die konkursite belgische Luftfahrtgesellschaft Sabena nicht anerkannt. Die SAirGroup/SAirLines in Nachlassliquidation waren darin zur Zahlung von 18,3 Millionen Euro verurteilt worden. Das Bundesgericht verweist auf neuere Urteile des Europäischen Gerichtshofes zum Lugano-Übereinkommen, das aufgrund einer Ausnahmebestimmung nicht auf Konkurse, Vergleiche und ähnliche Verfahren anwendbar ist. Da die Sabena die Forderung in Belgien erst eingeklagt hatte, als die SAirGroup/SAirLines in Nachlassliquidation waren, ist der belgische Prozess ein insolvenzrechtliches Verfahren.
4A_740/2012 vom 8.5.2014
Gemäss Artikel 237 Strafprozessordnung ordnet das zuständige Gericht anstelle der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft eine oder mehrere mildere Massnahmen an, wenn sie denselben Zweck erfüllen – zum Beispiel ein Kontaktverbot. Auch Ersatzmassnahmen müssen verhältnismässig sein, besonders in zeitlicher Hinsicht, und auf die Freiheitsstrafe angerechnet werden. Bei der anrechenbaren Dauer hat das Gericht den Grad der Beschränkung der persönlichen Freiheit im Vergleich zum Freiheitsentzug bei U-Haft zu berücksichtigen.
1B_105/2014 vom 24.4.2014
Zivilrecht
Genossenschaften, im konkreten Fall die Raiffeisenbank, dürfen keine Partizipationsscheine ausgeben. Es besteht entgegen der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts keine Gesetzeslücke. Laut Urteil des Bundesgerichts zeigen die Diskussionen bei früheren Gesetzesrevisionen, dass der Gesetzgeber die Ausgabe von Partizipationsscheinen nicht bei allen Gesellschaftsformen zulassen und von besonderen Schutzmechanismen für die Geldgeber abhängig machen wollte. So sind bei der Aktiengesellschaft die Partizipationsscheine ausdrücklich geregelt und bei der Gesellschaft mit beschränkter Haftung bewusst ausgeschlossen worden. Eine Einführung bei Genossenschaften müsste durch eine Gesetzesänderung erfolgen.
4A_363/2013 vom 28.4.2014
Gemäss Artikel 160 Absatz 1 der Zivilprozessordnung ZPO sind die Parteien und Dritte zur Mitwirkung bei der Beweiserhebung verpflichtet. Verweigert eine Partei die Mitwirkung unberechtigterweise, so berücksichtigt dies das Gericht bei der Beweiswürdigung. Artikel 164 ZPO macht keine Vorgaben, welche Schlüsse das Gericht bei der Beweiswürdigung aus einer Mitwirkungsverweigerung ziehen soll. Insbesondere ist nicht vorgeschrieben, dass das Gericht ohne weiteres auf die Wahrheit der Tatsachenbehauptungen der Gegenpartei schliessen muss. Es handelt sich um einen Umstand unter anderen, der in die freie Beweiswürdigung einfliesst.
5A_909/2013 vom 4.4.2014
Liegt eine Verletzung der Zivilprozessordnung vor, wenn ein Gericht der Gegenpartei eine Klage bereits vor Bezahlung des Kostenvorschusses zur Beantwortung zustellt und ihr nach der Nichtleistung des Kostenvorschusses mit Nichteintretensfolge eine Parteientschädigung zulasten des Klägers zuspricht? Manche Autoren finden, die Klage dürfe der Gegenpartei erst nach Eingang des Geldes zugestellt werden, um ihr unnötige Parteikosten zu ersparen. Das Bundesgericht sieht es anders: Es gibt keine ausdrückliche Vorschrift, den Prozess bis zur Leistung des Vorschusses nicht weiterzuführen. «Ein Zuwarten sollte zwar die Regel sein, aber das Vorgehen bildet Teil der Verfahrensleitung, die weitgehend ins Ermessen des Gerichts gestellt ist.» Die Zusprechung einer Parteientschädigung ist in solchen Fällen zulässig, hat es doch der Kläger durch Nichtbezahlung des Kostenvorschusses letztlich selber zu verantworten, dass unnötige Kosten entstanden sind.
4A_29/2014 vom 7.5.2014
Strafrecht
Die öffentliche Verwendung des Hitlergrusses ist keine strafrechtliche Rassendiskriminierung, wenn damit lediglich die eigene nationalsozialistische Gesinnung bekundet wird. Der Hitlergruss ist nur dann strafbar, wenn er in der Öffentlichkeit getätigt wird und damit Werbung oder Propaganda für den Nationalsozialismus betrieben werden soll. Der Hitlergruss im Privatbereich und unter Gesinnungsgenossen bleibt straffrei.
6B_697/2013 vom 28.4.2014
Sozialversicherungsrecht
Ein Anspruch auf Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung besteht bei im Zustand der gänzlichen Urteilsunfähigkeit begangenen Selbsttötung oder Selbstschädigung nur, wenn die Kriterien des Unfallbegriffs erfüllt sind. Im Fall eines Mannes, der wegen Einnahme von Alkohol, Medikamenten und Drogen eine Mischintoxikation mit Multiorganversagen erlitt. Das Bundesgericht verneint einen Unfall, weil das Kriterium der Plötzlichkeit nicht erfüllt war. Die Mischintoxikation hatte sich über einen gewissen Zeitraum aufgebaut, weshalb nicht von einer einmaligen schädigenden Einwirkung im Sinne des Unfallbegriffs gesprochen werden kann.
8C_494/2013 vom 22.4.2014
Bei der Berechnung von Ergänzungsleistungen zur AHV/IV ist die noch nicht ausbezahlte Freizügigkeitsleistung einer Pensionskasse bei der Berechnung des Vermögens zu berücksichtigen – allerdings nicht die ganze Summe: Die Steuern, die ein Bezug (fiktiv) auslösen würde, sind von der Freizügigkeitsleistung abzuziehen. Es darf mit andern Worten nur der (fiktive) Nettobetrag als hypothetisches Vermögen angerechnet werden.
9C_884/2013 vom 9.4.2014