Am späten Samstagabend des 17. September 2011 endet in Zürich ein unbewilligtes Strassenfest beim Central in Auseinandersetzungen mit der Polizei. Diese treibt die Menge mit Gummigeschossen und Tränengas zusammen und verhaftet rund neunzig Personen wegen Landfriedensbruchs, so die Medienmitteilung der Stadtpolizei Zürich dazu. Wie sich in den polizeilichen Befragungen und anschliessenden Strafverfahren herausstellt, sind unter den Eingekesselten auch Schaulustige und Passanten, die auf dem Weg zum Bahnhof waren. Neben den Central-Fällen gab es in den Jahren 2010 bis 2012 in verschiedenen Kantonen zahlreiche weitere Verhaftungen und Strafverfahren wegen Landfriedensbruchs (unten).
Weshalb die grosse Zahl an Verhaftungen bei diesen Menschenansammlungen? Der Zürcher Strafverteidiger Matthias Brunner spricht von einer neuen Entwicklung: Früher hätten sich die Behörden meist damit begnügt, polizeiliche oder polizeistrafrechtliche Mittel wie Wegweisungsverfügungen zu erlassen. «Die Leute wurden gebüsst wegen unbewilligter Benutzung öffentlichen Grundes, Verstosses gegen das Vermummungsverbot oder Widerhandlungen gegen polizeiliche Anordnungen. Nur wenn es die Beweislage erlaubte, wurden auch Strafverfahren wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte eingeleitet, fast nie wegen Landfriedensbruchs», sagt Brunner. Bei den Fällen der letzten zwei Jahre beobachtet er eine neue Praxis von Polizei und Staatsanwaltschaft: «Sie leiten gegen eine grosse Zielgruppe Strafverfahren wegen Landfriedensbruchs ein und bemühen die anderen Tatbestände gar nicht erst.»
Gewalttätige Menge durch «Anwesenheit» unterstützt
Die Polizeitaktik bei solchen Versammlungen war oft gleich: Die Leute, die man für Demonstranten hielt, wurden zusammengetrieben, eingekesselt und verhaftet. In den Strafbefehlen wurde ihnen einzig vorgeworfen, sich in einer bestimmten Gegend aufgehalten zu haben und eine gewaltbereite Menge mit ihrer physischen Anwesenheit möglicherweise unterstützt zu haben.
Auslegung abhängig vom Zeitgeist
Ist Zuschauen allein schon Landfriedensbruch? Die Auslegung von Artikel 260 StGB sorgte schon vor Jahrzehnten für Diskussionen: 1988 kritisierte der damalige Basler Anwalt und heutige Strafrechtsprofessor Hans Vest in der «Schweizerischen Juristen-Zeitung» mit Blick auf die Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit die «selektive Anwendung» des Tatbestands des Landfriedensbruchs. Denn laut Gesetz bleibt straffrei, wer sich auf Anweisung der Polizei entfernt und keine Gewalt anwendet oder dazu anstiftet.
Der Aufsatz war eine Reaktion auf eine Praxisänderung des Bundesgerichts. Bis zu den Jugendunruhen der Achtzigerjahre wurde vom Bundesgericht für die Erfüllung des Tatbestandes vorausgesetzt, dass die verübten Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen von den Demonstrierenden zumindest gebilligt werden (BGE 99 IV 218). Dann liess es das Bundesgericht mit dem Grundsatzentscheid BGE 108 IV 33 aus dem Jahr 1982 aber genügen, «wenn der Täter sich wissentlich und willentlich einer Zusammenrottung, das heisst einer Menschenmenge, die von einer für die Friedensordnung bedrohlichen Grundstimmung getragen wird, anschliesst oder in ihr verbleibt.» Wer solches tue, müsse nämlich mit Gewalttätigkeiten rechnen (BGE 108 IV 36, E. 3a).
Der Zürcher Strafrechtsprofessor Wolfgang Wohlers hat diese Praxis in einem Gutachten von Anfang 2012 kritisiert. Der Straftatbestand des Landfriedensbruchs dehne an sich schon den «Strafbarkeitsbereich weit in das Vorfeld eines eigentlich rechtsgutgefährlichen Verhaltens» aus. Deshalb sei «eine restriktive Auslegung geboten, die den Anwendungsbereich der Norm nicht noch weiter ausdehne». Seiner Ansicht nach führt es klar zu weit, wenn es für die Erfüllung des Tatbestands ausreichen soll, dass sich eine Person in unmittelbarer Nähe einer Menge aufhält. Dann werde «der Straftatbestand des Landfriedensbruches als Ersatz für einen de lege lata eben gerade nicht vorhandenen ‹Gaffertatbestand› missbraucht».
Missbräuchliche Ausdehnung auf Gaffer
Wann aber ist man «Landfriedensbrecher», wann bloss Zuschauer? In den Urteilen werden das Verhalten der Beschuldigten und ihre Absichten eingehend diskutiert. Hat sich jemand aktiv am Geschehen beteiligt oder sich bloss über längere Zeit in der Nähe einer Menschenansammlung aufgehalten? Oft laufen Scharmützel mit der Polizei nicht statisch ab. Die Menschen bewegen sich, gruppieren sich um, der Einzelne geht in der Menge unter. Manchmal entwickelt eine friedliche Ansammlung plötzlich eine unberechenbare Dynamik, nicht selten durch das Einschreiten der Polizei. Zu solchen Situationen stellt die II. Strafkammer des Obergerichts Zürich im Urteil SB 12 0196 vom 19. Juni 2012 zu einem Central-Fall fest: «Gemäss Lehre und Rechtsprechung ist es gerade bei Zusammenrottungen, die bei geringer Dichte einen grösseren Raum beanspruchen, aufgrund der räumlichen Verhältnisse nicht möglich, ‹unbeteiligt› auszusehen, weil eine räumliche Distanzierung nicht möglich ist.» Das Obergericht fordert von der Staatsanwaltschaft, die Teilnahme anders nachzuweisen. Der Täter müsse wissen, dass eine gewalttätige Zusammenrottung besteht. Der Vorsatz fehle, «wenn jemand eine Versammlung nicht verlassen kann, in die er zufällig hineingeriet oder deren Stimmung gerade umgeschlagen hat».
Freisprüche und Genugtuungszahlungen
Auch das Bezirksgericht war in den Central-Fällen zum Schluss gekommen, jemand sei nicht Teil einer Zusammenrottung, wenn er in der zweiten Zuschauerreihe stehe, während die erste mehrheitlich aus Journalisten bestanden habe und sich diese in sicherer Entfernung des Geschehens befunden hätten (Urteil GG 11 0298-L/U vom 12. Juni 2012). Ein Einzelrichter hielt im Urteil GB 11 0071-L/U vom 2. Februar 2012 fest: «Wenn sich jemand in der Nähe von Ausschreitungen aufhält, mag das unklug sein, es vermag aber den objektiven Tatbestand des Landfriedensbruchs nicht zu erfüllen.» Diese Urteile führten zu Freisprüchen. Nicht selten sassen die Festgenommenen tagelang in Untersuchungshaft. Für 16 Tage Untersuchungshaft erhielt ein Angeklagter eine Genugtuungszahlung von 3200 Franken und 6600 Franken Prozessentschädigung, ein anderer 4000 Franken Genugtuung für 13 Tage U-Haft und eine Prozessentschädigung von 4500 Franken.
Edwin Lüscher, Zürcher Staatsanwalt, sagt: «Für die Staatsanwaltschaft hat sich durch die Urteile des Bezirks- und Obergerichts rechtlich nichts Neues ergeben.» Die Unterscheidung von Landfriedensbrechern und Zuschauern sei immer schwierig.
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Vorwurf des Landfriedensbruchs oft unbegründet
- Freiburg, 12. Juni 2010 «Justice pour tous» lautete das Motto einer bewilligten Demonstration gegen Polizeigewalt. Nach Sachbeschädigungen wurden 47 Personen festgenommen. Sie wurden bis zu einer Stunde nach der Demo in der Stadt, in Restaurants und am Hauptbahnhof verhaftet. 11 wurden wegen Landfriedensbruchs angezeigt, 7 von ihnen am 8. Mai 2012 vom Strafgericht freigesprochen.
- Bern, 4. Juni 2011 Eine Demo gegen staatliche Repression wurde in der Junkerngasse eingekesselt. Die 186 Teilnehmer wurden offenbar nicht zum Verlassen der Demonstration aufgefordert, sondern verhaftet und wegen Landfriedensbruchs verzeigt. Die Gerichtsverfahren sind noch nicht abgeschlossen.
- Zürich, 17. September 2011 In Zürich endete ein unbewilligtes Strassenfest am Central in Auseinandersetzungen mit der Polizei. 33 der 91 Verhafteten wurden von der Staatsanwaltschaft wegen Landfriedensbruchs mit Strafbefehlen zu Geldstrafen bis 180 Tagessätzen verurteilt - der maximalen Kompetenz der Staatsanwälte. 6 erhoben Einsprache gegen den Strafbefehl. Mit einer Ausnahme gab es Freisprüche durch das Bezirksgericht Zürich oder das Obergericht. Das bedeutet: Die 27 anderen, die der Untersuchungshaft entgehen wollten und den Strafbefehl akzeptierten, sind zu Unrecht bestraft worden.
- Bern, 21. Januar 2012 Auf dem Weg zu einer Anti-Wef-Demo kesselte die Polizei eine Gruppe von gut 120 Personen im Bollwerk ein, nahm alle fest und brachte sie in vorgängig eingerichtete Zellen im Parkhaus Neufeld, obwohl es zu keinen nennenswerten Zwischenfällen gekommen war. Bisher sprach das Regionalgericht Bern-Mittelland eine Person wegen versuchten Landfriedensbruchs schuldig. Der Beschuldigte hat Berufung angemeldet, der Fall soll im ersten Quartal 2013 vors Obergericht kommen. Die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern will diesen Präzedenzfall abwarten, um die Schlussfolgerungen für die verbliebenen 121 Verfahren zu ziehen.