Aus dem kollektiven
Koalitionsrecht der neuen Bundesverfassung lässt sich auch ein Zutrittsrecht der Gewerkschaften in die Betriebe ableiten. Für Werbung und Information haben selbst betriebsfremde und autonome Koalitionen ein Recht auf Zutritt. Arbeitgeber können sich weder zivilrechtlich (Besitzesstörung) noch strafrechtlich (Hausfriedensbruch) dagegen
wehren.
Das schweizerische Arbeitsrecht hatte früher Ausstrahlung auf das übrige Europa und gab ausländischen Rechtsordnungen verschiede Impulse. Drei Beispiele:
1. Die normative Wirkung von Gesamtarbeitsverträgen auf einzelne Arbeitsverhältnisse galt als Pionierleistung des OR von 1911.1 Die gleichzeitig geregelten Normalarbeitsverträge fanden international weniger Nachahmung. In anderen Staaten standen stattdessen gesetzliche Mindestlohnvorschriften im Vordergrund. In der Schweiz sind erst seit dem 1. Juni 2004 infolge der bilateralen Verträge mit der EU Mindestlöhne zur Bekämpfung von Missbräuchen möglich.2
2. Der Kanton Glarus hat als erster Staat der Welt im Jahre 1846 eine Verordnung über die Beschränkung der Arbeitszeit geschaffen.3 Das eidgenössische Fabrikgesetz von 1877 galt als fortschrittlich. Vorbereitungskongresse für die Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) fanden in Bern statt. Die Schweiz war Ende des Ersten Weltkriegs Gründungsmitglied. Gemäss Artikel 19 der Verfassung der tripartiten, in Genf ansässigen IAO ist die Schweiz verpflichtet, Übereinkommen und Empfehlungen ihrem Parlament vorzulegen. Mittlerweile lesen wir aus dem Bundesrat von einer Ratifikationspraxis, «gemäss welcher nur mit der geltenden Gesetzgebung übereinstimmende Übereinkommen der IAO ratifiziert werden».4 Nicht ratifiziert ist – zum vorliegenden Thema – das Übereinkommen Nummer 135 «über Schutz und Erleichterung für Arbeitnehmervertreter im Betrieb» samt zugehöriger Empfehlung, wonach «den Arbeitnehmervertretern im Betrieb Zutritt zu allen Arbeitsstätten gewährt werden [sollte], wenn dies erforderlich ist, um ihnen die Ausübung ihrer Vertretungsfunktionen zu ermöglichen».5
3. Das Koalitionsrecht – also das Recht von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, sich zum Schutz ihrer Interessen zusammenzuschliessen, Vereinigungen zu bilden und solchen beizutreten, ist kein Menschenrecht der Französischen Revolution. Im Gegenteil: Die Loi Le Chapelier (1791) verbot antizünftisch jede Koalition. Auch die deutschen Staaten unterdrückten Koalitionen.6 In der alten Eidgenossenschaft traf die sich langsam organisierende, industrielle Arbeiterschaft ebenso auf kantonale Koalitionsverbote.
Die Vereinsfreiheit war den kantonalen Regenerationsverfassungen weit gehend unbekannt.7 Der liberale Bundesstaat von 1848 räumte damit auf und gewährleistete in Artikel 48, 1874 in Artikel 56 die Vereinsfreiheit. Diese umfasste die Koalitionsfreiheit.8 Mit der Koalitionsfreiheit bestand Streikfreiheit; immer als Recht gegenüber dem Staat. Einschränkungen erfolgten privatrechtlich (Kontraktbruch mit Schadenersatzfolgen beim Streik), polizeilich (Zusammenrottung, Störung der öffentlichen Ordnung etc.) und strafrechtlich vorwiegend über die Tatbestände der Nötigung und Drohung.
Im Zuge sich verschärfender Arbeitskonflikte übernahmen in den 1870er Jahren Genf und Basel ausländische Polizeibestimmungen gegen Streiks, zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch Zürich und Bern. Folge dieser Gesetze war, dass der Entscheid über «Recht und Unrecht bei Streiks» bei der Polizei lag.9 Wegen der aktuellen Auseinandersetzung im Maler- und Gipsergewerbe sei aus einer «Instruktion für die Polizeiorgane» der Zürcher Justiz- und Polizeidirektion anlässlich des Malerstreiks 1894 zitiert, wonach zum Schutz von Streikbrechern «als Nöthigung unter Umständen auch der Fall erscheinen [kann], dass jemand auf dem Wege in belästigender Weise von Dritten begleitet wird» und «verkehrshemmende Ansammlungen von Personen auf Trottoiren und Strassen [nicht zu dulden sind]».
Früher als im übrigen Europa kannte das schweizerische Staatsrecht Koalitions- und Streikfreiheit, allerdings mit den Einschränkungen polizeilicher und strafrechtlicher Art wie überall anders auch.
Das Koalitionsrecht in der neuenBundesverfassung
Trotzdem wurde Artikel 28 der nachgeführten Bundesverfassung (BV), der von Koalitionen und Streik handelt, zum eigentlichen Schicksalsartikel des gesamten Verfassungswerks, sowohl in den Beratungen in den Räten wie in der Volksabstimmung 1999.
Ein Streikrecht mit zwei Kuriositäten
a. Im Zuge des Versuchs einer Modernisierung trat 1992 – unmittelbar vor der EWR-Abstimmung mit Eurolex – für die Schweiz der UNO Pakt I in Kraft. Artikel 8 UNO Pakt I verpflichtet die Staaten, das Streikrecht zu gewährleisten. Nach der Meinung des Bundesgerichts im Kollbrunner Entscheid10 sprechen «beachtliche Gründe» dafür, dieses Streikrecht sei self-executing, das heisst direkt anwendbar. Zusätzlich gewährleistete bereits die jurassische Verfassung das Streikrecht (Artikel 20). Kurz vor der neuen Bundesverfassung nahm auch das Tessin das Streikrecht in die Kantonsverfassung auf (Artikel 8).
b. Nach Artikel 28 BV ist nicht nur der Streik zulässig, sondern auch die Aussperrung. Diese formale Parität in der Verfassung ist ein Missgriff: Das Streikrecht ist in zahlreichen Verfassungen verschiedenster Länder gewährleistet, nicht aber die Aussperrung. Diese ist in Portugal und im deutschen Land Hessen verfassungsmässig sogar untersagt.11 Aus weiteren Bestimmungen ist denn auch ohne weiteres abzuleiten, dass die Angriffsaussperrung auch in der Schweiz keinen Schutz geniesst.12
Zusammengefasst: Vor 100 Jahren lag die Schweiz an der Spitze des europäischen Arbeitsrechts – jetzt hinkt sie hinterher. Die auch jüngste widersprüchliche Entwicklung ist immerhin bemüht, die internationalen Verpflichtungen zu respektieren und den weiteren Gang offen zu lassen.
Fehlende gesetzliche Grundlagen im Betrieb
br/> Im Vergleich zum umliegenden Ausland fehlt in der Schweiz eine Regelung auf der Betriebsebene praktisch vollständig: keine Mitbestimmung, kein Betriebsverfassungsrecht, keine besonderen Gewerkschaftsrechte. Ausser einiger weniger Bestimmungen über Betriebskommissionen im Arbeitsgesetz13 und dem nach dem EWR-Nein als Swisslex in Kraft getretenen Mitwirkungsgesetz samt zugehörigen OR-Bestimmungen über Massenentlassungen existieren in der Schweiz kaum gesetzliche Grundlagen.
Erstaunlich an den Bestimmungen über die Massenentlassungen war zudem, dass sie von der Arbeitgeberschaft weit gehend ignoriert wurden. In den vergangenen Jahren wurden einige Auseinandersetzungen über Strafzahlungen wegen missbräuchlicher Kündigung im Zusammenhang mit Unternehmensschliessungen geführt. Die Information und Konsultation der Belegschaft wurde seitens der Betriebsleitungen schlicht vergessen. Die maximale gesetzliche Entschädigung wegen Verletzung der Konsultationspflichten ist mit zwei Monatslöhnen bescheiden14 und wurde in der Praxis vom Richter oft auf einen Monatslohn festgesetzt.
Die Bestimmungen sind bis heute nicht ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. Zehn Jahre nach Inkrafttreten wird noch versucht, in provisorischer Nachlassstundung den gesetzlichen Anwendungsbereich einzuschränken und Ausnahmen zu erstreiten.15
Weitreichendes Kollektives Koalitionsrecht
In der juristischen Literatur nahm bis anhin im Rahmen von Artikel 356a OR die so genannte negative Koalitionsfreiheit einen prominenten Platz ein.16
Artikel 28 Absatz 1 BV schützt aber nicht nur das Recht, Koalitionen fernzubleiben, sondern zuerst das Recht von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, sich zum Schutz ihrer Interessen zusammenzuschliessen, Vereinigungen zu bilden und solchen beizutreten. Neu schützt Artikel 28 BV auch die kollektive Koalitionsfreiheit. In der Botschaft zur BV wurde festgehalten, garantiert sei «das Recht der Vereinigungen, ihre Aktivitäten frei auszuüben».17
Im ersten publizierten Entscheid zu Artikel 28 BV18 bestätigte das Bundesgericht diese Garantie der «liberté syndicale collective», namentlich das Recht an Gesamtarbeitsvertragsverhandlungen teilzunehmen und solche abzuschliessen. Im öffentlichen Dienst – der Entscheid betraf die Gewerkschaft SUD in Lausanne – bestehe bei der Regelung von Arbeitsbedingungen ein Anhörungsrecht ohne Diskriminierung einzelner Verbände. Das Existenzrecht der Gewerkschaften sei eine fundamentale Bedingung der kollektiven Gewerkschaftsfreiheit.
In der Begründung bezog sich das Bundesgericht ausdrücklich auf die Rechtsprechung zu Artikel 11 EMRK, wonach die Vereinigungsfreiheit gewährleiste, dass Gewerkschaften die Möglichkeit haben müssen, für die Interessen ihrer Mitglieder zu kämpfen. Das Bundesgericht stützte sich auch auf das IAO-Übereinkommen Nr. 151 über Beschäftigungsbedingungen im öffentlichen Dienst, das die Schweiz ratifiziert hatte.
Die kollektive Koalitionsfreiheit von Artikel 28 BV garantiert den Bestand der Gewerkschaften und gibt ihnen das Recht, für ihre Mitglieder tätig zu werden. Was das konkret heisst, ist teilweise heftig umstritten. Es muss auch durch gewerkschaftliche Praxis konkretisiert werden.
In der Schweiz werden internationale Standards massgebend. Auf die internationalen Grundlagen wurde im Entwurf zur BV ausdrücklich Bezug genommen: Artikel 11 EMRK, Artikel 8 UNO Pakt I, Artikel 22 UNO Pakt II und das Übereinkommen Nr. 87 über den Schutz des Vereinigungsrechtes.19 Zusätzlich ist im Jahre 2000 für die Schweiz das Übereinkommen Nr. 98 über die Anwendung der Grundsätze des Vereinigungsrechtes und des Rechts zu Kollektivverhandlungen – eine der sieben fundamentalen IAO-Konventionen – in Kraft getreten.
Von selbst werden sich international normalisierte Zustände aber nicht einstellen: Als Warnung diene, dass sich der alte Artikel 28 BV mit dem Zollwesen befasste, also mit Importbeschränkungen.
Gewerkschaftlicher Zutritt zum Arbeitsplatz
Heute aktuell ist die Frage eines Zutrittsrechts der Gewerkschaften in die Betriebe. Angestellte verbringen rund einen Drittel ihres aktiven Lebens am Arbeitsplatz. «In den Betriebsräumen spielt sich das Arbeitsleben ab.»20 Der Betrieb ist der Ort, wo die Gewerkschaft ihren Mitgliedern am sichtbarsten helfen kann.21 Mit der Zunahme der Entgrenzung und Flexibilisierung der Arbeitszeiten durch Teilzeitarbeit und Arbeit auf Abruf einerseits, Überstunden und Arbeitsintensivierung andererseits wird die gewerkschaftliche Präsenz in den Betrieben zu einer Notwendigkeit für deren Bestand und Betätigung.
Die gewerkschaftliche Werbung am schwarzen Brett, das Verteilen von Flugblättern und Gewerkschaftszeitungen am Betriebseingang oder auf Parkplätzen ist international unbestritten. Einzelheiten werden zum Beispiel in Deutschland geradezu liebevoll geregelt.22 Anerkannt ist auch das Recht, Beiträge für die Gewerkschaft während Pausen am Arbeitsplatz durch Gewerkschaftsmitglieder einzusammeln.23 Praktisch hat sich dieses Gewohnheitsrecht überlebt.
Die Grenzen der zulässigen Werbung – wie aller betrieblichen Gewerkschaftsrechte – sind der ordnungsgemässe Betriebsablauf und der Betriebsfrieden, die nicht gestört werden dürfen.24 Informations- und Werberecht im Betrieb stützen sich direkt auf die Verfassung, auf die geschützte gewerkschaftliche Betätigung.
Nach Paragraf 2 Absatz 2 des deutschen Betriebsverfassungsgesetzes ist Gewerkschaftsbeauftragten zur Wahrnehmung der im Gesetz genannten Aufgaben Zugang zum Betrieb zu gewähren, unter Vorbehalt unumgänglicher Notwendigkeiten des Betriebsablaufs, von Sicherheitsvorschriften und dem Schutz von Betriebsgeheimnissen. Ab einem Mitglied gilt die Gewerkschaft als im Betrieb vertreten.25 Das Zugangsrecht ist grundsätzlich auf Aufgaben nach Betriebsverfassung beschränkt, gilt aber jedenfalls dann, wenn der Betriebsrat um gewerkschaftliche Unterstützung nachsucht, für alle Probleme des betrieblichen Arbeitslebens. Nach überwiegender Meinung beschränkt sich dieses Zutrittsrecht nicht auf Betriebsrats- oder Gemeinschaftsräumlichkeiten, sondern geht bis an die einzelnen Arbeitsplätze.26
In Frankreich können Gewerkschaftssektionen im Betrieb Versammlungen durchführen und dazu Gewerkschaftsfunktionäre oder auch andere Nichtbetriebsangehörige einladen.27 Ein allgemeines Zutrittsrecht bis zum Arbeitsplatz wird aber nicht anerkannt.
Der österreichische Betriebsrat kann die beratende Unterstützung der Gewerkschaften beiziehen.
Paragraf 39 Absatz 4 des Arbeitsverfassungsgesetzes gewährleistet auch darüber hinaus ein gewerkschaftliches Zugangsrecht zum Betrieb. Besteht kein Betriebsrat – und wird trotz Aufforderung ab zwanzig Arbeitnehmern keiner bestellt – kann die Gewerkschaft direkt zur Betriebsversammlung einberufen, die zu Betriebszeiten in den Betriebsräumen stattfinden kann (Paragraf 45 Arbeitsverfassungsrecht).
Ein ausdrückliches gewerkschaftliches Zutrittsrecht von Gewerkschaftsbeauftragten besteht nach Empfehlung 143 zum IAO-Übereinkommen 135, das von der Schweiz nicht ratifiziert ist. Komitee und Kommission der internationalen Arbeitsorganisation leiten einen «access to the workplace» aber auch aus den beiden Übereinkommen über die Vereinigungsfreiheit (Nr. 87) und das Vereinigungsrecht (Nr. 98) ab, auch dann, wenn das Übereinkommen über den Schutz der Arbeitnehmervertreter im Betrieb vom betreffenden Staat nicht ratifiziert wurde.28
Betriebsverfassungsrechtliche Bestimmungen, die in vielen Staaten das gewerkschaftliche Zutrittsrecht und auch die Abhaltung von Betriebsversammlungen regeln, kennen wir für die Schweiz nicht. Immerhin verpflichten sich in zahlreichen Gesamtarbeitsverträgen (GAV) die Sozialpartner, die Koalitionsfreiheit zu gewährleisten.29 Der Koalitionsfreiheit, namentlich der Betätigungsgarantie kommt damit Wirkung unter Privaten zu.
In diesen Fällen folgt ein Zutrittsrecht der Vertragsgewerkschaft zur Mitgliederbetreuung und zur Überprüfung gesamtarbeitsvertraglicher Bestimmungen aus dem Betätigungsrecht, zu dessen Respektierung sich die Sozialpartner ausdrücklich verpflichtet haben. Träger dieses Zutrittsrechts ist die Gewerkschaft, nicht der einzelne Funktionär.
Ist die Koalitionsfreiheit im GAV nicht aufgeführt oder ist gar kein GAV abgeschlossen, ergibt sich möglicherweise eine Kollision zwischen verfassungsmässigen Gewerkschaftsrechten und dem Eigentumsrecht des Arbeitsgebers. Der Arbeitgeber würde sich auf ein Zutrittsverbot aus Besitz berufen, allenfalls sogar wegen Besitzungsstörung oder Unterlassung künftiger Störung nach Artikel 928 ZGB im schnellen, summarischen Verfahren an den Richter gelangen.
Als Besitz gilt die tatsächliche Gewalt über eine Sache (Artikel 919 ZGB). Der Besitz ist im Gesetz aber nicht definiert. Der Besitz gilt als relativ, der Richter hat ein Werturteil zu fällen.30 Als Besitzesstörung gilt jede übermässige Beeinträchtigung der tatsächlichen Herrschaft über eine Sache.31 Ist der gewerkschaftliche Zugang zum Betrieb verfassungsmässig, so ist die durch diesen bedingte, allfällige Beeinträchtigung des Besitzes damit von vornherein nicht übermässig. Der Arbeitgeber hat nämlich auch nach Artikel 45 Absatz 2 des Arbeitsgesetzes unter anderem den Vollzugsorganen, das heisst den Arbeitsinspektoren den Zutritt zum Betrieb zu gestatten. Der Zutritt Betriebsfremder ist damit keine übermässige Besitzes- oder Eigentumsstörung, was der Richter im Rahmen der Drittwirkung der Grundrechte von Artikel 35 BV wird beachten müssen.
Strafrechtlich steht – auf Antrag des Arbeitgebers – Hausfriedensbruch nach Artikel 186 StGB in Frage. Die Wahrnehmung berechtigter Interessen gilt als allgemeiner strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund.32 Ist die Gewerkschaft verfassungsrechtlich berechtigt, sich im Betrieb zu betätigen, ist eine allfällige Störung des abstrakten Hausrechtes gerechtfertigt. Unter dem besonderen Schutz der Privatsphäre von Artikel 13 BV steht denn auch allein die Wohnung, nicht aber Fabrikareal oder Betriebsgelände. Der Strafrichter hat sich an diesen Verfassungsentscheiden zu orientieren. Strafrechtliche Auseinandersetzungen wegen des betriebsstörungsfreien Zutritts dürften endgültig der Vergangenheit angehören.
Wie steht es, wenn im Betrieb keine Organisierten arbeiten? Am Interesse der Koalitionen, ihre Mitgliederbasis zu verbreitern und für ihre Anliegen zu werben oder über sie zu informieren, ändert sich nichts. Es entfällt die gewerkschaftliche Mitgliederbetreuung und die Abklärung von gesamtarbeitsvertraglichen Verbesserungen.
In den ausländischen Betriebsverfassungsgesetzen wird im Allgemeinen ein scharfer Unterschied zwischen den im Betrieb vertretenen und betriebsfremden Gewerkschaften bezüglich der Gewerkschaftsrechte gemacht. Für einmal scheint das Fehlen schweizerischer Regelungen ein Vorteil zu sein: Für Werbung und Information können auch betriebsfremde oder autonome Koalitionen mindestens einen beschränkten Zugang zum Betrieb reklamieren.
Anerkannte Rolle der Gewerkschaften bei Streiks
1994 kam es in der Baumwollspinnerei Kollbrunn zu einem Warnstreik. 1999 – nach der Volksabstimmung über die neue Bundesverfassung, aber vor deren Inkrafttreten – leistete sich das Bundesgericht mit dieser Angelegenheit einen Schildbürgerstreich: Lückenfüllend wurde im schweizerischen Arbeitsrecht ein Streikrecht anerkannt.33 Gleichzeitig sei – so die NZZ – das Streikrecht «eingegrenzt» worden.34 Wilde Streiks wurden ausdrücklich verboten. «Nur Trägern des kollektiven Arbeitsrechts, mithin Arbeitnehmerorganisationen [kommt] das Recht zu, einen Streik zu beschliessen. [...] Damit soll der Arbeitskampf auf der kollektivrechtlichen Ebene konzentriert und beschränkt bleiben und der Streik als letztes Mittel der Gewerkschaft [...] zur Verfügung stehen.» Über verschiedene der gezogenen Grenzen lässt sich aufgrund des Verfassungsgebungsprozesses streiten.35
Im Zusammenhang mit der Präsenz in den Betrieben weist das Bundesgericht aber den Gewerkschaften im Arbeitskampf eine privilegierte Rolle zu, gleichzeitig werden diese als Ordnungsfaktoren des kollektiven Arbeitsrechts beansprucht. Verfassungsrechtlich kommt dem Streikrecht faktisch Drittwirkung zu: Der Arbeitsvertrag wird suspendiert.
Aus der verfassungsmässigen Streikfreiheit ergibt sich damit die Zulässigkeit der gewerkschaftlichen Präsenz auf dem Kampfplatz – in den Betrieben, auf den Baustellen – zur Durchführung des Streiks, allenfalls auch zur Organisation von Notstandsarbeiten. Im Falle eines Konfliktes ist die Belegschaft besonders auf die Unterstützung der Gewerkschaft angewiesen. Konsequenz der an sich einschränkenden Rechtsprechung ist, dass bei Streik die gewerkschaftliche Präsenz zulässig sein muss.
Zusammenfassend lässt sich aus der Betätigungsgarantie des kollektiven Koalitionsrechts der neuen Bundesverfassung in der Schweiz ein Zutrittsrecht der Gewerkschaften in die Betriebe begründen. Es liegt an der gewerkschaftlichen Arbeit, den Anspruch in die Praxis umzusetzen.
Fussnoten
1 H.-P. Tschudi, Geschichte des Schweizerischen Arbeitsrechts, 1987, S. 25
2 Art. 360a OR
3 Tschudi, S. 6
4 BBl 1999 I 516, bereits ältere Praxis: BBl 1979 I 749
5 IAO, Empfehlung 143, Ziff. 12
6 D. Schneider, Zur Theorie und Praxis des Streiks, 1971, S. 21
7 A. Kölz, Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte, 1992, S. 335 f.
8 vgl. Fleiner/Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Nachdruck 1976 (1949), S. 382 f.
9 E. Gruner, Arbeiterschaft und Wirtschaft in der Schweiz, 1988, Bd. 2/2, S. 1193
10 BGE 125 III 277
11 F. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, 1997, S. 960, 1037; das Aussperrungsverbot von Hessen ist durch das Richterrecht des Bundes aufgehoben
12 A. Andermatt, Das Streikrecht in der neuen Bundesverfassung, plädoyer 5/99, S. 35
13 Bei der Betriebsordnung wird nach wie vor «das Diktat des Unternehmers der Verständigung mit der Belegschaft» gleichgesetzt (Nawiasky, zitiert nach W. Hug, Kommentar zum Arbeitsgesetz, 1971, N5 zu Art. 37)
14 Art. 336a Abs. 3 OR
15 BGE 130 III 102
16 Vgl. J. F. Stöckli, 1999, N4 ff. zu Art. 356a OR; auch BGE 124 I 107
17 Botschaft zur BV, Sonderdruck, 1996, S. 178
18 BGE 129 I 113
19 Botschaft zur BV, S. 177
20 BAG AP 10 zu Art. 9 GG (14. Februar 1967)
21 Gamillscheg, S. 246
22 Gamillscheg, S. 247 ff.; IAO-Empfehlung Nr. 143, Ziff. 15
23 IAO-Empfehlung Nr. 143, Ziff. 14
24 W. Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, 2000, S. 141
25 Däubler/Kittner/Klebe, Kommentar Be- triebsverfassungsrecht, 7. Aufl., 2000, S. 210
26 Däubler, S. 114 ff.
27 Art. L 412–10
28 ILO, Freedom of Association, 4. Aufl., 1996, Nr. 954–957
29 Z. B. Art. 4 GAV/SBB; Art. 5 Elektro- und Telekommunikations-Installationsbranche; Art. 3 Maschinenindustrie; Baubesuche sind Praxis
30 E. Stark, 3. Aufl., 2001, N1 ff. zu Art. 919 ZGB
31 Stark, N19 zu Art. 929 ZGB
32 Gerade um die Ausübung von Freiheitsrechten zu sicher; vgl. G. Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, AT I, 1996, N61 zu § 10
33 BGE 125 III 277
34 NZZ vom 22. September 1999
35 Andermatt, S. 34 ff.Der Text beruht auf einem Vortrag, gehalten an der Tagung des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes vom 23. April 2004.