Eine Verpflichtung zur Arbeit ohne Kündigungsmöglichkeit, ein Lohn von wenigen Franken pro Tag sowie keine Pensionierung: Was auf den ersten Blick wie eine krasse Verletzung des Arbeitsrechts und verschiedener Grundrechte klingt, ist für rund 4000 Insassen von Schweizer Gefängnissen Alltag. Verurteilte im Strafvollzug sind gemäss Artikel 81 Strafgesetzbuch zur Arbeit verpflichtet. Die Europäische Menschenrechtskonvention beurteilt eine solche Verpflichtung zur Arbeit als zulässig.
Gemäss dem Bundesgericht dient die Verpflichtung zur Arbeit im Strafvollzug dazu, den Häftlingen Fähigkeiten zu vermitteln, «die eine Eingliederung in die Erwerbstätigkeit nach der Entlassung ermöglichen». Das Ziel sei die Resozialisierung der Inhaftierten.
Einst wirtschaftlich, heute sozial begründet
Bei Älteren sollen laut Bundesgericht zudem Haftschäden wie die Vereinsamung oder psychische und physische Degeneration verhindert werden. Die Arbeitspflicht diene auch dazu, die Leute zu beschäftigen, ihren Alltag zu strukturieren und einen geordneten Anstaltsbetrieb zu gewährleisten.
Bis in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts lautete die Begründung für die Zwangsarbeit noch anders. Gemäss dem Strafvollzugslexikon von Benjamin Brägger standen damals wirtschaftliche Überlegungen im Vordergrund.
Laut Gesetz erhalten die Insassen für die Arbeit kein volles Entgelt. Sie sind verpflichtet, einen Teil der Vollzugskosten selbst zu tragen. Die Höhe des Lohns wird durch die Strafvollzugskonkordate festgelegt. Entsprechend ist das Arbeitsentgelt je nach Konkordat unterschiedlich.
Ein Teil des Lohns geht auf ein Sperrkonto
Das bedeutet: In Anstalten wie Pöschwies in Regensdorf ZH und Witzwil BE zum Beispiel beträgt das Arbeitspensum sechs bis rund acht Stunden pro Tag. In der Zürcher Pöschwies liegt der Durchschnittslohn bei 32 Franken für einen Tag von sechseinhalb Stunden. Das entspricht einem Stundenlohn von Fr. 4.90. In den Berner Strafanstalten Thorberg und Witzwil liegt der Lohn je nach Leistung des Gefangenen zwischen 7 und 35 Franken pro Tag. In Genfer Anstalten erhalten die Inhaftierten zwischen Fr. 12.50 und Fr. 25.– pro Tag.
Der Lohn, der den Insassen zugesprochen wird, steht ihnen nicht frei zur Verfügung. Die Anstalten zahlen gemäss den Richtlinien der Vollzugskonkordate einen Teil des Arbeitsentgelts auf Sperrkonten ein. Diese dienen dazu, Rücklagen für die Zeit nach dem Austritt zu bilden, Unterhaltsbeiträge zu bezahlen oder Wiedergutmachung bei allfälligen Opfern zu leisten. Die Inhaftierten können je nach Konkordat noch auf rund 50 bis 70 Prozent des Arbeitsentgelts zugreifen, um im Gefängnis unter anderem Produkte für den täglichen Bedarf zu kaufen oder das Fernsehen und Telefonieren zu bezahlen.
Auf die niedrige Entlöhnung angesprochen, verweist der Generalsekretär des Strafvollzugskonkordats der lateinischen Schweiz, Blaise Péquignot, auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts, wonach die Arbeit innerhalb der Gefängnismauern nicht mit regulärer Arbeit gleichgesetzt werden könne. Schliesslich diene die Arbeit in den Vollzugsanstalten auch der Resozialisierung sowie der Aufrechterhaltung des Anstaltsbetriebs, wobei das Bundesgericht die Arbeit innerhalb der Gefängnismauern explizit als «geschützte Werkstatt» bezeichne.
Péquignot räumt aber ein, dass die Vergütung niedrig erscheine. Dies sei jedoch Resultat einer politischen Entscheidung. Joe Keel, Sekretär des Ostschweizer Konkordates, erklärt die niedrige Entlöhnung mit der Verpflichtung der inhaftierten Personen zur teilweisen Bezahlung der Haftkosten.
In Deutschland verlangen Richter höhere Entgelte
Anders sieht dies das deutsche Bundesverfassungsgericht: Mit Urteil vom 20. Juni 2023 befand das Gericht in Karlsruhe die Ausgestaltung der Arbeitspflicht in den Bundesländern Bayern und Nordrhein-Westfalen als unzulässig. Es hiess die Beschwerde eines Insassen gut, der im Durchschnitt fünf Euro pro Stunde verdient. Das Gericht bemängelte, das angewandte Lohnsystem mit einem Grundlohn von 1,90 Euro pro Stunde widerspreche dem Resozialisierungsgedanken. Das Entgelt für die Arbeit in den Strafvollzugsanstalten sollte aufgrund dieses Urteils deshalb in den nächsten Jahren in allen deutschen Bundesländern steigen.
Die Verpflichtung zur Arbeit wirft aber noch ganz andere Problematiken als die blosse Höhe der Entlöhnung auf. So würden sich Häftlinge über die fehlende «Pensionierung» beklagen, erklärt Livia Schmid, Leiterin der Beratungsstelle Freiheitsentzug von Humanrights.ch. Dies betreffe insbesondere Personen im Massnahmenvollzug, die das Gefängnis voraussichtlich nicht so bald verlassen können. Sie müssen bis an ihr Lebensende arbeiten, wenn ihnen das körperlich möglich ist.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stützte diese Praxis im Fall Meier gegen die Schweiz. Laut Gerichtshof sei es wichtig, bei älteren Insassen Haftschäden mittels Arbeit zu verhindern. Der Gerichtshof räumt den Staaten in dieser Frage ein grosses Ermessen ein.
Neben der Einführung der Pensionierung wünschen sich einige Insassen gemäss Livia Schmid auch eine freie Wahl der Arbeit sowie Zugriff auf die Sperrkonten. Schliesslich würden Rücklagen für die Zeit nach der Haft für Verwahrte nur wenig Sinn ergeben. Blaise Péquignot sagt dazu, eine Ungleichbehandlung von Verwahrten gegenüber anderen Inhaftierten wäre seines Erachtens nicht fair.
Anders sieht es in den Anstalten aus, die zum Ostschweizer Konkordat gehören. Dort können Verwahrte laut Keel auf ihre Sperrkonten zugreifen, wenn die anderen Guthaben nicht reichen.
Auch im Hinblick auf die Anpassung der Teuerung besteht ein Unterschied zwischen den beiden Konkordaten: So entschieden sich die Westschweizer Kantone gegen eine Anpassung der Arbeitsentgelte an die Teuerung, während das Ostschweizer Konkordat die Teuerung auf Anfang des letzten und auf Anfang des laufenden Jahres ausglich.